Im Februar 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht das bis dato geltende Verbot der „gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ für nichtig erklärt. Das BVerfG stellte fest, dass die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, auch die Freiheit umfasst, hierfür die Hilfe kompetenter Dritter in Anspruch zu nehmen – was insbesondere auch Ärztinnen und Ärzte betreffen kann. Das wegweisende Urteil führte deshalb dazu, dass die Berufsordnungen der Ärztekammern angepasst werden mussten. Mit Wirkung zum 1. Januar 2022 wurde der entsprechende § 16 Abs. 3 der Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Hessen aufgehoben. Aus dem Recht heraus folgt aber noch keine Pflicht: Die Entscheidung liegt in der Verantwortung der Ärztin oder des Arztes. Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten. Deshalb wird es im Einzelnen immer eine Gewissensentscheidung für die praktizierenden Ärztinnen und Ärzte sein.

In einer kleinen Serie hat die Redaktion des Hessischen Ärzteblattes bei Religionsvertretern um ihre Einschätzung zum „assistierten Suizid“ gebeten. Den Anfang machte der katholische Pfarrer Matthias Struth, Seelsorger am Universitätsklinikum Frankfurt am Main, in Ausgabe 03/2022, S. 188.

Rabbiner Julian-Chaim Soussan von der jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main hat für das Hessische Ärzteblatt eine ausführliche theologische Argumentation aus den jüdischen Schriften heraus erarbeitet, die online unter der Ausgabe 04/2022 abrufbar ist. 

Die Kurzfassung lesen Sie hier.

In Deutschland steht der Gesetzgeber seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Februar 2020 vor der Aufgabe, eine verbindliche Neuregelung zum assistierten Suizid zu finden, denn – so das Gericht – das im Grundgesetz verankerte allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasse auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben und hierfür die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen.

Wie bei allen brisanten Fragen basiert die Position des Judentums dazu auf seinen traditionellen Quellen: auf Thora, Talmud, dem als „Schulchan Aruch“ betitelten Gesetzeskodex und auch den Schriften zeitgenössischer Gelehrter. Auf diesen Quellen wiederum basiert das jüdische Religionsgesetz, Halacha genannt, was so viel wie „der Weg“ bedeutet.

Die Halacha betrachtet das menschliche Leben als unantastbar und von unendlichem Wert, unabhängig vom Alter, der Gebrechlichkeit, gesundheitlichen Einschränkungen oder gar Produktivität einer Person. Die Rettung des menschlichen Lebens, „Pikuach Nefesch“ genannt (wörtlich „Aufsicht/Wachen über eine Seele“), ist eines der höchsten Prinzipien im Judentum. Fast alle anderen Gebote dürfen bzw. müssen seinetwegen verletzt werden.

Es liegt auf der Hand, dass diese konsequente und tief verwurzelte Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben ein Wertesystem und eine Rechtsstruktur darstellen, die nicht einfach umgestoßen werden können. Dem gegenüber steht das Gebot, sowohl physisches wie auch psychisches Leiden und Schmerzen soweit wie möglich zu lindern. Aus dieser ganzheitlichen Betrachtungsweise heraus steht das Judentum der Palliativmedizin äußerst positiv gegenüber, weil hier die beiden hohen Prinzipien in Balance gebracht werden können.

Das Judentum befürwortet die Verabreichung von ausreichend Schmerzmitteln, auch wenn dadurch die Gefahr einer unbeabsichtigten Lebensverkürzung besteht. Das Leben muss nicht um jeden Preis und mit allen Mitteln verlängert werden. Bestimmte belastende Therapieformen können unter bestimmten Umständen zurückgehalten oder beendet werden. Eine aktive Beschleunigung des Todes darf jedoch niemals die Intention hierbei sein.

So dürfen dem Patienten keine natürlichen Lebensgrundlagen entzogen werden. Daher ist es verboten, unheilbar kranken Patienten Nahrung oder Flüssigkeit vorzuenthalten, wenn hierzu keine medizinische Indikation besteht. Komplizierter ist es, Patienten bestimmte Arten von Behandlungen vorzuenthalten, wenn diese halachisch als kontinuierlich angesehen werden. Es soll sichergestellt werden, dass der Patient an seiner Grunderkrankung verstirbt und nicht an einer aktiven Maßnahme. In schwierigen Fällen konsultieren traditionelle Juden oft eine zuständige rabbinische Autorität, um den Sachverhalt von Fall zu Fall individuell zu beurteilen. In Ausnahmefällen von unerträglichen und nicht beherrschbaren Schmerzen kann die Sedierung von Sterbenden eine angemessene Option sein.

Das jüdische Religionsgesetz enthält ein striktes Verbot des Suizids. Während unsere Weisen dem verzweifelten Leidenden durchaus Verständnis entgegenbringen, gilt dies hingegen für den Helfer beim Suizid auch dann nicht, wenn die Handlung aus Mitgefühl und verständlich erscheinenden Motiven erfolgt.

Die Gründe für diese strikte Ablehnung macht Rabbiner Yitzchak Breitowitz deutlich: „PAS (physician assisted suicide) ist die falsche Lösung für ein wirklich reales Problem. Dass ein solches Problem existiert, das leugnen wir nicht. Es gibt Probleme am Ende des Lebens, die von überwältigendem Schmerz und Leiden geprägt sind, und dem psychologischen Gefühl, das das Leben unerträglich und wertlos ist. Einfach wegzuschauen, wäre gefühllos und grausam. Aber was PAS bedeutet ist dies: Ein Patient schreit auf und sagt: ‚Mein Leben ist wertlos und nicht zu ertragen.’ Und wir antworten dann: ‚Ja, du hast recht, dein Leben ist wertlos, lass uns dir helfen, es zu beenden.‘ Das aber ist die falsche Aussage.“

Der Wunsch, das eigene Leben zu beenden, kann unterschiedliche Ursachen haben und von vielen Faktoren abhängen. Unsere Weisen veranschaulichen uns in vielen Erzählungen, wie wir diese in Erfahrung bringen, einfühlsam darauf eingehen können und auch, dass das Ansinnen veränderbar sein kann.

Die traditionelle Rolle des Arztes besteht darin, zu heilen und, wo dies nicht möglich ist, Leiden und Not zu lindern. Thora und Talmud verdeutlichen uns, dass Mediziner eine besondere und einzigartige Rolle als „Partner in der Schöpfung“ haben. Assistierter Suizid würde diesem hohen Status nicht nur in keiner Weise gerecht, sondern regelrecht konterkarieren.

Schwerkranke Patienten dürften Schwierigkeiten haben, unvoreingenommene Entscheidungen zu treffen, es kann zu Manipulationen kommen. Aus dem Gefühl heraus, eine Belastung für Familie, Freunde oder die Gesellschaft zu sein, kann das Recht, sich für den Tod zu entscheiden, schnell zur Pflicht werden. Niemand sollte diesem Druck ausgesetzt werden.

Das Judentum betont somit den unendlichen Wert jeglichen menschlichen Lebens und verlangt nach einem in Fürsorge eingebundenen Leben besonders im Sterben. Die Legalisierung des assistierten Suizids wirft daher große Bedenken auf, da die Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben dadurch relativiert wird.

Solche, die den assistierten Suizid mit Verweis auf Autonomie und Würde befürworten, sollten bedenken, dass die größte Einzelursache für würdeloses Sterbens im Entzug von menschlichem Kontakt, Zuneigung und Fürsorge besteht. Wir alle sind aufgefordert, dieser Entmenschlichung des Lebensendes entgegenzuwirken.

Rabbiner Julian-Chaim Soussan, Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main, E-Mail: rabbinat@jg-ffm.de

Zur Person:

Frankfurts orthodoxer Rabbiner Julian-Chaim Soussan wurde 1968 in Schluchsee geboren und wuchs in Freiburg auf.

Er studierte Volkswirtschaft und Judaistik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, dann ausschließlich Judaistik an der Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien. Während des Studiums begann er eine zehn Jahre dauernde Tätigkeit als Lehrer für Jüdische Religionslehre in Stuttgart, danach erhielt er eine Stelle als Religionslehrer in Düsseldorf. Auf Anregung des ehemaligen Zentralratspräsidenten der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, absolvierte Soussan in Jerusalem eine Ausbildung zum Rabbiner. Dort erhielt er im Mai 2003 seine Ordination. Er folgte hierin seinem Vater Rabbiner Benjamin David Soussan.

Von 2003 bis 2011 war Soussan Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und wechselte dann nach Mainz. Von dort wurde er im August 2013 nach Frankfurt berufen. Soussan ist verheiratet und hat zwei Söhne.

Neben seiner Tätigkeit in Frankfurt ist Rabbiner Soussan Mitglied des Vorstandsbeirats der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) und vertritt diese häufig auch bei interreligiösen Begegnungen nach außen.