Die Geburt des Klonschafes Dolly 1996 hatte Öffentlichkeit wie auch die Politik in helle Aufregung versetzt. Plötzlich wurde die Gesellschaft gewahr, welche ungeheuren Handlungsmöglichkeiten in den Biowissenschaften sich eröffneten. Die Frage, ob das, was getan werden kann, auch getan werden soll oder getan werden darf, stellte sich schärfer als je zuvor. Darf man Menschen klonen?
Die Bundesregierung erkannte die Herausforderung, einschlägige Kommissionen, die uns heute vertraut sind, wie etwa der Deutsche Ethikrat, existierten noch nicht. Expertise war gefragt für den Umgang mit den neuen ethischen Problemen, mit denen die Biowissenschaften und Medizin die Gesellschaft konfrontierten. Auf Vorschlag eines interdisziplinär besetzten Rates von Wissenschaftlern wurde das Deutsche Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE) in Bonn eingerichtet. Aufgabe sollte es sein, den sich nun in aller Schärfe stellenden Fragen nicht auszuweichen, vielmehr den notwendigen interdisziplinären Diskurs zu koordinieren, d. h. zu gestalten und die entsprechenden Informationen bereitzuhalten. Letztendlich erhoffte sich die Politik auch Rat.
Schließlich konnte das DRZE 1999 die Arbeit aufnehmen. Unter seinem Gründungsdirektor, Prof. Dr. phil. Dr. h. c. mult. Ludger Honnefelder, begann ein engagiertes Team von Wissenschaftlern, darunter Naturwissenschaftler, Philosophen, Ethiker und andere, die nun brennenden Fragestellungen zu identifizieren, den wissenschaftlichen Austausch zu fördern und die entsprechende Literatur zu dokumentieren. Galt es doch, das neue Feld der Bioethik zu beackern, Chancen und Risiken zu erkennen.
Das DRZE wurde in unterschiedlicher Trägerschaft geführt und ist seit seiner Gründung vor einem Vierteljahrhundert der Universität Bonn angelagert. Jetzt wurde dort mit einem hochkarätig besetzten Symposium das Jubiläum gefeiert.
Die Gesellschaften der entwickelten Länder scheinen sich in den vergangenen Jahren offenbar an die ständig sich neu stellenden Herausforderungen „gewöhnt“ zu haben. Öffentliche Erregung wie zu Zeiten Dollys, des Klonschafs, oder zu Beginn des Jahrtausends, als die Entschlüsselung des menschlichen Genoms gelang, sind selten geworden. Doch stellen sich heute Fragen mit weitaus größerem bioethischen Konfliktpotenzial.
Bioethisches Konfliktpotenzial
Man denke etwa an die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der Veränderung des Genoms des Menschen und auch anderer Lebewesen durch die Crispr/Cas- Genschere. Mithin ist die vorausschauende Reflexion ethischer Implikationen neuer biomedizinischer Erkenntnisse und Handlungsoptionen notwendiger denn je. Gäbe es das DZRE nicht, es müsste jetzt erfunden werden. Dies belegen die umfangreichen Publikationen und Dokumentationen des DZRE. Das vorausschauende Bedenken der ethischen Folgen der Forschung in Medizin und Biowissenschaften bezeichnete Ludger Honnefelder als eine „Bringschuld“ der Wissenschaft. Transparenz und offene Debatten sind Voraussetzung, das Vertrauen der Gesellschaft in die Wissenschaft zu gewinnen.
Ob von den Veranstaltern beabsichtigt oder nicht, den Titel der Jubiläumstagung „Die Wiederentdeckung der Bioethik“ darf man als rhetorische Floskel verstehen. Sie spielt an auf die erwähnte „Gewöhnung“ der Öffentlichkeit. Sie offenbart sich u. a. auch darin, moralischen Dissens beiseite zu schieben, dabei gehe es darum echten Dissens in der Gesellschaft auszuhalten, meinte Dieter Sturma, Philosoph und ehemals Direktor des DRZE. Er war skeptisch, denn im Blick auf immer mehr Fragestellungen lasse sich kein Konsens erzielen, Um so wichtiger ist es, dass eine Institution wie das DRZE die Diskussion und den ethischen Diskurs mit und für die Öffentlichkeit führt. Zum Prozess der Meinungsbildung tragen viele Disziplinen bei: Naturwissenschaft, Medizin, Philosophie und Theologie. Der Dialog dieser Disziplinen sei unabdingbar, führte Prof. Dirk Lanzerath aus. Er ist derzeit Direktor des Zentrums.
Grüße zum Jubiläum wurden überbracht von Vertretern der Bundesregierung, der Europäischen Kommission und des Europarates. Dies zeigt, welche Reputation das DRZE genießt.
Im Jubiläumssymposium wurde auch Kritik an der akademischen Bioethik geäußert. In ihrem Hauptvortrag meinte Prof. Vardit Ravitsky, Direktorin des wohl angesehensten bioethischen think-tanks der Welt, des Hastings-Center in den USA, Bioethik solle nicht nur um die Autonomie des Individuums kreisen. Sie müsse ebenso das gemeinsame Gute in den Blick nehmen. Das gelte für viele Problemstellungen in Medizin und Biowissenschaften, vom Klimawandel bis hin zum fairen Zugang zur Gesundheitsversorgung in globaler Perspektive.
Die unersetzliche Vermittlerrolle des DZRE zeigt sich nicht zuletzt im jüngsten editorischen Mammutprojekt, der deutschen Übersetzung des weltweit anerkanntesten medizinethischen Handbuchs, der Principles of Biomedical Ethics von Tom Beauchamp und James Childress. Childress, ein Urgestein akademischer Bioethik, wurde durch die Übergabe der ersten deutschen Ausgabe des Standardwerks geehrt, bevor er in seinem Vortrag die Grundsätze erläuterte.
Das DRZE ist als Ort des bioethischen Diskurses in Deutschland nicht mehr wegzudenken.
Prof. Dr. med. Stephan Sahm, Ethikrat (Vors.), Ketteler Kranken-haus Offenbach/Institut für Geschichte und Ethik in der Medizin, Goethe-Universität, Frankfurt/Main, E-Mail: stephan.sahm@t-online.de