Einleitung

Aufgrund der kulturellen und religiösen Heterogenität im deutschen Klinikalltag und zunehmend auch im Bereich der Palliativversorgung werden interkulturelle Kompetenzen bei MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens immer wichtiger. Die zunehmende Präsenz von muslimischen PatientInnen, aber auch von muslimischen ÄrztInnen und Pflegenden hierzulande führt dazu, dass islamische Positionen zu ethisch umstrittenen Handlungsoptionen im Bereich der Medizin auf immer stärkeres Interesse stoßen.

Stellt man die Frage, wie denn der Islam zu medizinisch assistiertem Suizid steht, wäre eine kurze Antwort ausreichend: Dieser wird in allen bekannten muslimischen Schriften, von allen relevanten Rechtsgremien, religiösen Organisationen und Gesetzestexten muslimischer Länder einhellig abgelehnt. Dennoch lohnt es sich, die Begründungsstruktur und die in diesem Kontext benachbarten medizinethischen Fragestellungen wie Behandlungsverzicht in palliativen bzw. terminalen Situationen zusammenfassend darzustellen und damit tieferes Verständnis für Menschen mit muslimischen Glaubensüberzeugungen im Bereich der palliativen Versorgung zu erwirken.

Die Gefahr von Pauschalisierungen

Menschen, die sich einer bestimmten Religion zugehörig fühlen, sind keine homogene Gruppe, sondern Individuen mit unterschiedlichen und in sich vielfältigen Identitäten. Dies gilt auch für „muslimische PatientInnen“, die nicht auf ihre Religion reduziert werden können – auch wohlmeinende Ratgeberbücher verbreiten oft Pauschalisierungen, die so nicht haltbar sind („bei den Muslimen gibt es Problem xy“, „muslimische Frauen können nicht selbst entscheiden“, „bei muslimischen Patienten hat die Familie einen dominanten Einfluss“).

Die Bindung an religiöse Werte und Normen, die Bedeutung der eigenen Religion im Alltag und die Beziehung zu geistigen Autoritäten ist unter MuslimInnen höchst unterschiedlich ebenso wie kulturelle Prägungen, innerislamische Diversität, verschiedene Bildungshintergründe usw.

Beispiel: Eine arabischstämmige Chefärztin an einer deutschen Klinik (längst Alltag) mag zwar die gleiche religiöse Zugehörigkeit haben wie ein geflüchteter afghanischer Jugendlicher, der Analphabet ist. In der Bewältigung des eigenen Lebens und eventueller gesundheitlicher Krisen werden die beiden womöglich höchst unterschiedlichen Umgang mit religiösen Deutungen an den Tag legen (damit wird nicht behauptet, es gäbe eine Korrelation zwischen mangelnder Bildung und Religiosität– vielmehr geht es um Kompetenzen in der Vermittlung unterschiedlicher Faktoren im Umgang mit der jeweiligen Situation – Religion kann, muss aber nicht zwingend eine Rolle dabei spielen).

Als konkretes Beispiel: Der starke familiäre Einfluss, der im Umgang mit muslimischen PatientInnen oft beobachtet und als erschwerender Faktor im multikulturellen Krankenhaus konstatiert wird (die „Großfamilie in der Intensivstation“) ist nicht unbedingt ein religiöses, sondern eher ein kulturelles Phänomen – soziale Dynamiken bei Menschen aus orientalischen Kulturräumen sind unabhängig von ihrer religiösen Prägung sehr ähnlich: Beispielsweise würde eine christliche Familie aus Syrien oder Ägypten vermutlich in ihrem Verhalten in einer Krisensituation nicht von einer muslimischen Familie zu unterscheiden sein.

Religion und die Bezugnahmen auf normative religiöse Texte, die im Folgenden dargestellt werden, sind immer nur ein Faktor in einer komplexen Vielfalt menschlichen Lebens. Kurz gesagt: Den muslimischen Patienten gibt es ebenso wenig wie den christlichen Patienten. Dennoch ist die Kenntnis religiöser Positionen ein Ansatz zum Verstehens des kulturell Anderen.

Muslimische Ablehnung von medizinisch assistiertem Suizid in Theorie und Praxis: Wie bereits erwähnt, wird jede Maßnahme, durch die aktiv und gewollt der Tod von PatientInnen herbeigeführt wird, im islamischen Recht strikt abgelehnt. Grund dafür ist das Konzept der Heiligkeit des menschlichen Lebens, des Alleinbestimmungsrecht Gottes hinsichtlich von Leben und Tod, dem religiös mitbegründeten Auftrag der Leidens- und Schmerzlinderung mit „erlaubten Mitteln “ und einem allgemeinen Verbot von Suizid, welches mit koranischen Aussagen wie zum Beispiel „lā taqtul u ’anfusakum“ mit der zweifachen Bedeutung „Tötet einander nicht!“ und „Tötet euch nicht selbst !“, sowie anderer religiöser Texte und Prinzipien argumentiert wird (vgl. Rosenthal 1946, S. 243; Schulz 2009, S. 41 ff.).

Eine breite Untersuchung von Internet-Fatwas , welche in einem relativ unreglementierten Raum verbreitet werden, in dem es genug Freiheit auch für unkonventionelle religiöse Meinungen gäbe, bestätigt diesen Konsens bezüglich der Ablehnung von medizinisch assistiertem Suizid (Van den Branden, S., Broeckaert, B. 2010 Living in the hands of God).

So weit, so gut. Richten wir den Fokus aber auf den Verzicht von medizinischen Maßnahmen selbst mit der Erwartung eines beschleunigten Todeseintritts , gelangen wir in ein Feld, welches praktisch von viel größerer Relevanz ist als medizinisch assistierter Suizid: In vielen palliativen Einrichtungen hört man, dass muslimische PatientInnen und deren Familien sehr oft medizinisch und menschlich indizierte Reduktionen therapeutischer Maßnahmen ablehnen. Dies geschieht oft mit dem Verweis auf die Allmacht Gottes („Gott kann den Menschen doch noch heilen“), mit der Angst vor den jenseitigen Folgen von Suizid (der hier mit Behandlungsreduktion verwechselt wird) bzw. gar der Vorstellung, durch den Verzicht auf Weiterbehandlung den kranken Menschen zu töten („wir machen uns schuldig, wenn wir nicht alles tun“). Zudem wird nicht selten der Verzicht auf intensive therapeutische Behandlung in terminalen Situationen mit aktiver, direkter Sterbehilfe gleichgesetzt, die ihrerseits in manchen religiösen Texten zum Sinnbild einer unbarmherzigen profitorientierten Leistungsgesellschaft geworden ist.

Betrachtet man aber die klassische und moderne religionsrechtliche Literatur zur Thematik der Versorgung unheilbar kranker Menschen, so sieht man, dass der Verzicht auf eine medizinische Behandlung, deren Nutzen fraglich ist, im breiten Konsens religiös akzeptiert wird (Kellner 2019, S. 43 ff). Hier gibt es also einen Widerspruch zwischen religiöser Norm und gesellschaftlich verbreiteter Wertehaltung.

Palliativversorgung, religiöse Heterogenität und der Faktor Vertrauen

Neben medizinischen Fakten, religiösen Rechtsgutachten und kulturellen Prägungen ist im Kontext palliativer Versorgung – in der es ja bekanntlich mehr „um Befinden als um Befunde geht“ – der Faktor des Vertrauens in die Institutionen der Gesundheitsversorgung wichtig. Dazu eine These: Viele muslimische PatientInnen mit Migrationshintergrund sind in Ländern mit mangelhaften Strukturen der Gesundheitsversorgung und zugleich mit großem Respekt vor den Fähigkeiten deutscher Spitzenmedizin aufgewachsen. Man stelle sich folgendes plakative, aber nicht unrealistische Beispiel vor: Eine afghanische Familie gelangt durch erzwungene Flucht nach Deutschland; man lebt sprachlich und kulturell in einer Fremde, in der man mitunter spürt, dass man in Teilen der Bevölkerung nicht willkommen ist, und nun erkrankt ein Familienmitglied. Man setzt nun alle Hoffnungen auf die erwarteten Fähigkeiten deutscher ÄrztInnen und hört nun, dass es besser wäre, die Behandlung einzustellen, seine „Angelegenheiten zu regeln“ und einen möglichst schmerzfreien Sterbeprozess zu begleiten. Wäre es hier nicht emotional nachvollziehbar, wenn man dies in Ermangelung medizinischer Fachkenntnis, fehlender religiöser Expertise und mangelnder kultureller Vermittlung für eine Form der Diskriminierung halten würde ( „wir werden nicht behandelt, weil wir Ausländer/Muslime/... sind“)?

Perspektivischer Ausblick

Die Möglichkeit derartiger Missverständnisse zeigt die Notwendigkeit, kompetente Vermittlungswege zwischen dem Gesundheitssystem und kulturellen bzw. religiösen Communities zu schaffen, die vor allem ein Ziel haben: Vertrauen zu stärken und im Sinne aller Beteiligten die vielfältigen und sensiblen Ebenen gelingender palliativer Versorgung optimal zueinander in Beziehung zu setzen. Die Begleitung dieses Prozesses durch geschulte ExpertInnen innerhalb der religiösen Communities und durch muslimische SeelsorgerInnen wäre vermutlich eine sinnvolle Perspektive für die Zukunft religionssensibler Palliativversorgung.

Dr. phil. Martin Kellner, Institut für Islamische Theologie, Universität Osnabrück, E-Mail: martin.kellner@uni-osnabrueck.de

Biografisches zum Autor

Dr. Martin Mahmud Kellner (Foto), Jahrgang 1971, stammt aus Bad Ischl, Oberösterreich. Nach seinem Studium der Kultur- und Sozialanthropologie/Ethnologie in Kombination mit den Fächern Arabistik, Turkologie, Psychologie und Soziologie an der Universität Wien zog er nach Damaskus, Syrien.

Nach einem Arabischkurs begann er dort das Studium der klassischen islamischen Wissenschaften und arbeitete zugleich am dortigen Goethe-Institut. Im Jahr 2005 begann er zudem ein Doktoratsstudium an der Universität Wien. Das Thema seiner Dissertation war: „Islamische Rechtsmeinungen zu medizinischen Eingriffen an den Grenzen des Lebens. Ein Beitrag zur kulturübergreifenden Bioethik“ (Ergon-Verlag Würzburg 2010). Nach seiner Rückkehr nach Wien im Jahr 2011 war er zunächst als Religionslehrer an einem Gymnasium tätig, unterrichtete am „Studiengang für Islamische Religion an Pflichtschulen“ und war dann für mehrere Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück. Seit 2017 vertritt er dort die Professur für islamische Quellenlehre und leitet am Islamkolleg Deutschland eine Ausbildung für muslimische Seelsorge.  (red)

Quelle: https://www.madrasah.de/uber-uns/unser-team/kellner

Die Literaturhinweise finden Sie hier.

Assistierter Suizid: Alle Artikel zum Thema im Hessischen Ärzteblatt

Der Artikel „Medizinisch assistierter Suizid – Islamische Stellungnahmen“ setzt den Schlusspunkt der Serie hinsichtlich der Sicht der Religionen zum Thema. Bisher erschienene Beiträge dazu:

  • Ausgabe 04/2020: zwei Beiträge Rubrik „Recht“: das Urteil und seine Bewertung
  • 02/2021: drei Beiträge: Editorial & Co-Editorial, Artikel „Medizinische Ethik...“
  • 06/2021: Bericht über den 124. DÄT: Diskussion über den ärztlich ass. Suizid
  • 01/2022: Änderung der Berufsordnung: Rubrik Recht & Satzungsänderung
  • 03/2022: Katholische Perspektive und Rezension „An der Seite des Lebens“
  • 04/2022: Sicht des Judentums, ausführliches Essay nur online
  • 07/08 2022: Evangelische Perspektive
  • 10/2022: Editorial „Leben oder Tod“
  • 06/2023: Sicht des Buddhismus
  • 05/2024: Sicht des Islam