Dr. med. Johannes Scholl
Die Präventivmedizin führt in Deutschland noch immer ein Schattendasein: Weder im Medizinstudium noch in der ärztlichen Weiterbildung misst man ihr den gebührenden Stellenwert bei.
Betrachtet man die ökonomischen Strukturen unseres Gesundheitswesens, dann ist festzustellen, dass es für die Mitwirkenden in der Gesundheitsversorgung kaum Anreize für mehr Prävention gibt.
Dies gilt in weiten Teilen auch für die Krankenkassen, bei denen beispielsweise eine gute Diabetesprävention wegen des Morbi-RSA zu geringeren Deckungsbeiträgen führen würde. [1, 2]
Und die Versicherten, die das System finanzieren, wissen viel zu wenig um die Vermeidungspotenziale chronischer Erkrankungen. Gerade deshalb ist aus ärztlicher Sicht und im Interesse unserer Patientinnen und Patienten ein Umdenken in Richtung einer evidenzbasierten Präventivmedizin wichtig und sinnvoll. Der folgende Übersichtsartikel fokussiert sich auf die Chancen zur Herz-Kreislauf-Prävention, die aktuell nur unzureichend genutzt werden.
Deutsche Akademie für Präventivmedizin e. V.
Die Deutsche Akademie für Präventivmedizin e. V. (www.akaprev.de) setzt sich seit ihrer Gründung im Jahr 2005 für die ärztliche Fortbildung auf den Gebieten der Gesundheitsförderung und Prävention ein. Die DAPM ist explizit ungesponsert, unabhängig und der evidenzbasierten Medizin verpflichtet. Sie wird am Samstag, 1. Juni 2024, an der Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung der Landesärztekammer Hessen in Bad Nauheim eine Fortbildungstagung zum Thema Präventivmedizin gestalten, siehe Kasten S. 266 in der PDF-Version dieses Artikels.
Neues Verständnis der Arteriosklerose
Anders als häufig zu lesen, ist die Arteriosklerose kein unvermeidlicher, natürlicher Prozess, der irgendwann jeden treffen wird. Beispielsweise findet man bei den wenigen, noch fernab der Zivilisation lebenden Naturvölkern wie den Tsimane-Indianern am bolivianischen Amazonas-Ursprung auch im höheren Alter – sofern sie dieses trotz aller Widrigkeiten erreichen – keine Arteriosklerose in der Koronarkalk-Messung. [3] Darüber hinaus sind ihre Schlagadern wesentlich elastischer als die der gleichaltrigen amerikanischen Zeitgenossen. [4] Untersucht man ihr Blut, dann liegen LDL-Cholesterin, HDL-Cholesterin und Triglyceride jeweils in einem Bereich von 50–70 mg/dl. So hatte es die Evolution offensichtlich einmal vorgesehen.
Bei uns bekommen Menschen, die genetisch bedingt aufgrund einer PCSK9-Mutation lebenslang sehr niedrige LDL-Cholesterinwerte < 70 mg/dl haben, ebenfalls kaum arteriosklerotische Veränderungen und haben ein 70 % niedrigeres Lebenszeitrisiko für kardiovaskuläre Erkrankungen als die Allgemeinbevölkerung. [5]
Doch jährlich erleiden weiterhin ca. 300.000 Menschen in Deutschland einen Myokardinfarkt und ca. 270.000 einen Apoplex. Zwar ist die Mortalität kardiovaskulärer Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten dank der Fortschritte der invasiven Akutbehandlung gesunken. Jedoch sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen noch immer führend bei der Anzahl der Todesfälle und der Krankheitslast.
Grundsätzlich wäre die Mehrzahl dieser Ereignisse vermeidbar, würde man die ursächlichen Risikofaktoren frühzeitig erkennen und adäquat behandeln. [6]
Nicht nur hohes LDL-Cholesterin
Hilfreich wäre dazu ein besseres Verständnis des Prozesses der Arteriosklerose. Die simple Vorstellung, dass ein – warum auch immer – „böses“ LDL-Cholesterin ohne konkreten Anlass durch die Maschen des Endothels der Arterien schlüpfen und dadurch den Prozess der Arteriosklerose auslösen würde, gilt längst als überholt. Mit Ausnahme sehr hoher Werte bei familiärer Hypercholesterinämie ist das LDL-Cholesterin allein nicht ausreichend, um den Beginn arteriosklerotischer Veränderungen zu erklären.
Wie zahlreiche pathologische und experimentelle Studien gezeigt haben, beginnt die Arteriosklerose vielmehr mit einer diffusen Intima-Verdickung als Folge einer Proliferation glatter Muskelzellen (SMC), die auch in der Intima und nicht nur in der Media reichlich vorhanden sind. Diese SMC-Proliferation wird durch mechanische Belastungen oder Noxen (Trauma, Bluthochdruck, Zigarettenrauchen) und durch chronisch erhöhte Insulinspiegel ausgelöst. [7]
Hyperinsulinämie fördert Arteriosklerose
In Mendelian-Randomization-Studien wurde die Kausalität des Zusammenhangs erhöhter Insulinspiegel mit der koronaren Herzkrankheit bewiesen. [8] Von einer Hyperinsulinämie sind vor allem Menschen mit Übergewicht und Adipositas, metabolisch-assoziierter Leberverfettung (MAFLD), Prädiabetes und Typ-2-Diabetes betroffen, die – und das ist wichtig – mittlerweile mehr als die Hälfte der Erwachsenenbevölkerung in Deutschland ausmachen.
Durch die diffuse Intima-Verdickung als Folge der SMC-Proliferation entsteht in der Tiefe der Intima ein Sauerstoffmangel, der über entzündliche Prozesse eine sekundäre Neovaskularisation aus der Media in die Intima bewirkt. Und letztlich sind es diese „Neo-Gefäße“, durch die dann die ersten Apolipoprotein B-tragenden Cholesterinpartikel durchsickern können. [9] Aus dem Gefäßlumen wandern im nächsten Schritt Makrophagen ein, phagozytieren das LDL-Cholesterin und bilden als Schaumzellen die Grundlage der arteriosklerotischen Plaque. Entzündliche und mechanische Prozesse können im weiteren Verlauf zur Destabilisierung solcher Plaques mit der Folge von Erosionen oder Rupturen führen, thrombotische Veränderungen schließlich zu einem Gefäßverschluss. [10]
Präventive Interventionen
Auf dem Weg zur manifesten Arteriosklerose gibt es vielfältige Möglichkeiten zur Intervention, die den Prozess verlangsamen oder gar stoppen könnten. Dazu zählen die konsequente Bekämpfung des Tabakkonsums, die Erkennung und Behandlung des Bluthochdrucks, die Vermeidung chronisch erhöhter Insulinspiegel über die Prävention von Adipositas und Typ 2-Diabetes sowie die Berücksichtigung einer Familienvorgeschichte für frühzeitige kardiovaskuläre Ereignisse.
In Deutschland findet – anders als beispielsweise in den Niederlanden – bei frühzeitigen Erkrankungen bei den Verwandten der Betroffenen bisher kein systematisches Screening auf eine genetisch bedingte, familiäre Hypercholesterinämie bzw. eine ebenfalls genetisch bedingte Lipoprotein(a)- Erhöhung statt.
Tabakkontrolle
Über Jahrzehnte pflegte die deutsche Politik ein besonders gutes Verhältnis zur Tabakindustrie und war auf europäischer Ebene der Bremsklotz in der Tabakbekämpfung. [11, 12] Dass Deutschland im offiziellen Tobacco Control Ranking unter 37 europäischen Ländern noch immer auf Platz 34 liegt, spricht Bände. [13]
Während Länder wie Australien, Neuseeland, Finnland oder Schweden auf dem Weg zu einer tabakfreien Gesellschaft sind, ist die Zahl von Rauchenden in Deutschland in den vergangenen Jahren wieder angestiegen, am stärksten in der Altersklasse der 16–29-Jährigen. Die deutsche Befragung zum Rauchverhalten (Debra-Studie) bezifferte den Anteil der Rauchenden in Deutschland im März 2023 auf rund 32 %. [14]
Die wirksamen gesundheitspolitischen Maßnahmen zur Bekämpfung des Zigarettenrauchens sind bekannt: Eine Anhebung der Zigarettenpreise um 10 % senkt den Konsum um ca. 5 %, noch stärker bei Kindern und Jugendlichen. [15] Dass in Deutschland der Preis pro Schachtel Zigaretten von 2022–2026 jährlich nur um 8
Cent (ca. 1 %) steigen soll, ist ein gesundheitspolitischer Witz. Sinnvoll wäre auch ein vollständiges Tabakwerbeverbot (anstatt einer „schrittweisen Einschränkung“) sowie eine klare gesundheitspolitische Zielsetzung, beispielsweise bis zum Jahr 2040 einen Raucheranteil von < 5 % in der Bevölkerung zu erreichen. Doch zu solch konsequenten Maßnahmen konnte sich bisher keine deutsche Bundesregierung aufraffen.
Für die ärztliche Praxis gilt nach der S3-Leitlinie „Rauchen und Tabakabhängigkeit: Screening, Diagnostik und Behandlung”, dass bei jedem ersten Arzt-Patientenkontakt und ggf. im weiteren Verlauf nach dem Konsum von Tabak oder Zigaretten bzw. verwandten Produkten gefragt werden sollte. [16]
Hilfreich sind die „5 A’s“: Ask, Advise, Assess, Assist, and Arrange. Damit sind gemeint die Frage nach dem Rauchen, gefolgt von der klaren Empfehlung, das Rauchen zu beenden, die Bestimmung des Grades der Nikotinabhängigkeit (Fagerström-Test), Hilfsangebote wie Nikotinersatztherapie oder auch medikamentöse Interventionen sowie strukturierte Tabakentwöhnungsprogramme.
Motivational Interviewing kann die Veränderungsbereitschaft der Rauchenden ausloten und sie zum Nachdenken bringen. Und die Visualisierung arteriosklerotischer Veränderungen an den Halsschlagadern hat sich als wirksam erwiesen, eine Optimierung des Risikoprofils zu fördern. [17] Wenn Raucher selbst sehen, dass ihre Schlagadern „vorgealtert“ sind, kann man sie – so die persönliche Erfahrung des Autors – besser motivieren, mit dem Rauchen aufzuhören. In einer aktuellen Längsschnittauswertung unserer Praxen für einen großen Firmenkunden auf Basis von mehr als 3.000 Check-up-Untersuchungen lag die Abstinenzquote von Rauchern beim folgenden Check-up bei 33 % (Frauen) bzw. 45 % (Männer), [unpublizierte Daten von Prevention First 2023].
Bluthochdruck
Die Erkennung und Behandlung des Bluthochdrucks haben sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland verbessert. Immerhin 80 % der Betroffenen wissen mittlerweile von ihrem Bluthochdruck. Und Menschen mit bekanntem Bluthochdruck sind im Durchschnitt viel besser behandelt als noch vor 20 Jahren. [18, 19]
Als Konsequenz aus der SPRINT-Studie [20] strebt man in den aktuellen Leitlinien bei arterieller Hypertonie in der Regel einen Zielblutdruck von < 130/< 80 mmHg an. [21] Zugrunde gelegt werden dabei entweder der Tagesmittelwert in der 24-h-Blutdruckmessung oder die Automatische Office Blutdruckmessung (AOBM), da beide den häufigen „Weißkitteleffekt“ in der Praxisblutdruckmessung vermeiden.
Prinzipiell wäre in vielen Fällen auch eine Primärprävention der arteriellen Hypertonie möglich, würde man konsequent Maßnahmen gegen Adipositas und (Prä-)Diabetes ergreifen. Denn ein kausaler Faktor in der Entstehung einer arteriellen Hypertonie ist die mit einem erhöhten viszeralen Fettanteil vergesellschaftete chronische Hyperinsulinämie. Über die Natrium- und Wasserretention steigert Insulin den Blutdruck. Umgekehrt ist die Remission eines Typ-2-Diabetes im Rahmen einer Low-Carb-Ernährung häufig mit einer erheblichen Blutdrucksenkung assoziiert. [22]
Cholesterin aus der Nahrung? Spielt keine Rolle …
Noch immer steckt in den Köpfen vieler Menschen die über Jahrzehnte verbreitete Meinung, dass die Cholesterinaufnahme aus der Nahrung und insbesondere der Verzehr von Eiern das kardiovaskuläre Risiko steigere. Auch wenn sich die Fachgesellschaften schon länger von dieser Vorstellung verabschiedet haben, ist beim Thema Ernährung und Cholesterinspiegel noch viel Aufklärungsarbeit nötig.
Dass eine zucker- und stärkereiche Ernährung mit hoher glykämischer Last über die Steigerung der de-novo-Lipogenese mit nachfolgendem VLDL-Export aus der Leber einen wesentlichen Anteil an einem erhöhten LDL- bzw. non-HDL-Cholesterin haben kann, sollte dagegen Konsequenzen für die Ernährungsberatung haben. Eine moderat fettreiche, mediterrane Ernährungsweise mit wenig Zucker und Weißmehlprodukten zeigte sich sowohl in der Primär- als auch in der Sekundärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen einer fettarmen Ernährung überlegen. [23, 24]
Immer tiefer oder besser früher das LDL-Cholesterin senken?
In der medikamentösen Behandlung erhöhter Cholesterinwerte haben deutsche Fachgesellschaften unterschiedliche Sichtweisen, insbesondere wenn es um die Primärprävention geht. Doch anstatt sich auf die Frage zu konzentrieren, in welcher Risikokonstellation das LDL-Cholesterin wie tief gesenkt werden sollte, wäre es besser, die Lebenszeitperspektive in die Überlegungen einzubeziehen. International spricht man längst vom kumulativen LDL-Risiko, denn wie beim Rauchen ist auch beim LDL-Cholesterin der Faktor Zeit für den Prozess der Arteriosklerose enorm wichtig.
Wenn Menschen im Alter von 30 Jahren stark erhöhte LDL-Cholesterinwerte aufweisen, dann ist es widersinnig, mit einer Intervention so lange zu warten, bis die von der kassenärztlichen Bundesvereinigung vorgesehene Risikoschwelle für ein kardiovaskuläres Ereignis von 20 % auf zehn Jahre übersprungen wird. Bis dahin wäre der Prozess der Arteriosklerose schon weit vorangeschritten. Die alleinige Berücksichtigung des Zehn-Jahres-Risikos führt zur bevorzugten Behandlung vieler älterer Menschen und zur Vernachlässigung jüngerer Menschen mit sehr hohem Lebenszeitrisiko.
Sinnvoller wäre es, bei hohem Lebenszeitrisiko frühzeitig das LDL-Cholesterin zu senken. Der potenzielle, langfristige Nutzen ist bei frühzeitiger Intervention um ein Vielfaches größer als bei einer Intervention bei manifesten Gefäßproblemen im Alter von 70 Jahren. [25] Wenn eine Ernährungsumstellung dazu nicht ausreichend ist, sollte man deshalb nicht zögern, bei erhöhtem LDL-Cholesterin und hohem Lebenszeitrisiko frühzeitig eine Statintherapie zu beginnen.
Lipoprotein(a) – der oft übersehene Risikofaktor
Lipoprotein(a) (LPA) ist ein kausaler Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen. LPA ähnelt dem LDL-Cholesterin, trägt jedoch zusätzlich zum Apolipoprotein B noch eine Apolipoprotein(a)-Kette. Da die Höhe des LPA überwiegend genetisch reguliert ist, reicht eine einmalige Bestimmung aus, um Menschen mit erhöhtem Risiko zu identifizieren.
Auf Bevölkerungsebene haben ca. 20 % der Menschen ein moderat erhöhtes LPA von > 50 mg/dl, ca. 3 % sogar ein stark erhöhtes LPA von > 100 mg/dl. Im ersten Fall wird das kardiovaskuläre Risiko nach genetischen Studien um 80 % gesteigert, bei sehr hohen Werten ist es auf das Drei- bis Vierfache erhöht. [26]
Neue therapeutische Verfahren (anti-sense-RNA oder si-RNA) können das LPA um > 90 % senken. Aktuell laufen Phase 3-Studien bei Patienten mit sehr hohem LPA (u. a. die HORIZON-Studie mit Pelacarsen), deren Resultate ab 2025 erwartet werden.
Bis zur Zulassung spezifischer Medikamente raten die Leitlinien der europäischen Gesellschaft für Kardiologie ESC dazu, im Falle einer nachgewiesenen LPA-Erhöhung um eine Stufe strengere Zielwerte für das LDL-Cholesterin anzustreben.
Und die EAS (European Atherosclerosis Society) empfiehlt, bei einem LPA von > 100 mg/dl unabhängig von der Höhe des LDL-Cholesterins eine frühzeitige Statin-Therapie zu beginnen. [27]
Niedriges LDL-Cholesterin, aber hohes „Restrisiko“?
Die alleinige Fokussierung auf das LDL-Cholesterin, die sich in den Leitlinien der Kardiologen etabliert hat, ist angesichts von immer mehr Menschen mit Adipositas, Prädiabetes und Typ-2-Diabetes nicht mehr up-to-date. Bei ihnen gilt das sogenannte Non-HDL-Cholesterin (= Gesamtcholesterin minus HDL-Cholesterin) als der bessere Parameter zur Risikoeinstufung. Denn die darin enthaltenen triglyzeridreichen Lipoproteine IDL, VLDL und die Chylomkronen Remnants tragen neben dem LDL-Cholesterin erheblich zur Risikosteigerung bei. Außerdem begünstigen Entzündungsprozesse aus dem viszeralen und perivaskulären Fettgewebe die Progression der Arteriosklerose. Dies hat zur Folge, dass in der Sekundärprävention selbst bei optimaler LDL-Senkung auf Werte von < 20 mg/dl das „Restrisiko“ noch immer bei > 15 % auf zehn Jahre liegen kann. [28]
Metabolische Probleme und veraltete Ernährungsempfehlungen
Schon lange ist bekannt, dass über Lebensstilmaßnahmen mehr als die Hälfte der Fälle von Typ 2-Diabetes vermieden werden könnten. [29, 30] Bei einer jährlichen Inzidenz von 450.000 in Deutschland bedeutet dies ein Präventionspotenzial von 2,25 Millionen Diabetesfällen in den nächsten 10 Jahren.
Es muss die Frage erlaubt sein, warum das deutsche Gesundheitswesen auf diesem Gebiet so gut wie nichts unternimmt. Eine Erklärung dafür könnten Fehlanreize über den Morbi-RSA bieten, der den Krankenkassen geringere Deckungsbeiträge pro Versicherten zuweisen würde, sollten sie durch Prävention den Anteil von Diabetikern unter ihren Versicherten verringern.
Außerdem sind Kosten auf der einen Seite Einnahmen auf der anderen Seite: Möglicherweise haben auch deshalb etliche Player im Gesundheitswesen kaum Interesse an der Prävention des Typ 2-Diabetes. Bei erstmanifestiertem Typ 2-Diabetes könnten unter den realen Bedingungen einer Hausarztpraxis über 70 % der Betroffenen ihren Diabetes ohne Medikamente, allein über die richtige Beratung zu einer Low-Carb-Ernährung und körperlicher Aktivität in Remission bringen. [31] Die Leitlinien der amerikanischen Diabetesgesellschaft ADA und der Deutschen Diabetes Gesellschaft DDG haben vor wenigen Jahren erstmals anerkannt, dass die Kohlenhydratreduktion nach evidenzbasierten Kriterien die beste Möglichkeit zur Verbesserung des Glukosestoffwechsels darstellt. [32, 33]
Doch spricht beispielsweise die DDG in öffentlichen Stellungnahmen weiterhin nur von der Vermeidung von Zucker, als wären nicht auch stärkehaltige Lebensmittel wie Brot, Reis, Cornflakes, Kartoffeln oder Nudeln für Menschen mit gestörtem Glukosestoffwechsel mindestens so blutzuckerwirksam und damit schädlich wie der Rohrzucker. [34]
Konkret bewirken bei gesunden Probanden eine Laugenbrezel mit 75 g oder eine Portion gekochter Reis mit 200 g dieselben Glukoseanstiege wie 15–16 Teelöffel Haushaltszucker. Und ein Dinkelvollkornbrot mit 75 g schneidet übersetzt mit 11 Teelöffeln kaum besser ab als 75 g Weizenbaguette mit 12 Teelöffeln Zucker. [35] Bei insulinresistenten Menschen (und damit bei rund 80 % der Typ 2-Diabetiker) wird durch eine Ernährung mit diesen „zuckerfreien“, jedoch stärkereichen Lebensmitteln eine chronische Hyperinsulinämie ausgelöst. Zu allem Überfluss bewertet der vor einigen Jahren eingeführte Nutri-Score, der auf überholten Ernährungsempfehlungen des vergangenen Jahrhunderts basiert, viele dieser stärkereichen Lebensmittel mit einem grünen „A“ und führt Menschen mit gestörtem Glukosestoffwechsel damit in die Irre.
„Stärke = Zucker!“ Wenn Patientinnen und Patienten mit Typ 2-Diabetes das verstehen, dann erreichen viele von ihnen ohne Medikamente eine Remission ihres Diabetes. Entscheidend dafür ist nach neuen experimentellen Studien ganz offensichtlich eine Rückbildung der Verfettung von Leber und Pankreas. [36]
Körperliche Aktivität und Sport
Die WHO empfiehlt Erwachsenen mindestens 150 Minuten moderate körperliche Aktivität pro Woche. [37] Laut Robert Koch-Institut erfüllt weniger als die Hälfte der über 30-jährigen Erwachsenen in Deutschland diese Vorgabe. [38]
Noch dramatischer ist der Mangel an Bewegung bei Kindern und Jugendlichen, für die eine Empfehlung von 60 Minuten körperlicher Aktivität pro Tag gilt: Nach Daten aus dem Jahr 2018 erreichten rund 75 % der 7–18-Jährigen diese Empfehlungen nicht. [39] Und in der Corona-Pandemie dürfte dieser Wert noch deutlich gestiegen sein.
Während in den vorangegangenen Generationen die Zeit nach der Schule überwiegend körperlich aktiv verbracht wurde, trainieren viele Kinder und Jugendliche heutzutage eher die Daumen, wenn sie auf Social Media „unterwegs“ sind. Wenn körperliche Aktivität in der Freizeit der Kinder viel zu kurz kommt, sollte dem Schulsport eine deutlich größere Bedeutung beigemessen werden. Bei allen Diskussionen um PISA-Resultate: Für die langfristige Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wäre eine obligatorische Stunde Schulsport pro Tag definitiv wichtiger als bessere Noten in Mathe.
Erwachsene sollten beim Arzt-Patient-Kontakt ähnlich wie auf das Rauchen auch auf das Thema körperliche Aktivität und Sport angesprochen werden. Das „Rezept für Bewegung“ ist dabei ein guter Ansatz, die Bedeutung von körperlicher Aktivität und Sport für die Erhaltung der Gesundheit durch präzise Empfehlungen zu unterstreichen. Doch ist gerade beim Thema körperliche Aktivität auch die Verhältnisprävention wichtig: Der Ausbau sicherer Radwege, die Bevorzugung des Radverkehrs in den Städten, Arbeitgeber-Angebote für ein Dienstrad oder Vergünstigungen für Fitnessstudios oder Vereinssport könnten den Einstieg einen aktiveren Lebensstil erleichtern.
Demenzprävention
Noch eine abschließende Bemerkung zu einem von der Gesundheitspolitik vernachlässigten Thema: Für das Jahr 2050 erwartet man in Deutschland ca. drei Millionen Demenzkranke. Das ist durchaus nicht schicksalhaft. Zwar gibt es eine hohe genetische Komponente bei der Prädisposition zur Demenz, insbesondere über den bekannten Apolipoprotein E-Polymorphismus. Bei den 2–3 % der Bevölkerung, die homozygot für E4 sind, ist das Demenzrisiko etwa auf das 15–20-fache gesteigert. Bei den 20–25 %, die ein ApoE4-Allel tragen, steigt es auf das 3–4-fache im Vergleich zu Menschen mit ApoE2 oder ApoE3. [40]
Doch nicht alles ist Genetik: Der Lebensstil hat über die genetische Veranlagung hinaus einen starken Einfluss auf das zukünftige Demenzrisiko. Sowohl eine frühzeitige Arteriosklerose als auch ein gestörter Glucosestoffwechsel mit Insulinresistenz begünstigen das Auftreten einer Demenz. Sie sind manifestationsfördernde Faktoren, die den Zeitpunkt einer Demenz bei gegebener Disposition um etliche Jahre nach vorne verlagern können.
Die Vermeidung einer frühzeitigen Arteriosklerose, die Prävention eines gestörten Glucosestoffwechsels, regelmäßige körperliche Aktivität und speziell das Krafttraining sowie insbesondere bei ApoE4-Trägern eine gute Versorgung mit langkettigen Omega-3-Fettsäuren könnten die Zahl der zu erwartenden Demenzfälle um etwa ein Drittel verringern. [41]
Die Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes hätte somit auch einen erheblichen Einfluss auf die zukünftigen Belastungen des Gesundheitswesens durch Demenzerkrankungen.
Fazit
Beim Thema Gesundheitsförderung und Prävention hat das deutsche Gesundheitswesen reichlich Verbesserungspotenzial. Um dieses zu nutzen, müsste man die bekannten ökonomischen Fehlanreize abstellen und präventive Leistungen angemessen vergüten. Solche Veränderungen sind derzeit nicht in Sicht.
Nichtsdestotrotz ist es aus ärztlicher Sicht unsere Aufgabe, unseren Patientinnen und Patienten bestmögliche Empfehlungen zur Gesundheitsförderung und Prävention zu geben. Weil sich wissenschaftlich hier in den letzten Jahrzehnten viel getan hat, sollte man sowohl im Medizinstudium als auch in der ärztlichen Fort- und Weiterbildung der Präventivmedizin einen größeren Stellenwert beimessen.
Dr. med. Johannes Scholl, Stellv. Vorsitzender der Deutschen Akademie für Präventivmedizin e. V. Europastr. 10, Rüdesheim Mail: scholl@akaprev.de
Multiple Choice-Fragen
Die Multiple Choice-Fragen zu dem Artikel „Chancen der kardiovaskulären Primärprävention “ von Dr. med. Johannes Scholl finden Sie im Portal sowie in der PDF-Version dieses Artikels. Die Teilnahme zur Erlangung von Fortbildungspunkten ist ausschließlich online über das Mitglieder-Portal vom 25. April 2024 bis 24. Oktober 2024 möglich. Die Fortbildung ist mit drei Punkten zertifiziert. Mit Absenden des Fragebogens bestätigen Sie, dass Sie dieses CME-Modul nicht bereits an anderer Stelle absolviert haben. Dieser Artikel hat ein Peer-Review-Verfahren durchlaufen. Nach Angaben des Autors sind die Inhalte des Artikels produkt- und/oder dienstleistungsneutral, es bestehen keine Interessenkonflikte.