In sechs Urteilen je vom 26.02.2020 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das in § 217 StGB normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gegen das Grundgesetz verstößt und nichtig ist. Das Hessische Ärzteblatt hat dazu berichtet.1 Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verletzt nach Auffassung des Senats das grundgesetzlich geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz von zur Selbsttötung entschlossenen Menschen in seiner Ausprägung als Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. Die Zulässigkeit der Hilfe zur Selbsttötung darf dabei nicht von Kriterien, wie etwa dem Vorliegen einer unheilbaren Krankheit, abhängig gemacht werden.
Aktueller Fall
Mit Urteil vom 08.04.2024 hat das LG Berlin2 einen pensionierten Hausarzt, der in zwei Fällen einer 37-jährigen, unter Depressionen leidenden Frau todbringende Medikamente zur Verfügung gestellt hatte, wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft für schuldig befunden und eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt. Zentral war für das Gericht dabei die Frage, ob die später Verstorbene in den beiden Fällen ihren Selbsttötungsentschluss freiverantwortlich gebildet hat.
Der Angeklagte hatte eingeräumt, der Geschädigten am 24.06.2021 auf ihren Wunsch hin Tabletten mit dem Wirkstoff Chloroquin zur Verfügung gestellt zu haben, damit diese sich damit selbst töten könne. Nach den Feststellungen der Kammer erbrach die Geschädigte die Tabletten jedoch nach der Einnahme und überlebte. Sie sei daraufhin in ein Krankenhaus eingeliefert und anschließend in einem geschlossenen psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden. Bereits während ihrer Unterbringung habe sie erneut Kontakt zu dem Angeklagten aufgenommen. Obwohl die Geschädigte schwankend in ihrem Entschluss zu sterben gewesen sei, habe der Angeklagte ihr am 12.07.2021 – unmittelbar nach ihrer Entlassung aus der Psychiatrie – in einem angemieteten Hotelzimmer eine Infusion mit einer tödlichen Dosis des Medikaments Thiopental Inresa gelegt. Die Geschädigte habe die Infusion durch Aufdrehen des Rädchens selbst in Gang gesetzt und sei binnen Minuten verstorben.
Das Gericht hat zugunsten des Angeklagten angenommen, dass die Geschädigte bei dem ersten Versuch im Juni 2021 trotz ihrer psychischen Erkrankung möglicherweise noch in der Lage gewesen sei, das Für und Wider ihrer Suizidentscheidung hinreichend realitätsgerecht abzuwägen; sie habe also im medizinischen Sinne noch freiverantwortlich gehandelt.
Bei dem zweiten Fall im Juli 2021 hingegen sei der Geschädigten eine objektive Abwägung krankheitsbedingt nicht mehr möglich gewesen. Dies habe auch der Angeklagte erkannt. Er habe nach dem ersten gescheiterten Suizidversuch ausgiebig mit der Geschädigten kommuniziert und so mitbekommen, dass diese in ihrem Sterbewunsch ausgesprochen ambivalent gewesen sei. Sie habe ständig zwischen dem Wunsch zu leben und dem Wunsch zu sterben hin und her geschwankt. Noch am Morgen des Tattages habe sie binnen einer halben Stunde ihre Meinung geändert. Damit sei deutlich geworden, dass ihr Entschluss nicht – wie von der Rechtsprechung für ein freiverantwortliches Handeln vorausgesetzt – von einer gewissen Dauerhaftigkeit und inneren Festigkeit getragen war. Darüber hinaus habe der Angeklagte unmittelbar Einfluss auf die Entscheidung der Geschädigten genommen, indem er ihr wahrheitswidrig zugesagt habe, erforderlichenfalls auch über die Grenzen des Erlaubten hinaus nachzuhelfen, damit sie bei diesem zweiten Anlauf auch tatsächlich sterbe. Damit habe er die Entscheidung über ihr Leben maßgeblich beeinflusst. Deshalb sei in dieser besonderen Fallkonstellation davon auszugehen, dass der Angeklagte eben nicht nur straflose Beihilfe zum Suizid geleistet habe. Stattdessen habe er als mittelbarer Täter die Geschädigte zu einem Werkzeug gegen sich selbst gemacht. Das Urteil ist nicht rechtskräftig; der Arzt hat Rechtsmittel angekündigt.
Ungewöhnliche Abschlusserklärung des Richters
Am Ende der Sitzung ereignete sich Ungewöhnliches: Der Vorsitzende Richter erklärte, dass er es begrüßen würde, wenn der Verurteilte in Revision gehe, damit die zugrunde liegenden Rechtsfragen höchstrichterlich geklärt würden. Die bislang vorliegende Rechtsprechung sei im Hinblick auf Leitplanken dürftig, der Gesetzgeber selbst sei untätig, so das Gericht weiter.
Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) gab es 2023 insgesamt 419 Fälle, in denen Mitglieder der Gesellschaft beim Suizid begleitet wurden. Das seien deutlich mehr gewesen als 2022 (229 Fälle). Laut DGHS wurden 34 Anträge von Menschen mit psychiatrischer Vorgeschichte abgelehnt. Die Helfenden seien nur bei wenigen Personen überzeugt gewesen, dass es sich um eine frei verantwortliche Entscheidung gehandelt habe.3
Dr. jur. Thomas K. Heinz, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, E-Mail: dr.heinz@freenet.de
1 Hessisches Ärzteblatt 04/2020, Seite 236 f
2 LG Berlin, Urteil vom 08.04.2024, Az. 540 Ks 2/23
3 zit. nach https://www.aachener-zeitung.de/panorama/prozess-um-sterbehilfe-haftstrafe-fuer-arzt/10302451.html