Dr. med. Johannes Trabert, PD Dr. med. Rupert Püllen

Polypharmazie bezeichnet die Verordnung von fünf oder mehr Medikamenten und kommt gerade bei älteren Menschen häufig vor. Bei Patienten, die 70 Jahre oder älter sind, trifft dies auf etwa ein Viertel zu [1], insbesondere bei Menschen mit Beeinträchtigungen in der Selbstständigkeit im Alltag. Polypharmazie ist assoziiert mit funktioneller Verschlechterung, kognitivem Abbau, Stürzen, Urininkontinenz, Mangelernährung und nicht zuletzt auch Incompliance [2]. Daher ist das Bewusstsein für das Vorliegen von Polypharmazie unabdingbar.

Gleichzeitig ist es wichtig zu betonen, dass Polypharmazie auch Zeichen des Fortschritts in der Medizin ist und damit auch sinnvoll. Einige Diagnosen haben eine Polypharmazie zur Folge, beispielsweise die Herzinsuffizienz mit reduzierter Ejektionsfraktion, wodurch Lebenszeit aber auch Lebensqualität positiv beeinflusst werden können.

Bei der Beurteilung von Polypharmazie sollte stets auf die Art der Medikamente geachtet werden. Hier soll insbesondere die Bedeutung von potenziell inadäquaten Medikamenten (PIM) hervorgehoben werden. PIM bezeichnen Medikamente, die bei älteren Menschen aufgrund von Interaktionspotenzial oder Nebenwirkungsprofil tendenziell ungeeignet sind. Sie sollten daher vermieden werden bzw. wenn nicht anders möglich, nur mit entsprechender Überwachung der Nebenwirkungen. Einen Überblick über PIM geben Listen wie z. B. FORTA [3] oder PRISCUS [4]. Diese Listen bieten auch besser verträgliche Alternativen.

Als Beispiel dienen Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) wie Ibuprofen oder Diclofenac, die gerade bei älteren Menschen häufiger zu gastrointestinalen Blutungen, Nierenfunktionseinschränkungen oder Blutdrucksteigerungen führen können. Mit zunehmendem Alter steigt die Verordnung von PIM, so bekommt z. B. ab dem 80. Lebensjahr in Deutschland etwa jeder Dritte ein oder mehrere PIM verordnet [5].

Bei älteren Menschen ist die Verordnung speziell von PIM mit einer Vielzahl von Komplikationen verbunden. Menschen mit PIM werden häufiger notfällig in einer Notaufnahme vorgestellt und werden häufiger stationär aufgenommen [6]. Zudem kommt es bei ihnen häufiger zu einer funktionellen Verschlechterung, sie haben ein erhöhtes Risiko, eine Demenz zu entwickeln, und sogar eine erhöhte Sterblichkeit [7]. Somit ist neben Polypharmazie auch die Kenntnis zu PIM unabdingbar.

Eine Herausforderung stellt die zusätzliche Einnahme von frei verkäuflichen Medikamenten dar. Bis zu einem Viertel der Gesamtmedikation stellen bei älteren Menschen frei verkäufliche Medikamente dar, am häufigsten waren hier Aspirin, Magnesium und Calcium [8].

Wichtig sind aber auch Medikamente wie z. B. Johanniskraut, welches als potenter Induktor von CYP3A4 relevant in die Verstoffwechslung von anderen Medikamenten eingreift. Ein bewährtes Mittel ist das sogenannte Brown Bag Prinzip, bei dem der Patient gebeten wird, alle Medikamente, die eingenommen werden, inklusive der frei verkäuflichen, mitzubringen [8].

Eine Möglichkeit, Polypharmazie zu beeinflussen, stellt die Applikationsform dar. So können orale Medikamente so verordnet werden, dass sie nur einmal täglich anstatt mehrfach täglich eingenommen werden müssen. Dies kann zum einen erreicht werden durch Retardpräparate, zum anderen durch die Auswahl des Präparates selbst, so müssen bei den direkten oralen Antikoagulanzien z. B. Edoxaban und Rivaroxaban nur einmal täglich eingenommen werden. Bei manchen Medikamenten bietet sich auch eine transdermale Applikationsform an, z. B. bei Opiaten, Cholinesterasehemmern oder Dopamin-Agonisten. Bei der Osteoporose Therapie mit Bisphosphonaten sollte die einmal jährliche Therapie mit Zoledronsäure intravenös der einmal wöchentlichen oralen Einnahme von Alendronsäure bevorzugt werden.

Polypharmazie bei besonders vulnerablen Menschen

Es wurde bereits erwähnt, dass insbesondere Menschen mit reduzierter Selbstständigkeit im Alltag von Polypharmazie betroffen sind. Diese Gruppe von Menschen entspricht dem Frailty Konzept im Sinne der klinischen Frailty Skala oder clinical frailty scale (CFS). Frailty oder im Deutschen Gebrechlichkeit bzw. erhöhte Vulnerabilität ist nicht einheitlich definiert, entspricht aber grundsätzlich einer reduzierten Selbstständigkeit mit Kraftverlust und eingeschränkter Mobilität. Die CFS skaliert von 1 (fit) über 5 (frail) bis 9 (terminal erkrankt) die verschiedenen Stufen der Alltagsfähigkeit und ist mittlerweile vielfach untersucht und aussagekräftig u. a. hinsichtlich Gesamtprognose, Sturz- oder Delir- bzw. Demenzrisiko [9].

Uns ist es wichtig, in diesem Artikel auch auf das Frailty-Konzept hinzuweisen, da das Vorliegen von Frailty essenziell verbunden ist mit dem Risiko von Polypharmazie und speziell PIM [10].

Bei Vorliegen von Polypharmazie oder PIM sollte somit immer auch die Funktionalität, also die Selbstständigkeit im Alltag des Patienten betrachtet werden. Ein Patient, der körperlich und geistig fit ist, verträgt Polymedikation deutlich besser als ein Patient mit geistiger und körperlicher Beeinträchtigung [11].

Gerade Menschen mit Frailty haben häufiger Begleiterkrankungen oder Syndrome, welche die Einnahme von Medikamenten beeinträchtigen können. Dies umfasst beispielsweise Demenzerkrankungen, Dysphagie, reduzierte Feinmotorik, reduziertes Sehvermögen. Entsprechend muss darauf geachtet werden, dass entsprechende Unterstützung im Alltag vorhanden ist. Auch kann dieser Patientengruppe die Applikationsart wie oben beschrieben angepasst werden.

Deprescribing

Wo Polypharmazie ist, sollte also auch Absetzen von Medikamenten, das sogenannte Deprescribing, stets bedacht werden. Deprescribing beschreibt die systematische Überprüfung von Medikamenten hinsichtlich Indikation bzw. Wirkung und Kontraindikationen bzw. Nebenwirkungen. Es stellt also eine Nutzen-Risiko Abwägung dar unter Berücksichtigung der Lebensituation und Lebenserwartung des Patienten sowie dessen individuellen Wünsche.

Es gibt bestimmte Ereignisse oder Beschwerden, die Anlass geben sollten zu Deprescribing. Dies können grundlegend lebensverändernde neue Diagnosen sein, wie z. B. ein lebenszeitverkürzendes Malignom oder die neue Diagnose einer Demenzerkrankung, aber genauso die Umsiedelung in eine Pflegeeinrichtung. Die genannten Diagnosen bzw. der genannte Umzug stellen tiefgreifende Veränderungen dar und gehen somit mit einer veränderten Gesamtprognose und gegebenenfalls auch mit veränderten Zielen vonseiten des Patienten einher [12].

Gleichzeitig gibt es bestimmte Beschwerden, die an Deprescribing denken lassen sollten:

So sollte zum Beispiel nach einem Sturz immer die Medikation überprüft werden. Die Fall Risk increasing Drugs (FRIDs) sind eine Medikamentengruppe, die nachweislich das Sturzrisiko erhöhen und somit nach einem Sturz kritisch in der Indikation überprüft werden sollten. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass das isolierte Absetzen von sturzauslösenden Medikamenten das Sturzrisiko nicht senkt. So sollten auch andere Aspekte wie z. B. Kraft- und Gleichgewichtstraining berücksichtigt werden [13]. Auch ein neu aufgetretenes Delir kann durch ein Medikament verursacht werden, weshalb ein kritischer Blick auf die Medikationsliste sinnvoll ist. Hier sollte man insbesondere an Medikamente mit anticholinerger Wirkung, aber auch an Opiate denken [14].

Gerade bei älteren Menschen ist auch Schwindel ein häufiges Symptom, welches eine medikamentöse Ursache haben kann. Die Medikamente die einen Schwindel verursachen können, sind im Wesentlichen die gleichen Medikamente, die das Sturzrisiko erhöhen, die erwähnten FRIDs [13]. Da Schwindel die Lebensqualität und Selbstständigkeit verschlechtert und auch das Sturzrisiko erhöht, lohnt sich auch hier der kritische Blick auf die Medikation [15].

Die genannten Ereignisse bzw. Beschwerden decken selbstverständlich nicht alle möglichen Nebenwirkungen von Medikamenten bei Polypharmazie ab. Daher sollte bei Menschen mit Polypharmazie, die sich mit neuartigen Beschwerden ärztlich vorstellen, grundsätzlich immer daran gedacht werden, dass diese Beschwerden möglicherweise eine Nebenwirkung eines oder mehrerer Medikamente sein könnten.

Die erste Überlegung sollte daher nicht sein, welches Medikament man gegen neue Beschwerden geben muss, sondern, welches Medikament man absetzen kann, um die Beschwerden zu lindern.

Fallbeispiel

Eine 89-jährige Pflegeheimbewohnerin klagt über Schwindel, durch welchen sie nicht mehr in der Lage sei, aus dem Bett zu kommen. Aufgrund des Schwindels sei sie vor kurzem auch schon stationär in einer HNO-Klinik behandelt worden, wo keine Ursache gefunden wurde. Vom Pflegepersonal wird sie als freundlich, kooperativ, aber oft schläfrig beschrieben. In der Untersuchung ist ein reduzierter Antrieb, ein Puls von 58 Schlägen pro Minute sowie ein Blutdruck von 100 mmHg systolisch in liegender Position auffällig. Die Mobilisierung wird von der Dame abgelehnt, da sie dann immer Schwindel habe. In der aktuellen Medikamentenliste finden sich Amlodipin, Ramipril, Bisoprolol jeweils morgens und abends, Quetiapin mittags und abends, Pipamperon morgens und abends, L-Thyroxin morgens und Mirtazapin abends. Die Vorerkrankungen umfassend eine leichtgradige Alzheimer Demenz, eine Depression, eine Hüft-TEP, einen AV-Block ersten Grades sowie eine arterielle Hypertonie.

Interpretation: Ursache für den Schwindel ist a. e. eine iatrogene Hypotonie, möglicherweise verstärkt durch eine orthostatische Dysregulation. Letztere wird durch die Verordnung von den zwei Neuroleptika verstärkt. Außer der arteriellen Hypertonie in der Vorgeschichte gibt es keine Indikation, welche eine strenge Blutdruckeinstellung rechtfertigt (z. B. Zustand nach Myokardinfarkt, schwere Herzinsuffizienz). Neuroleptika sollten grundsätzlich in der Indikation immer wieder überprüft werden. Aktuell wird die Dame als freundlich und kooperativ beschrieben.

Maßnahmen: Die Neuroleptika werden auf eine Substanz und nur noch abendliche Einnahme reduziert, die abendliche Dosis wird in einer Woche auf Notwendigkeit geprüft. Die Antihypertensiva werden reduziert, angefangen bei Bisoprolol aufgrund der Bradykardie. Die weitere Reduktion erfolgt in Absprache mit den Blutdruckwerten und des Zustandes der Dame.

Ergebnis: Schon zwei Tage nach den ersten Änderungen bessert sich der Zustand der Dame, sie kann sich nun an die Bettkante setzen. Nach weiteren Tagen ist sie wieder am Rollator mobil. Es wird die Diagnose iatrogen verursachte orthostatische Hypotonie gestellt.

Für die tägliche Praxis

Bei der Anwendung von Deprescribing ist zunächst eine vollständige Übersicht der Diagnosen und der Medikamente wichtig. Sollte ein Medikament keine eindeutige Indikation haben, muss es abgesetzt werden. Tückisch sind oft Medikamente, die nur eine vorübergehende Indikation haben, sich dann aber in der Dauermedikation wiederfinden. Als Beispiel seien Pantoprazol als Stressulkusprophylaxe in der Akutsituation oder Sedativa bzw. Neuroleptika im Rahmen von Schlafstörungen oder einem Delir im Krankenhaus genannt. Hier sollte auch bedacht werden, dass sich Indikationen im Verlauf ändern können, beispielsweise die Indikation für eine Primärprophylaxe mit Aspirin. Entsprechend müssen Indikationen stets überprüft werden.

Sollte ein Medikament mit entsprechenden relevanten Nebenwirkungen identifiziert werden, muss gemeinsam mit dem Patienten individuell abgewogen werden, ob das Medikament abgesetzt, in der Dosis reduziert oder fortgeführt werden sollte. Weiterhin ist es wichtig zu prüfen, ob Medikamente gegeben werden, um Nebenwirkungen eines anderen Medikamentes zu behandeln. Dies nennt man Verschreibungskaskade. Als ein Beispiel dienen Ödeme unter Calciumkanalblockern, die wiederum mit Diuretika behandelt werden. Viele weitere Beispiele sind in Tabelle 1 aufgeführt.

Manche Medikamente lassen sich problemlos absetzen, andere sollten vorsichtig ausgeschlichen werden, um Reboundeffekte bzw. Entzugserscheinungen zu vermeiden. Dies gilt z. B. für Antidepressiva, Neuroleptika oder Opiate.

Wenn mehrere Medikamente zum Absetzen identifiziert werden, sollten diese nach Möglichkeit nacheinander und nicht alle gleichzeitig beendet werden.

Ein wesentlicher Aspekt, der berücksichtigt werden muss, ist das Vorliegen einer relevanten funktionellen Beeinträchtigung im Sinne von Frailty. Dies entspricht auch bei zunehmender Frailty einer zunehmend reduzierten Lebenserwartung. Medikamente, die langfristig prognoseverbessernd indiziert sind, sollten nicht bei einer Lebenserwartung von einem Jahr oder kürzer angewendet werden. Beispielsweise sei hier eine intensive antidiabetische Therapie oder eine Statintherapie oder orale Antikoagulation genannt. Zur Prognoseeinschätzung bietet sich auch die „Surprise-Question“ an: Wäre ich überrascht, wenn mein Patient in den nächsten zwölf Monaten stirbt?“

Tabelle 1
SymptomPotenziell auslösende MedikamenteProblematische Therapie
KnöchelödemeCalcium Kanal BlockerDiuretika
DelirAnticholinergika, OpiateAntidementiva
BluthochdruckNSARsAntihypertensiva
SchwindelAntihypertensiva, Sedativa, AnticholinergikaAntivertigosa
UrininkontinenzCholinergikaAnticholinergika
HyperglykämieKortisontherapieAntidiabetika
HyponatriämieThiazideSalztabletten

Fazit

Es ist uns abschließend wichtig, auf zwei Dinge hinzuweisen:

Bei sorgfältiger Anwendung ist Deprescribing zum einen sicher und zum anderen kann es die Zufriedenheit und den subjektiven Gesundheitszustand von Patienten steigern [16].

Bei der Überprüfung von Diagnosen und Medikamenten sollte nicht nur darauf geachtet werden, welche Medikamente man absetzen sollte, sondern auch darauf, welche Medikamente bei entsprechenden Diagnosen unbedingt angesetzt werden sollten. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die fehlende spezifische Osteoporosetherapie bei manifester Osteoporose, aber auch eine fehlende adäquate Rheumatherapie wie zum Beispiel Methotrexat oder Leflunomid.

Dr. med. Johannes Trabert, Oberarzt, Medizinisch-Geriatrische Klinik, E-Mail: johannes.trabert@agaplesion.de

PD Dr. med. Rupert Püllen, Chefarzt, Medizinisch-Geriatrische Klinik

beide: Agaplesion Markus Krankenhaus, Wilhelm-Epstein-Straße 4, 60431 Frankfurt am Main

Die Literaturhinweise finden Sie hier.

Multiple Choice-Fragen

Die Multiple Choice-Fragen zu dem Artikel „Polymedikation und Deprescribing bei älteren Menschen“ von Dr. med. Johannes Trabert und PD Dr. med. Rupert Püllen finden Sie in der PDF-Version dieses Artikels und im Mitgliederportal (https://portal.laekh.de).

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