Zum 128. Deutschen Ärztetag in Mainz haben wir Ärzt:innen noch vor Eröffnung der Tagesordnung die Selbstverpflichtung zum Genfer Gelöbnis des Weltärztebundes und unsere soziale Verantwortung als Ärzteschaft in der aktuellen (welt-)politischen Lage bekräftigt: „Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientinnen oder meinen Patienten treten.“
Gefühlte Ohnmacht
Appelle und Gelöbnisse sind wichtige Zeichen, denn die deutsche Ärzteschaft hat sich in der Geschichte nicht immer korrekt positioniert. Aber was folgt nun? Wie wollen wir als Ärzt:innen darauf hinwirken, dass Rassismus, Diskriminierung, Hass, Hetze und gewalttätige Auseinandersetzungen zurückgedrängt werden? Sind wir denn frei von solchen „Erwägungen“?
In meiner Praxis erlebe ich aktuell viele Menschen, die von sich sagen, dass sie aufgrund der Kriege, der Situation der Flüchtlinge, der steigenden sozialen Kälte, Spaltungs- oder gar Gewalttendenzen in der Gesellschaft und auch der in Deutschland spürbarer werdenden Klimakatastrophen zunehmend LEBENSMÜDE – MÜDE vom Leben sind.
„Wir haben die Chance, den anderen und uns selbst besser verstehen zu lernen und in einen gemeinsamen Reifungsprozess einzutreten“
Der Angst vor dem „Fremden“ begegnen
Als Psychoanalytikerin interessiere ich mich für die Wurzeln dieser Gefühle und bin dabei auf zwei Bücher gestoßen: „Das Fremde in der Psychoanalyse“ (2000, DGPT-Tagungsband, Hg. Ulrich Streeck) und „Kultur des Friedens“ (2001, Hg. Horst-Eberhard Richter). In der Psychoanalyse arbeiten wir immer mit dem Fremden, dem Unbewussten in uns. Dieses gleichzeitig beunruhigende und faszinierende Fremde in uns und die damit verbunden Bestrebungen der Abwehr dienen zur Beruhigung der (gesellschaftlichen) Werte und Normen und sind repräsentiert im Über-Ich, dem Hüter des Selbstgefühls. Kollege Streek fordert im Vorwort dazu auf, mit unseren Möglichkeiten zur „Aufklärung dieser sich ausbreitenden kollektiven Abwehrformen von Fremden“ beizutragen. Damals bezogen auf die Ausländerfeindlichkeit und den wiedererstarkenden Rechtsradikalismus in den 1990er-Jahren. In verschiedenen Beiträgen wurde immer wieder von der gefühlten Ohnmacht, der Unklarheit der Identität (im doppelten Sinne als personales Ich-Bewusstsein und als kollektives Wir-Bewusstsein vom Typ Nation, Ethnien, etc.) und der Angst vom Fremden überrannt zu werden, geschrieben. Vielleicht haben wir Deutsche es schwerer aufgrund unserer Geschichte, aber haben wir nicht schon viele integriert – Heimatvertriebene und Aussiedler, Gastarbeiter, Asylbewerber und Flüchtlinge. Durch die vielen Fragen der Immigration und des kulturellen Pluralismus entstehen Dissonanzen. Wie wollen wir zukünftig damit umgehen? Wollen wir in einer multikulturellen Gesellschaft leben, in der freie Weltansichten und Entscheidungen der Individuen, anders zu leben, begrüßt werden? Oder bleiben wir lieber bei den alten Werten und Normen, der „German Angst“ und dem „Ethnozentrismus“, der das eigene Volk in den Mittelpunkt stellt?
Mehr miteinander reden
Laut Horst-Eberhard Richter entsteht Ethnozentrismus „als Überkompensation von Selbstunsicherheit und Minderwertigkeitsgefühlen durch Selbstidealisierung einerseits und Dämonisierung der Fremden andererseits.“ Wir sind aktuell in der Verantwortung, „auf vielfältige Weise die Umwandlung von Destruktivität in Leben, von Verbindung in Kooperation, von Ausbeutung der Natur in ihre nachhaltige Pflege zu betreiben“, wie Richter vorgeschlagen hat. Dazu erscheint es mir wichtig, wieder mehr miteinander zu reden, einander zuzuhören, andere anders sein zu lassen, ohne sich selbst angegriffen oder infrage gestellt zu fühlen. Wir haben die Chance, den anderen und uns selbst besser verstehen zu lernen und in einen gemeinsamen Reifungsprozess einzutreten. Nutzen wir sie.
Dr. med. Barbara Jaeger, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen