Im oben genannten Artikel weisen die Autoren zurecht darauf hin, dass Patienten mit Diabetes mellitus interdisziplinär ärztlich betreut werden müssen. Erforderlich sind regelmäßige augenärztliche Kontrollen und eine stadiengerechte Diagnostik und Therapie.
Als niedergelassener Diabetologe möchte ich auf ein gravierendes Problem hinweisen, auf das die Autoren nicht eingehen: Das Screening auf diabetische Retinopathie funktioniert nicht, zumindest nicht in Frankfurt. Das mussten wir am Beispiel einer Kohorte von 265 gesetzlich versicherten Patienten feststellen (siehe Exp Clin Endocrinol Diabetes 2023;131:182–186):
- Das von der Diabetes-Schwerpunktpraxis eingeleitete Screening auf diabetische Retinopathie wurde bei weniger als 50 % der Patienten abgeschlossen, obwohl dem Augenarzt ein vollständig ausgefüllter NVL-Überleitungsbogen vorgelegt wurde.
- Ein Viertel der untersuchten Patienten leisteten eine Zuzahlung von über 60 Euro, obwohl der Augenarztpraxis ein gültiger Überweisungsschein vorgelegt wurde.
Nach Präsentation und Publikation dieser Arbeit wurde festgestellt, dass dieses Problem in vielen anderen Regionen ähnlich anzutreffen ist. Patienten werden regelmäßig genötigt, Untersuchungen vornehmen zu lassen, die sie nicht brauchen und nicht wollen. Das eigentliche Screening auf diabetische Retinopathie scheint dabei unterzugehen, ein Befund wird nicht erstellt. In einem besonders schwerwiegenden Fall hat eine meiner Patientinnen verschiedene Untersuchungen für insgesamt 230 Euro machen lassen. Zuvor sei sie vom Augenarzt gefragt worden: „Wollen Sie etwa blind werden?“ Sie erhält eine Rente von 670 Euro/Monat.
Dr. med. Bernardo Mertes, Facharzt für Innere Medizin, Diabetologe DDG/LÄK, Leiter CCB Diabetes Centrum Bethanien, Belegarzt am Agaplesion Krankenhaus Bethanien
Antwort der Autoren
Sehr geehrter Herr Dr. Mertes,
in Ihrem Leserbrief weisen Sie mit Verweis auf die unter Ihrer Mitwirkung entstandene Studie zurecht darauf hin, dass die augenärztliche Vorsorge bei Patientinnen und Patienten mit Diabetes noch immer unzureichend ist.
Im Rahmen der im Frankfurter Raum durchgeführten Studie mit 265 gesetzlich versicherten und an Diabetes erkrankten Teilnehmenden konnte zusammenfassend gezeigt werden, dass ein leitliniengerechtes augenärztliches Screening (einschließlich ärztlicher Untersuchung mit Funduskopie und schriftlicher Berichterstattung an den Zuweiser) nur in 46 % der Fälle erfolgte. Eine Funduskopie (mit oder ohne Bericht) erfolgte bei 72 % der Teilnehmenden. Bei etwa 28 % aller Eingeschlossenen fand trotz Aufklärung über die Wichtigkeit der augenärztlichen Vorsorge und daraufhin erfolgter formell korrekter Zuweisung im darauffolgenden Sechsmonatszeitraum keine augenärztliche Vorstellung statt. Insgesamt veranschaulichen diese Zahlen den hohen Nachholbedarf in der Etablierung einer flächendeckenden qualitativen augenärztlichen Vorsorge bei Diabeteskranken, den wir mit unserem CME-Fortbildungsartikel ebenfalls primär adressieren wollen (vgl. HÄBL 03/2024) .
Wie Sie in Ihrer Publikation beschreiben, sind mögliche Gründe für die Defizite mannigfaltig: Trotz einer guten Aufklärung über die Wichtigkeit der Vorsorge erfolgte diese im Verlauf zu selten, was einerseits (wie von Ihnen beschrieben) an der Unterschätzung der möglichen Konsequenzen für die Sehkraft durch die Betroffenen liegen kann, andererseits jedoch deutlich häufiger durch die Hürden der augenärztlichen Terminvergabe bedingt ist. Letztere ergeben sich vor allem durch wiederholte Zurückweisungen (oftmals begründet durch ein erhöhtes Patientenaufkommen) und, sofern eine Terminvergabe möglich ist, lange Wartezeiten.
Ihrer Arbeit ist zu entnehmen, dass 85 % aller Teilnehmenden der Studie in augenärztlichen Praxen vorstellig wurden, was die Wichtigkeit des ambulanten Sektors bei der augenärztlichen Diabetesvorsorge unterstreicht. Um die Terminvergabe zu erleichtern, sollte (auch angesichts der zu erwartenden demografischen Entwicklungen) eine Ausweitung der ambulanten Kapazitäten erwogen werden.
Gleichzeitig sollten die ambulant und in den Kliniken tätigen Kollegen durch Optimierung ihrer Betriebsabläufe und Etablierung von Spezialsprechstunden eine möglichst hohe Kapazität für derartige Patientenkollektive anstreben, was jedoch in den vielen Fällen bereits geschieht. Eine schriftliche Rückmeldung in Form eines Befundes an den Zuweiser ist, wie in unserem Artikel beschrieben, eine zentrale Säule der interdisziplinären Zusammenarbeit und sollte immer erfolgen. Möglicherweise kann hier auch seitens des Zuweisers eine schriftliche Erinnerung (in Form eines standardisierten Bogens) an den Patienten mitgegeben werden, um die Rate an Befundausstellungen zu erhöhen. Auf augenärztlichen Fortbildungen und Kongressen sollte die Wichtigkeit des (schriftlichen!) interdisziplinären Austauschs, der durch die einschlägigen Fachgesellschaften ebenfalls betont wird, weiterhin und zukünftig noch stärker betont werden.
Sie sprechen in Ihrem Leserbrief auch an, dass etwa 25 % der Studienteilnehmenden eine Zuzahlung im Rahmen ihrer augenärztlichen Vorstellung geleistet haben. Dazu ist prinzipiell zu sagen, dass jeder versicherten Person eine adäquate augenärztliche Vorsorge im Rahmen ihrer Diabeteserkrankung zusteht. Eine Spaltlampenuntersuchung mit Funduskopie ist dabei durch die gesetzliche Krankenversicherung abgedeckt und in den meisten Fällen ausreichend, um typische diabetische Veränderungen (z. B. eine Rubeosis iridis oder Netzhautveränderungen) zu erkennen.
Da die Sehorgane jedoch verschiedene altersbedingte Veränderungen durchlaufen, liegen bei Patienten mit Diabetes in vielen Fällen augenärztliche Komorbiditäten vor, die bei der Screeninguntersuchung auffallen und eine weitergehende Diagnostik sinnvoll erscheinen lassen können. An dieser Stelle ist es für die behandelnden Augenärzte sehr wichtig, derartige Veränderungen vor dem Patienten klar und scharf von typischen Diabetesveränderungen abzugrenzen, damit keine Verwirrung bezüglich der Notwendigkeit dieser Untersuchungen im Rahmen der Diabetesvorsorge aufkommt. Leider wird eine derartige klare Abgrenzung jedoch nicht allen (teils komplexen) ophthalmologischen Krankheitsbildern gerecht. In Einzelfällen kann eine weiterführende apparative Diagnostik (wie eine OCT-Bildgebung, die zumeist nicht von der Krankenkasse übernommen wird) auch im Rahmen der augenärztlichen Diabetesvorsorge sinnvoll sein, um bestimmte Veränderungen (wie z. B. die Intensität eines Makulaödem) oder zeitliche Veränderungen im Verlauf genauer und präziser beurteilen zu können. Solche Fälle sollten jedoch sehr streng abgewogen und nur im klaren Bedarfsfall seitens des Augenarztes auch konkret empfohlen werden. Dabei sollte der potenzielle Mehrwert klar geschildert und kontextualisiert werden. In keinem Fall sollten Patienten Untersuchungen erhalten, die keinen oder einen im jeweiligen Zusammenhang unverhältnismäßig geringen Mehrwert bieten. Auch das Ausüben von Druck auf den Patienten sollte selbstverständlich vermieden werden! Im Zweifel handelt es sich beim Diabetes-Screening zumeist nicht um einen Notfall, weshalb das Einholen einer Zweitmeinung vor Durchführung von weiteren Untersuchungen sinnvoll sein kann.
Insgesamt sind weiterhin große interdisziplinäre Herausforderungen vonnöten, um die Qualität und Flächendeckung des augenärztlichen Diabetesscreening zu verbessern. Augenärztliche und internistische Kollegen sind genau wie die Politik angehalten, sich des bekannten Problems zeitnah und mit hoher Priorisierung anzunehmen.
Dr. med. Marvin Lucas Biller, Dr. med. univ. Klemens Paul Kaiser, Dr. med. Elena Plawetzki, Dr. med. Julian Bucur, Univ.-Prof. Dr. med. Thomas Kohnen