Umgang und Erfahrung aus einer orthopädischen Praxis im Vergleich mit einer sprechenden Praxis
Die Pandemie verläuft weiterhin mit einer enormen Dynamik, auch wenn die Inzidenzzahlen sinken. In 2020 gab es fast eine Million zusätzliche Todesfälle und 2021 noch einmal eine ungeheure Steigerung. In der Vergangenheit waren die Menschen immer wieder durch Epidemien bedroht. An vorderster Front standen immer die Arztpraxen, um die ambulante Versorgung der Menschen sicherzustellen. Wie es in den vergangenen 16 Monaten in meiner orthopädischen Praxis war, will ich an zwei extremen Beispielen schildern.
Das RKI empfiehlt:
- Basis-Hygienemaßnahmen – erhöhte Umgebungshygiene
- Ergänzende Hygienemaßnahmen
- Pandemie-Hygienemaßnahmen
- Die Vorbereitung von persönlicher Schutzausrüstung für zwölf Wochen, denn das Risiko einer Erregerübertragung ist prinzipiell existent und hoch.
Wie erkennen die Ärzte oder das Praxisteam einen an Covid-19-Erkrankten?
Dazu sind alle Mitarbeitenden und Patienten auf das gegenseitige Vertrauen angewiesen. Möglich wäre eine Temperaturmessung beim Betreten der Praxis, möglich wäre die Feststellung eines Riechverlustes als frühes Warnsignal.
Möglich wäre ein Schnelltest oder Selbsttest.
Aber letztendlich gibt es keine objektiven Parameter!
Als Schutzmaßnahmen für das Personal folgten:
- Die Steigerung der praxisinternen Hygienekonzepte,
- verbindliche AHA L-Regelung (Abstand, Hygiene, Maske und Lüftung),
- Desinfektion von Menschen und Materialien.
- Darüber hinaus wurde das Ziel der möglichst großen Kontaktvermeidung zu Patienten durch geänderte Praxisabläufe erreicht: Starke Regulierung, beispielsweise der Praxiswege, Verbot von Begleitpersonen, getrennte Wartebereiche, Minimierung von Kontaktmöglichkeiten unter den Patientinnen und Patienten.
Für Psychotherapeuten zum Beispiel ist eine Onlinesprechstunde per Video möglich und absolut gefahrlos durchführbar, vor allem dann, wenn schon ein längerer Kontakt zwischen Patient und Therapeut besteht: eine Top-Alternative!
Online-Lösungen sind zwar nur, um es salopp zu sagen, zweitklassig, aber besser als gar nichts!
Orthopäden wie ich jedoch brauchen den körperlichen und persönlich-mentalen Kontakt zum Patienten: Wir müssen fühlen und tasten, um Patienten atmen zu hören und körperlich zu „erspüren“.
Nur mit größter Nähe können wir die jeweilige Patientin oder den Patienten „erfahren“, um uns ein Bild der Erkrankung zu machen. Zwar sind technische Hilfsmittel wie Ultraschall (benötigt jedoch auch körperlichen Kontakt), Röntgen, Schichtuntersuchungen oder Kernspin wichtige Diagnostikhilfen, ebenso das Labor, aber es sind eben nur Hilfen. Einen Kernspinbefund kann ich nicht operieren oder spritzen – therapeutisch können wir nur am Menschen tätig werden, die leidend in unsere Praxen kommen.
So ist und bleibt der Mensch Inhalt und Ziel jeder Behandlung, mit extremen direkten körperlichen Kontakt und damit einem stark erhöhten Infektionsrisiko – vor dem Ärztinnen und Ärzte keine Richtlinie schützen kann. Eine chirotherapeutische Mobilisierung kann nicht auf Distanz erfolgen, eine Reposition aus der Ferne ist eine Unmöglichkeit.
All dies beinhaltet für den kassenärztlichen Bereich einen Umsatzverlust von schätzungsweise gut 20 % – der nicht durch andere Maßnahmen ausgeglichen werden kann.
Letztlich muss man aber feststellen: Die Pandemie hat uns wieder etwas mehr Menschlichkeit vermittelt.
Dr. med. Jürgen Glatzel, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen
„Keine Corona-Richtlinie kann Ärztinnen und Ärzte vor dem unabdingbaren direkten persönlichen Kontakt zu Patienten schützen.“