Regina Ernst, Leiterin des Frankfurter Drogenreferats, über Drogenkonsum in der Pandemie
Durch die Corona-Krise sind die sozialen Kontakte in den vergangenen Monaten stark eingeschränkt worden. Suchtexperten warnen, dass mehr Alkohol und andere Drogen konsumiert werden als üblich. Lässt sich in der aktuellen Pandemie ein gestiegenes Suchtverhalten beobachten?
Regina Ernst: Bisher gibt es in Deutschland keine verlässlichen Zahlen zum Alkoholkonsum in der Corona-Krise in Deutschland. Aus einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung geht zwar hervor, dass der Einzelhandel um 14 % zugelegt hat, jedoch geht aus der Studie nicht hervor, was konsumiert wurde. Der Havas Media Corona Monitor 3 hat festgestellt, dass aktuell 20 % der Befragten ihren Alkoholkonsum in der vergangenen Woche erhöht haben, bei knapp 70 % ist er gleichgeblieben. Die meisten Befragten (rund 61 %) trinken mit Personen aus dem eigenen Haushalt. Ein Drittel trinkt auch mal alleine. Besonders Jüngere trinken mehr als sonst und haben dafür neue Trinkformen entwickelt, etwa Trinkspiele oder gemeinsames Anstoßen im Videochat.
Zur Entwicklung des Cannabiskonsums in Deutschland liegen bisher noch keine Erkenntnisse vor. In den USA und Kanada, wo Cannabis legal ist, wird über eine Zunahme des Konsums berichtet. In Erinnerung sind auch die Bilder der langen Schlangen vor den Coffee-Shops, als in den Niederlanden die Schließung der Geschäfte bevorstand.
Sind Menschen derzeit besonders suchtgefährdet? Und wenn ja, wo liegen aus Ihrer Sicht die Gründe dafür?
Ernst: Die Corona-Krise ist für uns alle eine Ausnahmesituation, die gewohnte und vertraute Alltagsabläufe von heute auf morgen komplett verändert hat. Sie bedroht alle wichtigen Aspekte des Lebens gleichzeitig: das soziale Miteinander, die körperliche Gesundheit und das psychische Wohlbefinden.
In Zeiten persönlicher und gesellschaftlicher Krisen können Alkohol, Cannabis und andere psychoaktive Substanzen ein Bewältigungsversuch sein, der Ängste und negative Gefühle scheinbar in Schach hält, die derzeit sicherlich bei vielen verstärkt aufkommen. Mit dem Substanzkonsum scheint die Situation erst einmal erträglicher zu werden. Gleichzeitig entfallen bei einigen momentan gute Gründe, nicht zu trinken oder zu kiffen. Zum Beispiel, dass die Arbeit oder die vorgegebene Tagesstruktur Konzentration, Leistungsfähigkeit und Nüchternheit fordert. Oder dass im Homeoffice die „soziale Kontrolle“ durch Kollegen und Freunde fehlt. Bei einigen Menschen kann etwa auch das Risiko bestehen, dass die Kombination von sozialem Stress, Ängsten und Drogenkonsum zu häuslicher Gewalt führt, besonders verstärkt durch enge Wohnverhältnisse und Überforderung durch fehlende Kinderbetreuung.
Registrieren Sie in Frankfurt einen erhöhten oder eher einen sinkenden Beratungsbedarf?
Ernst: Das ist von Einrichtung zu Einrichtung der Suchtberatung sehr unterschiedlich. Viele Menschen wissen oder erwarten es vielleicht nicht, dass die Drogen- und Suchtberatungsstellen in vollem Umfang geöffnet sind und nach wie vor als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Deshalb gab es bisher in den meisten Einrichtungen auch weniger Neuanfragen, während der Kontakt mit Menschen, die sie schon vor Corona beraten haben, ganz normal oder sogar intensiviert weiterläuft, während der Kontaktbeschränkungen allerdings oft nur per Telefon. Besonders bei Jugendlichen ging die Zahl der Neuanfragen in den meisten Einrichtungen zurück. In den letzten beiden Wochen haben die Anfragen von Jugendlichen aber wieder zugenommen.
Mit welchen Fragen wenden sich die Menschen derzeit an die Beratungsstellen?
Ernst: Bei den schon bestehenden Kontakten sind die Themen gleichgeblieben: riskanter Konsum und Abhängigkeit. Die meisten Ratsuchenden kommen wegen Opiatabhängigkeit in die Beratungsstellen, an zweiter Stelle steht der Alkohol und an dritter Stelle Cannabis. Spezielle Themen sind aktuell Jobverlust, Einschränkung sozialer Kontakte und häusliche Gewalt. Es handelt sich zurzeit aber häufiger um Kriseninterventionen und unstrukturierte Betreuung, das heißt häufigere, aber dafür kürzere telefonische Kontakte.
Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass das aktuelle Suchtverhalten von Dauer sein wird, oder handelt es sich um eine vorübergehende Veränderung?
Ernst: Das kann man aktuell nicht beurteilen. Schon vor der Corona-Krise haben viele Menschen in Deutschland zu viel Alkohol getrunken oder riskant Cannabis konsumiert. Nach den Zahlen des Epidemiologischen Suchtsurvey 2018 trinken 12,6 % der Erwachsenen in Deutschland Alkohol in riskantem Ausmaß. Der gewohnheitsmäßige, zu hohe Alkoholkonsum setzt sich bis ins Alter fort: 15 % der über 60- bis 64-Jährigen trinken laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen riskant viel Alkohol. Mit Blick auf jüngere Menschen konsumieren nach der Frankfurter Mosyd-Studie 2018 insgesamt 8 % der Frankfurter Schülerinnen und Schüler riskant oder intensiv Cannabis. Für diese Menschen ist die Corona-Krise eine besondere Herausforderung, da sich Suchttendenzen bei Menschen, die ihre Gefühle und Probleme auch vorher schon mit psychoaktiven Substanzen betäubt haben, vermutlich verstärken werden.
Welche Hilfen können Sie Menschen bieten, die in dieser Situation ein Alkohol- oder Drogenproblem entwickeln oder verstärken und dies beheben möchten, bevor es ihr Leben nachhaltig beeinträchtigt?
Ernst: Die Frankfurter Sucht- und Drogenberatungsstellen sind auch in Zeiten von Corona zu den üblichen Öffnungszeiten erreichbar. Menschen, die sich Sorgen über Ihren Alkohol- oder Drogenkonsum machen, können sich telefonisch oder per E-Mail beraten lassen. Besonders möchten wir Angehörige und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien sowie alle anderen Hilfesuchenden ermutigen, sich ohne Scheu mit ihren Anliegen an die Sucht- und Drogenberatungsstellen zu wenden. Gerade für diese Zielgruppen stehen kompetente Ansprechpartner bereit. Die Beratungsgespräche sind kostenlos und vertraulich. Die Berater unterliegen der Schweigepflicht und beraten auf Wunsch auch anonym.
Wie wirkt sich die Corona-Krise auf die tägliche Arbeit des Drogenreferats aus, das normalerweise eher beratend und administrativ im Hintergrund tätig ist?
Ernst: Als städtisches Amt ist das Drogenreferat direkt dem Gesundheitsdezernenten unterstellt. Zu unseren Aufgaben gehört die Erhebung von Bedarfen, die Entwicklung und Umsetzung von neuen Maßnahmen in Kooperation mit den Trägern der Drogenhilfe sowie die Evaluation, Koordination und Weiterentwicklung bestehender Angebote. Aktuell sind wir primär damit beschäftigt, gemeinsam mit unseren bewährten und neuen Kooperationspartnern die Überlebenshilfen für langjährig drogenabhängige Menschen zu sichern und weitere niedrigschwellige Krisenhilfen zu schaffen. Sehr wichtig ist uns auch, Menschen mit Drogenproblemen zu ermutigen, Rat zu suchen und sich unterstützen zu lassen.