Alisa Hiery, Dr. biol. hum. Sabrina Bonnet, PD Dr. rer. soc. Stephanie Bauer, PD Dr. phil. Markus Moessner, Prof. Dr. med. Rainer Thomasius, Prof. Dr. med. Christine Rummel-Kluge, Prof. Dr. phil. habil. Heike Eschenbeck, Prof. Dr. sc. hum. Hans-Joachim Salize, Prof. Dr. med. Michael Kaess, Prof. Dr. med. Katja Becker sowie das ProHEAD- Konsortium
Einleitung
Um die Ausbreitung des Coronavirus möglichst einzudämmen, herrschen zurzeit in allen Bundesländern Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen mit langsam beginnenden Lockerungen seit Mitte Mai 2020. Der Schulbetrieb wurde ab Mitte März vorübergehend eingestellt und wird seit Mai langsam, unter strengen Auflagen und mit fortbestehenden Einschränkungen wieder aufgenommen. Kindergärten und Kindertagesstätten öffneten teilweise im Juni und operieren vielerorts noch lange nicht im Regelbetrieb. Der Wegfall des regulären Schul- oder Kindergartenalltags sowie der Sport- und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche bedeutet für viele Betroffene eine emotionale Belastung. Soziale Kontakte sind aufgrund der Physical Distancing-Regeln eingeschränkt. Betreuung mit Homeschooling der Kinder und Homeoffice der Eltern stellen Familien vor Herausforderungen, die einen großen Einfluss auf das Wohlbefinden des Einzelnen sowie das familiäre Zusammenleben haben. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schien nie so schwierig wie in Zeiten der Pandemie. Nicht selten geht dies mit einer ausgeprägten familiären Belastung einher.
Nach der KiGGS-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zeigen zwischen 17 und 20 % der Kinder in Deutschland psychische Auffälligkeiten. 5 % sind behandlungsbedürftig erkrankt [1, 2]. Angststörungen kommen dabei mit einer Prävalenz von ca. 10 % im Kindes- und Jugendalter am häufigsten vor, gefolgt von Störungen des Sozialverhaltens (3–7 %), Aufmerksamkeitsdefizit-
/Hyperaktivitätsstörungen (ca. 5 %) sowie depressiven Erkrankungen (ca. 5 %). Essstörungen treten bei 0,5 bis 2 % aller Kinder und Jugendlichen auf, Tic- und Zwangsstörungen bei etwa 1 % [3]. Versorgungsforscher rechnen mit einem Anstieg von bestimmten psychischen Störungen (wie Anpassungsstörungen und Angsterkrankungen) infolge der Covid-19-Pandemie [4].
Viele psychische Störungen bedeuten deutliche Einschränkungen im Alltag und im Funktionsniveau sowie in den Beziehungen zu anderen. Infolge dessen ist der Leidensdruck von Kindern und Eltern entsprechend hoch und die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien reduziert. Auch bisher psychisch gesunde Kinder und ihre Familien erleben aktuell aufgrund der Covid-19-Krise Veränderungen, die individuelle Belastungen und Leiden zur Folge haben können.
Covid-19-Pandemie führt zu erschwerten Versorgungs- bedingungen
Aufgrund der Corona-bedingten Regelungen und Vorschriften zeigten sich für längere Zeit neben der fehlenden schulischen Betreuung und den wegfallenden Sport- und Freizeitangeboten teilweise auch Betreuungs- und Behandlungsangebote als erschwert nutzbar. Zahlreiche Jugendhilfeeinrichtungen, wie zum Beispiel Wohngruppen, Tages- oder Wochengruppen, boten vorübergehend lediglich eine Notversorgung an. Die regionale Pflichtversorgung in Kliniken und Praxen für Kinder- und Jugendpsychiatrien bestand weiterhin, jedoch aufgrund der vorgeschriebenen Hygienevorgaben unter erschwerten Bedingungen. Zur Wahrung der nötigen Abstandsregeln wurden in Praxen und Ambulanzen teilweise Präsenztermine deutlich reduziert und, wo dies medizinisch möglich war, durch Videosprechstunden oder Telefongespräche ersetzt oder zumindest ergänzt. Tageskliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie wurden vorübergehend geschlossen und nahmen seit Anfang Mai an verschiedenen hessischen Kliniken ihren Betrieb wieder auf.
Auswirkungen der Pandemie noch unklar – Gefährdung erwartet
In Zeiten, in denen der Infektionsschutz das oberste Gebot ist, stellt sich außerdem die Frage, welche Rolle der Kinderschutz spielt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist kaum abzuschätzen, welche Herausforderungen und Folgen mit individuellen Härten sich aufgrund des oben beschriebenen Physical Distancing -Gebots, insbesondere für sowohl sozial benachteiligte oder psychosozial belastete Familien als auch für Kinder und Jugendliche, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, ergeben. Familienministerin Franziska Giffey forderte kürzlich dazu auf, Kinderschutz nicht zu vernachlässigen und die Gefährdungen hier dringend ernst zu nehmen [5]. Auch die UNICEF warnte vor Risiken für Kinder durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie [6].
Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) der Bundesregierung Johannes-Wilhelm Rörig betonte, dass die Bedrohung von Kindern und Jugendlichen durch familiäre Gewalt in der aktuellen Situation sehr deutlich werde. Die Gewalt und die Hilflosigkeit seien nicht beendet, sobald die Schulen wieder den Betrieb aufnähmen. Er appellierte an alle Lehrkräfte, insbesondere im Rahmen der Aufnahme des Schulbetriebs gezielt auf Verhaltensänderungen ihrer Schülerinnen und Schüler zu achten, um Kinder zu schützen und ihnen Hilfe zu ermöglichen, wenn diese benötigt werde. Nicht zu vernachlässigen seien dabei auch diejenigen Kinder, die noch nicht schulpflichtig seien, weshalb es unerlässlich sei, dass auch andere Institutionen und Einrichtungen auf betroffene Kinder achteten. Die Bundesregierung hat aus diesem Grund die Soforthilfe-Aktion „Kein Kind alleine lassen“ ins Leben gerufen. Auf der Homepage www.kein-kind-alleine-lassen.de können Kinder und Erwachsene erfahren, wie sie Hilfe finden oder leisten können. Ärztinnen und Ärzte können sich des Weiteren an die medizinische Kinderschutzhotline wenden, um sich in konkreten Situationen fachlich beraten zu lassen. Das Universitätsklinikum Ulm unter der Leitung von Prof. Dr. Fegert bietet zudem kostenfreie E-Learning-Kurse rund um das Thema Kinderschutz an (siehe Abb. 1).
Seit Beginn der Corona-Pandemie berichten einige, aber nicht alle Beratungs-Hotlines über eine Zunahme von Hilfegesuchen. Gleichwohl sind an manchen Orten zusätzlich Telefon-Hotlines eingerichtet worden, was die Auswertung und Interpretation erschwert. Fachleute rechnen damit, dass die Zahl der Kinder, die Hilfe suchen, rapide ansteigen werde, sobald die Kontaktbeschränkungen aufgehoben und, im Falle von häuslicher Gewalt, Täter/-innen nicht mehr ganztägig mit den Kindern zu Hause seien. Ein vergleichbarer Effekt wird nach Feiertagen beschrieben [7]. Aus diesem Grund forderten Fegert und Kolleg/-innen [8] bereits im April, dass umgehend von der Politik proaktive Maßnahmen zum Kinderschutz beschlossen werden müssten, damit auf die Corona-Pandemie nicht eine soziale Pandemie folge. Die Autorinnen und Autoren fordern außerdem den Ausbau telefonischer und Online-Beratungsangebote.
Was hilft Kindern und Jugendlichen dabei, gut durch die Pandemie zu kommen?
Der Wegfall von Präsenzunterricht in Schulen, die Schließung von Kindertagesstätten/Kindergärten, Krippen- und Tagesmutterbetreuungsformen, die Mehrarbeit von Eltern in systemrelevanten Berufen, Homeoffice, die an Eltern in anderen Berufszweigen gestellten Anforderungen sowie nicht zuletzt existenzielle Sorgen derjenigen Familien, die in Folge der wirtschaftlichen Folgen der Beschränkungen um ihren Arbeitsplatz oder Einnahmen fürchten müssen – all das führt zu einer extremen Belastung für Familien. Medial leider kaum beachtet, gibt es Empfehlungen für Eltern, wie der Umgang mit den Herausforderungen der Pandemie in den Familien gut gelingen kann (siehe Abb. 2). Altersentsprechend gestaltete, sachlich gehaltene Informationen für Eltern sowie für Jugendliche und Kinder selbst, die zum einen die nötigen Maßnahmen, aber auch Bewältigungsstrategien erklären, werden hierfür insgesamt als sinnvoll erachtet [9].
Eine feste Tagesstruktur, die ausreichend Zeit für Lern- und Spieleinheiten beinhaltet und im Idealfall auch die Bewegung an der frischen Luft mit sportlichen Aktivitäten kombiniert, schafft Sicherheit und Vorhersagbarkeit, von der Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene profitieren. Der Kontakt zu Familienangehörigen und Freunden sowie weiteren Bezugspersonen der Kinder kann medial über Telefon und E-Mail, aber auch über Videoübertragungen und -konferenzen aufrechterhalten werden. Briefe oder Postkarten zu schreiben, kann Kindern und Jugendlichen auch abseits der Neuen Medien dabei helfen, Bezugspersonen mitzuteilen, wie es ihnen geht und sie mit der Pandemie umgehen.
In verschiedenen Regionen gibt es des Weiteren zum Teil sehr kreative Lösungen zur Unterstützung von Familien – mit Zusenden von Spielanregungen, Rätseln, Kochrezepten und Bastelanleitungen. Sportvereine haben teilweise auf Youtube Videos mit Bewegungsangeboten zum Nachahmen eingestellt oder bieten ihren Mitgliedern per Videokonferenz Sport zum Mitmachen im eigenen Wohnzimmer an. Je mehr Lockerungen beschlossen werden, desto mehr Freiheiten und Möglichkeiten werden sich nach und nach für Familien ergeben. Dennoch erscheint es sinnvoll, Online-Interventionen auch in der Zeit „nach Corona“ nicht zu vernachlässigen, da diese eine wirkungsvolle Ergänzung zu gängigen Behandlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten darstellen können.
Wie könn(t)en Online-Angebote helfen?
Kinder und Jugendliche, die an einer psychischen Erkrankung leiden oder psychische Auffälligkeiten zeigen, profitieren von den oben genannten Maßnahmen in der Corona-Pandemie zwar auch, benötigen jedoch auch weitere, professionelle Unterstützung. Hierbei könnten Online-Angebote helfen, sofern diese von Expertinnen und Experten evidenzbasiert erstellt und wissenschaftlich evaluiert sind und der Datenschutz durchgehend sichergestellt ist. In Deutschland gibt es bisher einige wenige Online-Versionen evidenz-basierter Therapieprogramme, wie beispielsweise das Online-Angebot des Triple P-Programms (Positive Parenting Program [10]), der ADHS-Elterntrainer (ADHS-Online-Coach [11]) oder die ADHS-KIDS App [12]. Diese bieten größtenteils psychoedukative Inhalte sowie konkrete Tipps, Strategien und Verhaltensweisen, die speziell auf die Bedürfnisse von Eltern psychisch erkrankter Kinder zugeschnitten sind. Ebenfalls enthalten ist eine professionell angeleitete Unterstützung zur Selbsthilfe. Die App-unterstützte Therapiearbeit für Kinder (AUTHARK [13]) oder das Soziale computerunterstützte Training für Kinder mit aggressivem Verhalten (ScouT [14]) stellen ebenfalls Beispiele für die gelungene Online-Umsetzung von Verhaltenstrainings im Kindes- und Jugendbereich dar. Diese sind jedoch lediglich als Ergänzung zur ambulanten therapeutischen Behandlung gedacht und können nicht eigenständig genutzt werden. Klar zu benennen ist die Tatsache, dass diese Online-Interventionen, auch wenn sie von wirksamen Therapieformen abgeleitet wurden, in der Online-Version bisher noch nicht ausreichend auf ihre Wirksamkeit hin überprüft wurden.
Insbesondere im Kindes- und Jugendalter scheint daher der Bedarf der Entwicklung und Erforschung von Online-Angeboten noch lange nicht gedeckt, obwohl Jugendliche eine einerseits für psychische Störungen besonders gefährdete Gruppe darstellen und andererseits als Zielgruppe für Online-Interventionen prädestiniert sind.
Neben Störungen, die bereits in der frühen Kindheit beginnen und sich im Laufe des Lebens weiter manifestieren (z.B. Autismus) oder sich entwicklungsbedingt zurückbilden können (z. B. Ausscheidungsstörungen oder selektiver Mutismus), treten einige Störungen altersspezifisch auf (z. B. Angststörungen oder Störungen des Sozialverhaltens) [15]. Spätestens im Jugendalter kann man oftmals den Beginn von erwachsenentypischen Störungen der Lebensspanne wie Schizophrenie, affektive Störungen oder Persönlichkeitsstörungen beobachten. Für all diese Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters gilt: Die frühe Intervention scheint mit einer günstigeren Prognose einherzugehen. Niederschwellige Angebote, die Kinder und Jugendliche zu Beginn der Erkrankung oder gegebenenfalls bereits vor der Manifestation einer solchen Erkrankung erreichen, sind daher unerlässlich.
Dazu kommt, dass Jugendliche sich seltener professionelle Hilfe suchen als Erwachsene. Jugendliche wenden sich bevorzugt an Gleichaltrige oder suchen im Internet nach Antworten, die ihnen vertrauenswürdig erscheinen. Die meisten Internetangebote sind jedoch nicht ausreichend wissenschaftlich fundiert und der Inhalt solcher Online-Angebote ist häufig wenig kontrolliert.
Das Potenzial von Online-Angeboten zur Verbesserung der psychosozialen Versorgung wird seit vielen Jahren diskutiert. In der jetzigen Situation wird ihre Bedeutung in besonderer Weise sichtbar. Die multizentrische, durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierte, schulbasierte ProHEAD-Studie (Promoting Help-seeking using E-Technology for Adolescents; siehe Abb. 3) bietet einige präventiv ausgerichtete Online-Programme an, die sich speziell mit der Förderung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen befassen.
ProHEAD – eine internetbasierte Studie zur Förderung der psychischen Gesundheit
ProHEAD, das unter der Leitung des Universitätsklinikums Heidelberg und in Kooperation mit den Standorten Leipzig, Mannheim, Hamburg, Schwäbisch Gmünd und Marburg durchgeführt wird, ist ein bundesweites Forschungsprojekt, das 12– bis 18-jährigen Schülerinnen und Schülern Online-Programme zur Förderung der psychischen Gesundheit anbietet (siehe Abb. 3). Ziel der Studie ist die Förderung der psychischen Gesundheit sowie die Verbesserung des Hilfesuchverhaltens von Kindern und Jugendlichen. Zudem bietet ProHEAD den Schülerinnen und Schülern Unterstützung bei der Suche nach professioneller Hilfe an [16, 17, 18, 19, 20].
Aktuell wurde bereits 5.200 Schüler aus über 100 Schulen im Rahmen von ProHEAD eine auf sie individuell angepasst Online-Intervention angeboten. Die Teilnahme an den jeweiligen Online-Angeboten ist im Rahmen der Studie für teilnehmende Schüler kostenlos, die Interventionen sind jederzeit für sie zugänglich. Perspektivisch soll ProHEAD in der Studienphase etwa 15.000 Jugendliche aus ganz Deutschland erreichen und stellt damit die bislang größte Studie zu E-Mental-Health-Angeboten für Kinder und Jugendliche in Deutschland dar. Gefördert wird das ProHEAD-Konsortium seit 2017 durch das BMBF. Interessierte Schulen können sich für die Teilnahme an ProHEAD bewerben, indem sie sich an ein Studienzentrum in ihrer Nähe wenden.
Ziel ist, dass Kinder und Jugendliche, die ProHEAD nutzen, lernen, wie sie ihr Wohlbefinden stärken und mit Stress besser umgehen können. Teilnehmenden, die bereits psychische Probleme haben oder bei denen ein erhöhtes Risiko vermutet wird, wird Hilfe angeboten. Sie erhalten gezielte Informationen zum Umgang mit depressiven Symptomen, problematischem Essverhalten oder riskantem Alkoholkonsum. Kinder und Jugendliche erfahren zudem, wie sie bei Problemen professionelle Ansprechpartner finden können (siehe Abb. 4).
Die ProHEAD-Interventionen können von PC, Laptop oder Smartphone aus genutzt werden und finden ausschließlich über das Internet statt. Online-Angebote wie diese bieten gerade in Zeiten der Pandemie einen entscheidenden Zugangsvorteil: Es werden Schüler/-innen in einigen der Programme deutschlandweit telefonisch, über E-Mail und Chat sowie weiteren Online-Angeboten erreicht.
Besonders in Zeiten von Physical Distancing und Homeschooling spielt das Internet eine bedeutende Rolle für die Kommunikation der Jugendlichen untereinander, aber auch für schulische Angelegenheiten sowie für die Nutzung professioneller Angebote. Online-Angebote sollten zukünftig vermehrt in den Fokus gerückt und ausgebaut werden. Gäbe es Initiativen wie ProHEAD bereits flächendeckend, könnte vielen Jugendlichen auch in der jetzigen Situation unkompliziert bedarfsgerechte Unterstützung angeboten werden.
Nutzung von ProHEAD in der Covid-19-Pandemie
Obwohl ProHEAD aufgrund der Schulschließungen im März 2020 die Rekrutierung bis heute pausieren musste, konnten viele bis dato eingeschlossene Studienteilnehmende in der Phase des Lockdowns unterstützt werden. ProHEAD registrierte unmittelbar nach den Schulschließungen eine deutliche Zunahme der Nutzung der Online-Angebote im Vergleich zu den Wochen davor. Junge Menschen mit ernsthaften psychischen Problemen nahmen häufiger an den Monitoringbefragungen teil und zeigten einen regen Austausch von Nachrichten und Chats mit professionellen Beraterinnen und Beratern. Die ProHEAD-Online-Programme, die sich mit der Prävention von Essstörungen, depressiven Symptomen und riskantem Alkoholkonsum befassen, verzeichneten ebenfalls einen kurzfristigen Anstieg in der Nutzung.
Relevanz von E-Mental-Health-Angeboten bleibt auch nach der Pandemie bestehen
Es ist davon auszugehen, dass auch nach Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen und Kontaktregelungen sowie durch die langsame Öffnung der Schulen E-Mental-Health-Angebote wie ProHEAD nicht an Bedeutung verlieren werden. Insbesondere Kinder und Jugendliche empfinden häufig Barrieren, ausgelöst durch Stigmata, Vorurteile, Scham oder Skepsis, wenn es um die Inanspruchnahme professioneller Hilfe bei psychischen Problemen geht. Häufig suchen sie Hilfe im Internet und tauschen sich dort mit anderen Betroffenen aus.
Nicht nur in Zeiten der Pandemie gewinnen digitale Kommunikation und Vernetzung für Kinder und Jugendliche, aber auch in der Gesellschaft allgemein immer mehr an Bedeutung. Ausgehend von der Bedeutung des Internets unter Jugendlichen scheinen E-Mental-Health-Angebote zur Verbesserung des Hilfesuchverhaltens bei psychischen Problemen, insbesondere für diese Altersgruppe, vielversprechend. Es bedarf aus diesem Grund einer langfristigen Finanzierung evidenzbasierter E-Mental-Health-Programme, um die entsprechende Infrastruktur weiter auszubauen und sichere, wirkungsvolle Online-Angebote flächendeckend verfügbar zu machen.
Zusammenfassung und Fazit
Die zur Verhinderung der Ausbreitung des Covid-19-Virus erlassenen Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote sowie die damit einhergehenden Schließungen von Kindergärten, Kindertagesstätten, Schulen, Nachmittagsbetreuungen und Sportstätten stellt Familien und insbesondere Kinder und Jugendliche vor besondere Herausforderungen, deren Auswirkungen zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht vollumfänglich abzuschätzen sind.
Hilfreich ist eine angemessene, sachlich-unaufgeregte und altersentsprechende Information der Kinder zum Sinn der nötigen Maßnahmen, eine feste Tagesstruktur mit Lern- und Spieleinheiten, Bewegung an der frischen Luft und sportlicher Betätigung und auch Halten von Kontakt zu Familienangehörigen (z. B. Großeltern), aber auch weiteren wichtigen Bezugspersonen und Freunden des Kindes über Kommunikationswege wie Telefon, Briefe/Postkarten, E-Mail oder Videokonferenz.
Um das Risiko für psychische Erkrankungen zu reduzieren und bei bereits vorhandenen psychischen Problemen unkompliziert Unterstützung anzubieten, können ab dem Jugendalter E-Mental-Health-Angebote eingesetzt werden. Diese sollten in Hinblick auf Inhalt, Durchführung, Evaluation und Datenschutz bestimmte Qualitätskriterien erfüllen [21]. Um niedrigschwellige Angebote zu schaffen, die Kinder und Jugendliche ansprechen, ist eine ausreichende Finanzierung solcher Initiativen und v.a. deren wissenschaftliche Evaluation dringend notwendig. Neben der Forschung zu medizinisch-internistischen Fragestellungen im Kontext der Covid-19-Pandemie sollte daher auch die Forschung zu psychischen Folgen und psychosozialen Belastungen von Kindern und Jugendlichen sowie den Möglichkeiten der Prävention und Frühintervention dringend ausgeweitet werden. Es ist schon jetzt sicher davon auszugehen, dass auch nach Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen und der Rückkehr zum (Regel-)Schulbetrieb evaluierte E-Mental-Health-Angebote und auch die Evaluation neuer Online-Angebote wie ProHEAD für Jugendliche wichtig bleiben und auch in Zukunft niedrigschwellige digitale Kommunikation und Vernetzung in allen Lebenslagen von großer Bedeutung sein werden. Gäbe es den Effektivitätsnachweis der ProHEAD-Studie bereits, hätten die Angebote schon jetzt flächendeckend eingesetzt und viele Jugendliche in dieser schwierigen Zeit begleitet und unterstützt werden können.
Es bleibt zu hoffen, dass nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Politik und die Wissenschaft Rückschlüsse aus der Pandemie ziehen und die Erforschung solcher Angebote in Zukunft weiter unterstützen. Die Förderung qualitativ hochwertiger Studien, die evidenzbasierte Interventionen und praktikable und finanzierbare Modelle für die Integration von digitalen und konventionellen Versorgungsangeboten beinhalten, scheint unumgänglich.
Ansprechpartner für die Autoren:
Alisa Hiery (Foto) – Psychologin (M. Sc.) und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der BMBF-Multicenterstudie ProHEAD an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Medizin, E-Mail: alisa.hiery@uk-gm.de
Dr. biol. hum. Sabrina Bonnett – Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin der BMBF-Multicenterstudie ProHEAD an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Heidelberg
PD Dr. rer. soc. Stephanie Bauer – Forschungsstelle für Psychotherapie Heidelberg, PI Subprojekt „Prävention von Essstörungen“
PD Dr. phil. Markus Moessner – Forschungsstelle für Psychotherapie Heidelberg, Technikentwicklung
Prof. Dr. med. Rainer Thomasius – Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Deutsches Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ), PI Subprojekt „Prävention von riskantem Alkoholkonsum“
Prof. Dr. med. Christine Rummel-Kluge –Universität Leipzig, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, PI Subprojekt „Prävention von Depression“
Prof. Dr. phil. habil. Heike Eschenbeck – Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd, Pädagogische Psychologie und Gesundheitspsychologie, PI Subprojekt „Wohlbefinden stärken“
Prof. Dr. sc. hum. Hans Joachim Salize – Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, AG Versorgungsforschung, PI Querschnittsprojekt: Kosten-Nutzen-Analyse aller Programme
Prof. Dr. med. Michael Kaess – Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg, Koordinator des ProHEAD-Forschungsverbunds, PI Subprojekt „Unterstützung bei der Suche nach professioneller Hilfe“; Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Universität Bern, Schweiz
Prof. Dr. med. Katja Becker – Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Fachbereich Medizin, Philipps-Universität Marburg; Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Marburg; Principal Investigator (PI) ProHEAD am Standort Marburg
Das ProHEAD Konsortium
Prof. Dr. rer. nat. Katja Bertsch, Prof. Dr. med. Romuald Brunner, Johannes Feldhege, Dr. phil. Christina Gallinat, PD Dr. sc. hum. Julian Koenig, Sophia Lustig, Peter Parzer, Johanna Sander (Universitätsklinikum Heidelberg), Dr. phil. Silke Diestelkamp, Anna-Lena Schulz, Kristina Wille (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf), Dr. rer. nat. Sabrina Baldofski, Dr. phil. Elisabeth Kohls, Lina-Jolien Peter, Mandy Rogalla, Sarah-Lena Klemm (Universitätsklinikum Leipzig), Vera Gillé, Dr. phil. Hanna Hofmann, Laya Lehner (Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd), Dr. phil. Elke Voss (Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim), Dr. med. Steffen Luntz (KKS Heidelberg)
Die Literaturhinweise finden Sie in der PDF-Version der aktuellen Ausgabe auf unserer Website unter https://www.laekh.de/heftarchiv/ausgabe/2020/juli-august-2020