Mittlerweile leben wir seit einigen Monaten mit dem neuen SARS-CoV-2 und haben uns in einer zum Teil neuen Realität eingerichtet. Bundestagspräsident Schäuble formulierte treffend: „Die Normalität vor dem Coronavirus wird nicht die Zukunft nach dem Virus sein.“ Zeit für ein erstes Zwischenfazit. In Deutschland herrscht große Übereinstimmung, dass wir die bisherigen Herausforderungen gut gemeistert haben. Doch auch hier gilt: Das Bessere ist der Feind des Guten.
In der Krise wurde deutlich, dass auf einmal Vieles möglich war, was vorher als unmöglich erschien. Diesen Weg müssen wir unbedingt weiter beschreiten und zwar gemeinsam, denn das war einer der wesentlichen Gründe für den bislang vergleichsweise glimpflichen Verlauf der Corona-Pandemie in Deutschland. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass es in den ersten Wochen, als die Fallzahlen zunahmen, an einigen Stellen vernehmlich geruckelt hat. Jeder kennt z. B. Fälle oder zumindest Berichte, in denen es schwierig war, vermutliche Covid-Patienten einem entsprechenden Test zuzuführen, von fehlender Schutzausrüstung ganz zu schweigen.
Nach diesen anfänglichen Schwierigkeiten gab es sehr erfreuliche Entwicklungen wie beispielsweise die in Hessen eng abgestimmte sektorenübergreifende Zusammenarbeit. Krankenhäuser und Praxen haben hier gute Lösungen entwickelt und umgesetzt. Auf Bundesebene wurde das hilfreiche DIVI-Intensivregister etabliert, auch wenn ich nicht ganz nachvollziehen kann, warum das in Hessen entwickelte und bereits entsprechend erweiterte Tool IVENA nicht genutzt wurde, zumal es auch in anderen Bundesländern sehr erfolgreich eingesetzt wird. Die Folge ist nun leider eine teilweise Doppelerfassung.
Erfreulich war auch die bis 31. Mai 2020 bestehende Möglichkeit, Patienten mit leichten Erkrankungen der Atemwege nach telefonischer Rücksprache eine Arbeitsunfähigkeit zu attestieren. Auf diese Weise wurden die Praxen entlastet und mögliche Infektionsgeschehen verhindert. Ob diese Möglichkeit – zumindest für Haus- und Kinderärzte – auch zukünftig gelten sollte, halte ich für diskussionswürdig.
Sinnvoll wäre auf jeden Fall der Einsatz einfacher Techniken, um den Aufenthalt in den Wartezimmern von Praxen möglichst kurz zu halten. Ich erinnere an die in Mittelhessen entwickelte und vom Land Hessen geförderte App „Warts-Ab“, die es Patienten ermöglicht, die Arztpraxis nach der Anmeldung wieder zu verlassen und erst kurz vor der eigentlichen Behandlung zurückzukehren. Der Probebetrieb ist für Mitte dieses Jahres geplant.
Ein anderes Beispiel ist die von der Universitätsklinik Marburg entwickelte App „Covid-Online“, die dem Klinikum bei der frühzeitigen Klärung von Corona-Verdachtsfällen hilft. Patienten klicken sich durch einen Fragebogen und erhalten Erklärungen, was als nächstes zu tun ist. Unnötige Kontakte in der Klinik können so vermieden werden. Da eine Zulassung als Medizinprodukt noch nicht vorliegt, ist der Einsatz allerdings auf die Region begrenzt.
Einen enormen Schub gab es auch für Videosprechstunden, deren Akzeptanz bei Ärzten und Patienten deutlich gestiegen ist. Auf der anderen Seite fallen und fielen zahlreiche Fachkongresse sowie Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen pandemiegeschuldet aus. Die kammereigene Akademie für ärztliche Fort- und Weiterbildung wird darauf reagieren, in dem sie zunächst begrenzt bis Ende 2020 den e-Learning-Anteil in den gültigen Kursbüchern und Curricula bei gleichzeitiger Reduzierung der Präsenzzeiten auf 40 % erhöht. Zudem werden live erfolgende Online-Seminare bzw. Webinare mit Präsenzveranstaltungen gleichgestellt.
Wir haben in den vergangenen Wochen aber auch wie unter einem Brennglas gesehen, wo es dringenden Änderungsbedarf gibt. Das betriebswirtschaftlich optimierte Krankenhaus mit laufoptimierten Wegen, aber ohne baulich abgetrennte Bereiche für infektiöse Patienten; ein Vergütungssystem, das notwendige Vorhaltekosten nicht honoriert und der zunehmende Blick auf den Share Holder Value und vor allem zu knappe Personalressourcen – das alles muss auf den Prüfstand.
Patientensicherheit, zu Recht gefordert, kann übrigens nur gewährleistet werden, wenn das versorgende Personal selbst sichere Arbeitsbedingungen vorfindet. Wer keine persönliche Schutzausrüstung hat, ist nicht nur in seiner körperlichen Gesundheit gefährdet, sondern auch psychisch stark belastet und könnte ein Second Victim (vgl. Seite 444–446) werden.
Es braucht keine hellseherischen Fähigkeiten, um weitere Reformen im Gesundheitswesen vorherzusagen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines ist sicher: nicht nur die Rente, sondern auch, dass SARS-CoV-2 uns noch lange sowohl wissenschaftlich als auch im Alltag beschäftigen wird.
Dr. med. Edgar Pinkowski, Präsident