Dr. med. Tarik Karakaya, PD Dr. med. Moritz de Greck, Dr. med. Mathias Luderer, Dr. med. Christiane Schlang, Mishal Qubad, Dr. med. Christine Reif-Leonhard, Prof. Dr. med. Andreas Reif

In den vergangenen drei Monaten hat sich das tägliche Leben durch die SARS-CoV-2 Pandemie in einer Weise verändert, die sich kaum jemand vorstellen konnte. Die Auswirkungen eines solchen Makro-Stressors, der die gesamte Bevölkerung gleichzeitig trifft, auf die psychische Gesundheit sind mannigfaltig und bislang auch nur schlecht untersucht. Im folgenden Artikel sollen übersichtsartig die unterschiedlichen Folgen der Pandemie in Hinblick auf psychische Gesundheit und psychische Erkrankungen dargestellt werden. Hier können zunächst ganz grundsätzlich vier (sich teilweise überlappende) Bereiche abgrenzt werden: die Konsequenzen der Pandemie auf die psychisch gesunde Allgemeinbevölkerung, die Auswirkungen auf Patientinnen und Patienten mit einer manifesten psychischen Erkrankung, die psychischen Folgen einer Covid-19- Erkrankung und zuletzt die Folgen für die Einrichtungen des Gesundheitssystems.

Allgemeinbevölkerung

Durch den Lockdown und die Maßnahmen der sozialen (bzw. besser: physischen [1] Distanzierung kommt es zu einer erheblichen Einschränkung vieler Dinge des täglichen Lebens, was mit einer Zunahme von Stress und subjektiv empfundener Belastung einhergeht [2]. Zahlreiche Studien, die unmittelbar nach Beginn der Pandemie durchgeführt wurden, widmeten sich diesem Thema; ein gemeinsames Problem der meisten dieser Studien ist jedoch, dass keine repräsentativen, epidemiologischen Stichproben untersucht wurden und dass es sich um einmalige und nicht längsschnittliche Untersuchungen handelt, deren Aussagekraft limitiert ist. So zeigte eine Studie der Universität Sheffield [3], die unmittelbar nach der Ankündigung des Lockdowns in Großbritannien am 23. März durchgeführt wurde, vermeintlich einen steilen Anstieg von Depression und Angst bei den ca. 2.000 mittels eines Fragebogens (PHQ) Befragten: 38 bzw. 36 % der Untersuchten würden ein „signifikantes Maß“ von Angst und Depressivität zeigen, so die Autoren.

Obwohl die Studie noch keinem Peer Review unterzogen wurde, erhielt die Pressemitteilung der Universität ein großes, auch internationales Medienecho, meist mit dem Tenor, dass der Lockdown Depressionen verursache. Allerdings rechtfertigt ein auffälliger Wert in dem verwendeten Fragebogen keinesfalls eine Depressionsdiagnose – hier müssen alltags- relevante Einschränkungen über mindestens zwei Wochen vorliegen. Auch ist eine Erhöhung der Depressions- und Angstwerte im Vergleich zu ähnlichen Untersuchungen vor der Krise zwar vorhanden, aber nicht stark ausgeprägt.

Die Natur der Stressoren ist unterschiedlich und hat deshalb auch unterschiedliche Auswirkungen. Nicht in ein Konzert oder in ein Kino gehen zu können oder keine Partys zu veranstalten, mag unschön sein, eine lebensbedrohende Situation resultiert daraus jedoch nicht. Mit solchen Widrigkeiten umzugehen, ist Teil des Lebens, und aus der Lösung der entstehenden Probleme erwachsen auch Fähigkeiten und Ressourcen. Letztlich muss man auch konstatieren, dass durch die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten, Streamingplattformen und Lieferdienste die praktischen Konsequenzen eines Lockdowns viel weniger einschneidend sind als dies noch vor 30 Jahren der Fall gewesen wäre.

Eine longitudinale Studie, die seit mehr als zwei Jahren weit über 1.000 initial gesunde, jüngere Erwachsene engmaschig hinsichtlich Stressoren und psychischer Gesundheit untersucht, wird an den Universitätsklinika Mainz und Frankfurt durchgeführt und aktuell kurzfristig hinsichtlich der Erfassungshäufigkeit intensiviert (www.lora-studie.de). Hierdurch werden Aussagen über eine tatsächliche Zunahme psychischer Belastungen, aber auch über die Resilienz der Befragten ermöglicht. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Lockdown bei psychisch gesunden Erwachsenen eher zu einer geringeren Stressorbelastung und damit einhergehend sogar zu einer Besserung des psychischen Befindens führt (in Vorbereitung).

Sehr viel belastender können die Auswirkungen der Schließungen von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen sowie Heimarbeit sein. Die Doppelbelastung einer häuslichen Kinderbetreuung, insbesondere der Beschulung, und einer Arbeitstätigkeit sowie das Verweilen der Familiengemeinschaft für längere Zeit auf engem Raum kann partnerschaftliche und familiäre Konflikte erheblichen Ausmaßes erzeugen. Substanzkonsum und häusliche Gewalt sind mögliche Konsequenzen, die man bereits jetzt beispielsweise an einer Zunahme der Inanspruchnahme von Frauenhäusern sehen kann. Hier sind, im Gegensatz zu anderen Risikofaktoren (siehe unten), präventive Ansätze möglich und sinnvoll: das Suchen von Sozialkontakten außerhalb der Wohngemeinschaft im Einzelsetting oder via digitale Medien oder die Separierung innerhalb der Wohnung mit Vereinbarung von „persönlichen Zeiten“. Die Handlungskontrolle über Änderbares zu behalten bei gleichzeitiger Gelassenheit gegenüber unabänderlichen Dingen, ist eine in dieser Situation sinnvolle Geisteshaltung; auch die übertriebene (mediale) Beschäftigung mit der Pandemie sollte unterlassen werden.

Nicht zuletzt haben momentan viele Bundesbürger ganz existenzielle Sorgen aufgrund von Lohneinbußen, Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit und, insbesondere in den hoch betroffenen Regionen, durch das Versterben naher Angehöriger an Covid-19. Dies ist keine einmalige Situation in der Corona-Krise, aber das Risiko ist plötzlich bei einer großen Zahl von Menschen sehr groß im Gegensatz zu einer eher diffusen, geringen Gefahr für die meisten von uns zu normalen Zeiten. Solche existenzbedrohenden Lebensänderungen, insbesondere in Zusammenhang mit zugespitzten häuslichen Gegebenheiten (siehe oben), stellen gut bekannte und definierte Risikofaktoren für stressbedingte Erkrankungen wie beispielsweise Depressionen dar. Dennoch sind diese so gut wie nie monokausal, bei vielen Betroffenen kommt es auf dem Boden einer genetisch-biologischen Vulnerabilität in Interaktion mit externen Risikofaktoren (wie den geschilderten) und gering ausgeprägten Kompensationsmechanismen zur Erkrankung. Aktuell kann noch nicht abgeschätzt werden, ob die Pandemie in Deutschland tatsächlich zu einer Zunahme der Prävalenz psychischer Erkrankungen führen wird; die Gefahr einer Zunahme psychischer Erkrankungen aufgrund der Zunahme der geschilderten Umwelt-Risikofaktoren wird jedoch überwiegend als erheblich eingeschätzt [4].

Manifest psychisch erkrankte Patienten

Depression und Suizidalität

Die Situation bei manifest psychisch schwer erkrankten Menschen kann deutlich anders aussehen [5]. Insbesondere Depressionen haben als Leitsymptom sozialen Rückzug, Interesseverlust und Antriebslosigkeit. Vor diesem Hintergrund kommt es durch die Maßnahmen der Distanzierung zu einer Zunahme des Verlusts der sozialen Kontakte. Ein weiteres Kernmerkmal der Depression sind negative Kognitionen insbesondere im Hinblick auf sich selbst sowie die Zukunft. Die krisenbedingt negativen (medialen) Botschaften werden noch deutlich pessimistischer interpretiert als von gesunden Personen, was zu einer zunehmend negativen Weltsicht und damit einer Verstärkung der Depression führt (siehe Fallvignette 1).

Fallvignette 1

50-jähriger Patient mit bekannter rezidivierender Depression: Der Patient berichtet, dass er sich durch die derzeitigen Einschränkungen im Zuge der Corona-Krise stark belastet fühle. Zu Beginn der Pandemie habe er große Ängste gehabt, an Covid-19 zu versterben, die Medien hätten das so dargestellt. Er habe befürchtet, dass er im Falle einer Erkrankung keinen Beatmungsplatz bekommen würde. Er habe zunehmend Schlafstörungen gehabt, nur ein bis zwei Stunden geschlafen und viel gegrübelt. Er habe sich „wie gelähmt gefühlt“ und zu alltäglichen Verrichtungen (wie Körperpflege u. a.) sehr viel Zeit benötigt. Des Weiteren fühle es sich an, als habe er „Honig im Kopf“. So falle es ihm schwer, Entscheidungen zu treffen und sich an Vergangenes zu erinnern. Er gab an, dass seine Situation sehr schlecht sei und er nicht mehr weiter wisse. Aus diesem Grund habe er schließlich viele Tabletten Quetiapin eingenommen, um nicht mehr aufzuwachen. Es erfolgte die stationäre Aufnahme über die zentrale Notaufnahme.

Parallel dazu bestehen im psychiatrischen Versorgungssystem aktuell Engpässe, und auch die extrinsische Motivation, therapeutische Hilfe aufzusuchen, wird durch die Distanzierungsmaßnahmen reduziert. Dies bedeutet eine Verstärkung insbesondere affektiver Erkrankungen bei gleichzeitig reduzierter Inanspruchnahme des Versorgungssystems, wodurch sich der Verlauf dieser Erkrankungen deutlich verschlechtern könnte. Aufgrund der noch relativ kurzen Zeit seit Beginn der Krise stehen empirische, epidemiologische Daten jedoch noch aus.

Die Verschlechterung depressiver Erkrankungen, die reduzierte Inanspruchnahme der psychiatrischen Versorgung und eine Zunahme teils existenzieller psychosozialer Risiken (wie oben dargestellt) birgt die große Gefahr einer Zunahme suizidaler Handlungen. Auch hier ist die Zeitspanne noch zu kurz, als dass man dies empirisch belegen könnte; klinisch wurden jedoch bereits Fälle mit einer entsprechenden Risikokonstellation vorgestellt (Fallvignette 2).

Fallvignette 2

Eine 82-jährige Patientin wird über die zentrale Notaufnahme zur stationär-psychiatrischen Weiterbehandlung aufgenommen. Am Abend vor der Aufnahme habe die Patientin entschieden, dass es sich nicht mehr zu leben lohne und daher 1200 mg Pipamperon eingenommen. Die Patientin berichtet, dass es ihr bereits seit einiger Zeit trotz angepasster Medikation zunehmend schlechter gehe. Sie sei nur noch niedergeschlagen, habe keinen Antrieb, wenig Appetit, sei permanent unruhig und freudlos.

Besonders belastend seien Ängste, wegen derer sie z. B. nachts wenig schlafe. Diese beständen darin, dass ihrem Sohn oder ihrer Schwester etwas passieren könnte. Sie würde beispielsweise vom Gedanken gequält werden, ihr Sohn könnte an einer Lungenerkrankung leiden. Sie fühle sich nur noch hilflos, einsam und hoffnungslos. Durch die zunehmende Isolation im Rahmen der geforderten Einschränkungen aufgrund der Pandemie sei sie nun noch einsamer, da ihr weitere Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme fehlten. Sie sei schon vorher aufgrund ihres Alters und der damit verbundenen körperlichen Beschwerden im Alltag eingeschränkt gewesen, aber jetzt könne sie aufgrund der derzeitigen Situation nichts mehr unternehmen. Ihren Sohn sehe sie eigentlich nicht mehr und könne nur mit ihm telefonieren. Ansonsten sei sie nur noch zu Hause. Der gescheiterte Suizidversuch belaste sie, denn das Leben sei nicht mehr lebenswert.

Insbesondere in den USA, wo es im Gegensatz zu fast allen anderen Industrienationen bereits zu einem deutlichen Anstieg der Suizidrate kam, wurde das Zusammentreffen dieser Basisraten-Zunahme und der Corona-Krise (insbesondere deren ökonomische Auswirkungen) als „perfekter Sturm“ beschrieben [6]. Obgleich die Situation aus vielerlei Gründen in Deutschland weniger dramatisch – mit einer in den vergangenen Jahren relativ konstanten Suizidrate von ca. 9,2 Suiziden pro 100.000 Einwohner pro Jahr – ist, droht auch hier die Zunahme von suizidalen Handlungen in Folge der Krise. Dies sollte durch suizidpräventive Maßnahmen proaktiv verhindert werden. Niedrigschwelliger Zugang zum Hilfesystem, sich direkt an Betroffene wendende Kampagnen mit dem Angebot der Hilfevermittlung und direkte Kontaktaufnahme zu Risikogruppen sind angezeigte Maßnahmen. In Frankfurt am Main wird dies beispielsweise durch das Frankfurter Netzwerk zur Suizidprävention (FRANS) [7] zusammen mit dem Begleitprojekt FraPPE [8] geleistet (Notfall-Hotline: 069/63013113), vgl. auch HÄBL 06/2020, S. 331.

Durch die krankheitsbedingten negativen kognitiven Verzerrungen sind Menschen, die an Depressionen oder einer Angststörung leiden, besonders anfällig dafür, bei Angehörigen oder sich selbst eine Erkrankung an Covid-19 zu fürchten. Aber auch in der Allgemeinbevölkerung – insbesondere bei älteren Menschen – ist zu beobachten, dass das Gesundheitswesen sowohl bei psychischen als auch bei behandlungsbedürftigen somatischen Erkrankungen weniger in Anspruch genommen wird. So gibt es anekdotische Berichte aus dem internistischen und neurologischen Fachgebiet von geringeren Fallzahlen von Herzinfarkten oder Schlaganfällen. Da dies kaum auf dem Boden einer geringeren Prävalenz geschehen dürfte, sondern eher deswegen, weil Menschen mit milderen Symptomen aus Angst vor einer Ansteckung dem Krankenhaus fernbleiben, ist zu befürchten, dass im Lauf des Jahres zahlreiche Patientinnen und Patienten mit Rezidiven bzw. schwereren Verläufen in Behandlung kommen werden.

Fallvignette 3

Eine 27-Jährige stellt sich in der Karwoche bei zunehmendem depressiven Syndrom mit drängenden Suizidgedanken vor. Depressive Episoden seien bereits bekannt, aber derzeit erfolge weder eine Pharmako- noch Psychotherapie. Sie bemerke seit einigen Wochen eine Zunahme des depressiven Syndroms, u .a. einhergehend mit Ängsten, Überforderung, Antriebsminderung, niedergeschlagener Stimmung, Hoffnungslosigkeit, Insuffizienzerleben und wiederholt auftretenden Suizidgedanken sowie selbstverletzendem Verhalten.

Eine Woche vor der Vorstellung habe sie in suizidaler Absicht diverse Tabletten eingenommen. Eine stationär-psychiatrische Weiterbehandlung sei nach der Überwachung in der Notaufnahme nicht erfolgt. Aktuell sei es schwierig, sich in ambulante Behandlung zu begeben. Durch die Kontaktverbote seien nun auch die Möglichkeiten sich abzulenken weggefallen. Es habe sie schon vorher Kraft gekostet, Freunde zu treffen; nun sei dies noch schwieriger. Anfangs habe sie sich zumindest durch das Homeoffice ablenken können. Allerdings würde dies über die Feiertage wegfallen, sie sei auf sich allein gestellt und isoliert. Dies habe erneut zu zunehmenden Suizidgedanken geführt und sie traue sich selbst nicht mehr.

Persönlichkeitsstörungen

Siehe Fallvignette 4: Diese zeigt exemplarisch, dass auch an einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ Erkrankte erheblich unter den Folgen der Pandemie leiden können. Zum einen reagieren sie aufgrund ihrer emotionalen Instabilität sensibler auf die mit der Krise verbundenen Belastungen und Bedrohungen, zum anderen sind viele funktionale Stabilisierungsmöglichkeiten durch den Lockdown erschwert oder unmöglich und es kommt zu einem Abbruch therapeutischer Beziehungen. Hierdurch kommt es zu einer Zunahme von dysfunktionalen Stabilisierungsstrategien wie Dissoziation, selbstverletzendem Verhalten, Drogenkonsum oder ähnlichem. Diese Verhaltensweisen wirken zwar kurzfristig beruhigend und stabilisierend, sind langfristig aber schädlich. Mit längerer Dauer des Lockdowns werden entsprechende Symptomkomplexe wahrscheinlich häufiger zu sehen sein.

Fallvignette 4

Die 18-jährige Patientin war bis März 2020 aufgrund einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ mit im Vordergrund stehendem selbstverletzenden Verhalten in stationärer Behandlung gewesen. Aufgrund der Pandemie-bedingten Reduktion elektiver stationärer Behandlungsangebote hatte eine vorzeitige Entlassung der Patientin stattfinden müssen.

Die Patientin war zu diesem Zeitpunkt ausreichend stabilisiert, eine ambulante psychotherapeutische Weiterbehandlung bestand jedoch noch nicht. Drei Wochen nach Entlassung kontaktierte die Mutter der Patientin die Institutsambulanz der Klinik und bat um Unterstützung. Der Patientin gehe es zunehmend schlechter. Sie konsumiere zunehmend Cannabis und verlasse kaum noch das Haus.

Über eine Videosprechstunden-Software wurden zunächst regelmäßige Kontakte mit der Patientin initiiert, mit dem Ziel, eine Stabilisierung im ambulanten Rahmen zu erreichen. Neben zunehmenden Cannabismissbrauch beschrieb die Patientin auch eine Zunahme von dissoziativen Symptomen sowie immer häufiger werdenden Selbstverletzungen in Form von oberflächlichen Ritzverletzungen der Haut sowie zunehmende Suizidgedanken. Es gelinge in der aktuellen Situation nur schwer, eine ambulante Psychotherapie zu organisieren. Da keine ausreichende Stabilisierung im ambulanten Setting zu erzielen war, erfolgte die erneute stationäre Aufnahme.

Suchterkrankungen

Unabhängig von der Pandemie ist die größte Versorgungslücke in der Psychiatrie bei Menschen mit Suchterkrankungen zu finden. Durch die Einschränkungen bei den ambulanten, stationären und teilstationären Behandlungen wird dieses Problem nochmals verschärft. Neben kaum noch vorhandenen elektiven Krankenhausaufnahmen sind zurzeit auch deutlich weniger komplementäre ambulante Hilfsangebote verfügbar: Selbsthilfegruppen und Gruppentherapien finden nicht oder nur sehr reduziert statt, die ambulante Einzeltherapie in den Suchtberatungsstellen ist meist auf Telefon oder Telemedizin umgestellt, was nicht von allen Patienten genutzt werden kann. Problematisch ist dabei, dass Alkoholabhängige eine hohe Rate an psychischer und somatischer Komorbidität und eine deutlich erhöhte Suizidrate aufweisen.

Die Reduktion in der Versorgung von Suchtpatienten könnte daher nach einer kurzfristigen Entlastung nicht nur zu Kollateralschäden bei den Suchtpatientinnen und -patienten und in deren Umfeld führen, sondern im Verlauf auch eine deutliche Mehrbelastung für das gesamte Gesundheitssystem mit sich bringen. Fachgesellschaften und Verbände der Suchtkrankenbehandlung betonen daher, dass bei einem „Zusammenbruch der Suchtkrankenversorgung (…) eine zusätzliche Belastung des akutmedizinischen somatischen und psychiatrischen Versorgungssystems“ droht.

Konsumentinnen und Konsumenten harter Drogen, insbesondere auch i. v., sind derzeit besonders gefährdet. Viele leiden an Folgeerkrankungen wie beispielsweise AIDS, die dann – gemeinsam mit der Immunsuppression durch den Konsum selbst oder durch die prekäre Lebens- und Wohnsituation – das Risiko für eine schwer verlaufende Infektion mit SARS-CoV-2 erhöhen.

Es wird befürchtet, dass die derzeitigen Restriktionen gesamtgesellschaftlich oder bei Risikogruppen zu einem Anstieg des Alkoholkonsums führen, um Stress und Konflikte zu bewältigen, und dass in der Folge Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit häufiger werden [9]. So führten soziale Isolation und insbesondere Quarantäne während der SARS-Epidemie 2003 bei medizinischem Personal zu einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit [10].

Für Deutschland gibt es Hinweise darauf, dass im März 2020 mehr Alkoholika gekauft wurden als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Ob der Konsum, der sonst außerhalb der eigenen vier Wände erfolgt, einfach nur verlagert wird oder ob der Konsum insgesamt angestiegen ist, wird sich erst im Verlauf zeigen. Die WHO (bzw. deren europäisches Regionalbüro) veröffentlichte eine dringende Empfehlung, während der Pandemie nicht vermehrt Alkohol zu trinken. In einem Fact Sheet wird u. a. davor gewarnt, dass Alkoholkonsum die Impulsivität erhöht, wodurch das Risiko für häusliche Gewalt nochmals erhöht wird und Regeln zur physischen Distanzierung nicht mehr so gut eingehalten werden können. Alkoholkonsum – sowohl allein als auch in Kombination mit Tabakkonsum – beeinflusst auch das Immunsystem negativ.

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung gab bereits am 31. März 2020 bekannt, dass die Suchtrehabilitation weiter bestehen bleiben soll. Ein Nadelöhr ist dabei jedoch, dass es kaum Möglichkeiten zur elektiven Entgiftung vor Antritt einer Rehabilitation gibt. Um die Bemühungen der Drogenbeauftragten (und vieler anderer) nicht zu konterkarieren, ist es daher notwendig, dass Patientinnen und Patienten mit Kostenzusage und Aufnahmetermin für die Sucht-rehabilitation elektiv zur Entgiftung aufgenommen und anschließend nahtlos in die Rehabilitation verlegt werden können.

Covid-19-Erkrankung: Neuropsychiatrische und psychosoziale Folgen

Nach bisheriger Erkenntnislage präsentiert sich eine Covid-19-Erkrankung hauptsächlich mit Symptomen eines grippalen Infekts wie Husten, Gliederschmerzen, Atemprobleme, Fieber und ähnliches [11]. Neuropsychiatrische Symptome geraten jedoch zunehmend in den Fokus. So können Erkrankte anstatt typischer Atemwegssymptome primär auch neuropsychiatrische Symptome wie Schwindel, Kopfschmerzen, Gangstörung, Dysphorie, Bewusstseinsstörungen bis hin zu deliranten Syndromen und epileptischen Anfälle als Hauptmerkmale der Erkrankung entwickeln, die durch direkte neurologische Beteiligung und/oder neuroimmunologische Prozesse erklärbar sind [12, 13].

Die Betroffenen können aber auch reaktive Beschwerden mit ängstlich-depressiven Symptomen entwickeln; die Angst vor Invalidität und bleibenden Schäden kristallisiert sich dabei als führendes Merkmal heraus. Psychiatrisch Vorerkrankte können durch eine zusätzliche Covid-19-Erkrankung eine Exazerbation ihrer Grunderkrankung erleben. So können Behandlungs-, Isolations- und Schutzmaßnahmen zur wahnhaften Verarbeitung führen, Verschwörungstheorien und daraus abgeleitet Suizidhandlungen als vermeintlicher Schutzmechanismus resultieren.

Ältere Betroffene (und hier besonders Patientinnen und Patienten mit einer demenziellen Erkrankung), die unter anderem in Pflegeheimen leben, leiden neben der Covid-19-Erkrankung und den damit verbundenen somatischen Risiken auch an der sozialen Isolation durch den eingeschränkten Kontakt zum sozialen Umfeld, insbesondere zu den Angehörigen. Angehörige, die bisher einen Teil der psychosozialen Sorge übernommen haben, sind nun mit Kontakteinschränkungen konfrontiert, die die Belastung für sie selbst, aber auch für die Betroffenen massiv erhöhen. Der limitierte Zugang der Älteren zu Informationen, aber auch das abnehmende Urteils- und Kritikvermögen führen zu einer weiteren Verschlechterung des psychischen Zustandes [14]. Generell hat Quarantäne negative psychische Konsequenzen von Schlaflosigkeit und Konzentrationsstörungen bis hin zu posttraumatischer Belastungsstörung [15], so dass ältere Menschen nur wenn unbedingt notwendig und so kurz wie möglich isoliert werden sollten.

Im Rahmen der Behandlung einer Covid-19-Infektion können nicht zuletzt pharmakotherapeutische Behandlungsversuche akut-psychotische Verwirrtheitszustände und depressive Symptome induzieren [16], so dass hier niederschwellig fachpsychiatrische Unterstützung und Therapiebegleitung erfolgen sollten.

Einrichtungen des Gesundheitssystems

Für die psychiatrische Versorgung hat die Pandemie erhebliche Folgen. Im ambulanten Bereich wurde sehr schnell der tatsächliche Patientenkontakt unter der Maßgabe des Infektionsschutzes deutlich reduziert – mit entsprechend vermindertem Angebot an Versorgungsleistungen bei gleichbleibendem, wenn nicht gestiegenem Bedarf. Zahlreiche ambulant tätige Psychiater und Psychotherapeuten sowie Ambulanzen stellten daher zügig auf telemedizinische Angebote um, die in der „sprechenden Medizin“ vergleichsweise einfacher zu implementieren sind als in anderen medizinischen Bereichen.

Initial bestehende Unsicherheiten im Hinblick auf die Abrechnungsmöglichkeiten konnten erfreulicherweise zeitnah durch entsprechende Änderungen der Vereinbarungen zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern geklärt werden – insbesondere die Möglichkeit, auch Ersttermine mittels Videotelefonie abzuhalten, ist hier wichtig. Durch die weitgehende Umstellung auf telemedizinische Verfahren kann der tatsächlich notwendige persönliche Kontakt (bspw. für Blutentnahmen) auf ein gut handhabbares Maß reduziert werden. Es bleibt zu hoffen, dass die eingeführten Änderungen auch nach Abklingen der Krise noch Bestand haben werden, da sie unter anderem im strukturschwachen Raum oder bei bestimmten Patientengruppen ganz grundsätzlich sinnvoll und hilfreich sind, auch wenn der persönliche Kontakt gerade im psychiatrischen Fachgebiet nach wie vor anzustreben ist.

Die stationär-psychiatrische Versorgungslandschaft änderte sich durch die SARS- CoV-2-Pandemie erheblich. Es kam in vielen, wenn nicht sogar den meisten psychiatrischen Kliniken bzw. Abteilungen zu einer Reduktion von Betten aufgrund mehrerer Gründe:

  1. Schaffung von Platzbedarf für „somatische“ Betten, um Isoliermöglichkeiten für Covid-19-Patienten zur Verfügung zu stellen;
  2. Reduktion der Bettenzahl pro Zimmer auf Einzel- oder Doppelzimmer, um die Infektionsmöglichkeiten unter den Patientinnen und Patienten zu reduzieren;
  3. Vermehrtes Angebot an Einzelzimmern zur prophylaktischen Isolierung;
  4. Räumung von Stationen, um Isolier- stationen für Patienten zu schaffen, die primär schwer psychiatrisch erkrankt sind bei gleichzeitiger Infektion mit SARS-CoV-2.

Zum Zeitpunkt des Verfassens des Artikels (Ende April 2020) gab es glücklicherweise nur wenige solcher Fälle in Hessen – meistens keine bis maximal drei Patienten pro Klinik. Die Reduktion der Bettenzahlen führt aktuell noch nicht zu einer relevanten Überbelegung der vorhandenen Betten, da zum einen elektive Aufnahmen verschoben werden, zum anderen (wie auch in den somatischen Fächern) sich viele Patientinnen und Patienten aus Angst vor einer Infektion nicht in stationäre Behandlung begeben.

Schwer kompensierbar ist die großflächige Schließung von Tageskliniken, die ein wichtiges Instrument insbesondere zur Wiedereingliederung schwer Erkrankter sind. Die Maßgaben des Infektionsschutzes betreffen stationär-psychiatrische Patientinnen und Patienten – deren durchschnittliche Aufenthaltsdauer mit ca. 25 Tagen deutlich länger ist als in somatischen Fächern – besonders stark: das Empfangen von Besuch ist überwiegend untersagt, insbesondere auf gerontopsychiatrischen Stationen; Ausgänge sind deutlich reduziert, wenn nicht sogar komplett untersagt; viele gruppentherapeutische Verfahren können nur schwer durchgeführt werden, um nur einige zu nennen.

Auch fällt es vulnerablen Gruppen (demenzielle Erkrankungen, akute Psychosen oder Manien) schwer, die Regeln des prophylaktischen Infektionsschutzes einzuhalten. Die Fachgesellschaft DGPPN hat hier sehr frühzeitig Orientierungshilfen für ihre Mitglieder formuliert (www.dgppn.de). Ein weiteres, teilweise gravierendes Problem sind die fehlenden Verlegungsmöglichkeiten aufgrund von Aufnahmestopps in Reha-Kliniken (besonders bei Suchtkranken) und in Alten- und Pflegeheimen. Insgesamt muss man feststellen, dass die momentane stationär-psychiatrische Versorgung vor erheblichen Herausforderungen steht.

In diesem Kontext ist auch noch relevant, dass es in einigen Bundesländern (z. B. Sachsen oder Berlin) Überlegungen gab, psychisch gesunde Quarantäneverweigerer nach Infektionsschutzgesetz in psychiatrischen Kliniken unterzubringen. Aus Sicht der Verfasser wie auch der Fachgesellschaft DGPPN ist dies abzulehnen: Weder sind Kliniken und deren Personal hierfür fachlich und organisatorisch geeignet, noch sollte – auf dem Boden der Geschichte unseres Faches im sog. Dritten Reich sowie der DDR – Psychiatrie dazu missbraucht werden, unliebsame Verhaltensweisen zu sanktionieren. Die Aufgabe psychiatrischer Kliniken ist einzig und allein die Behandlung psychisch kranker Menschen.

Im Gegensatz zu den primär psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungsbereichen muss im Gesundheitssektor auch an die Beschäftigten in den Covid-19-Bereichen gedacht werden. Hier ist zum einen die physische Belastung durch die persönliche Schutzausrüstung zu bedenken, vor allem aber die psychische Belastung. Dies umfasst die Angst vor einer eigenen Infektion und Erkrankung an Covid-19, die Versorgung von (zu) vielen Patienten mit entsprechendem Arbeitsanfall, die Traumatisierung durch strukturelle Unterversorgung und die Erfahrung, Menschen sterben zu sehen, die man bei entsprechenden Ressourcen hätte heilen können sowie die extreme Belastung durch die Notwendigkeit der Triagierung. Erfahrungsberichte bspw. aus Spanien [17] zeigen in bedrückender Weise, welche psychosozialen Folgen dies für die im Gesundheitssystem Tätigen haben kann. Durch die frühzeitigen und weitreichenden Maßnahmen bei einem gleichzeitig sehr leistungsfähigen Gesundheitssystem sind solche Zustände in Deutschland bislang noch nicht aufgetreten; dennoch sollten die Erfahrungen aus anderen Ländern eine Mahnung sein, es auch unter diesem Aspekt keinesfalls dazu kommen zu lassen, das Gesundheitssystem zu überlasten.

Durch die genannten Veränderungen in der ambulanten und stationären Betreuungslage wird das psychiatrische Versorgungsystem daher vor große Herausforderungen gestellt. Hilfsangebote für Angehörige und Betroffene müssen vorgehalten werden, psychiatrische Überlegungen und Angebote in der Behandlung der Covid-19-Erkrankung berücksichtigt werden und es bedarf in den kommenden Monaten ausreichender Ressourcen, um mit dieser Situation umzugehen.

Psychosoziale Hilfsangebote

Parallel zum Aufbau der Intensivversorgungstrukturen wurden an vielen Kliniken (so auch am Universitätsklinikum Frankfurt) interdisziplinäre Kriseninterventionsteams geschaffen, die sich um psychisch belastete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie um betroffene Angehörige kümmern. Den Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) entsprechend werden neben Beschäftigten der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Psychoonkologie, der Gesundheitsfürsorge, des Sozialdienstes und der Klinikseelsorge involviert sowie Krisentelefone und eine Krisen-E-Mail-Adresse eingerichtet. Die Angebote werden momentan noch vergleichsweise selten von den Beschäftigten in Anspruch genommen. Ähnliche Erfahrungen sind auch aus anderen Kliniken bekannt [18], so dass im Verlauf aktiver auf die betroffenen Teams zugegangen werden muss, um das Angebot so niedrigschwellig wie möglich zu halten. Auch hier ergeben sich in der Fläche aber noch keine Hinweise auf gesundheitlich relevante Belastungen bei den Beschäftigten. Dies liegt wahrscheinlich vor allem daran, dass die zeitnah geschaffenen Intensivversorgungskapazitäten der Level-1-Kliniken bislang nicht an ihre Grenzen kommen; schwierige Triagierungsentscheidungen müssen daher nicht stattfinden. Auch bestand zu keinem Zeitpunkt eine Unterversorgung mit wichtiger Schutzausrüstung, was die Sorgen des Personals vor eigener Ansteckung reduziert.

Zusammenfassung

Insgesamt hat die Pandemie komplexe Auswirkungen sowohl auf die Allgemeinbevölkerung als auch auf manifest psychisch Erkrankte, vulnerable Gruppen und verschiedene Einrichtungen des Gesundheitssystems. Während bei nicht-prädisponierten, psychisch gesunden Menschen in aller Regel genügend Ressourcen und Copingfähigkeiten vorhanden sind, um mit den Auswirkungen der Pandemie gut umzugehen, stellt die Belastung durch den Lockdown für psychisch Kranke – insbesondere für an demenziellen Erkrankungen, Suchterkrankungen und Depressionen Leidende – einen erheblichen Risikofaktor für eine Verschlechterung oder Chronifizierung dar.

Auch die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sind mittel- und langfristig Risikofaktoren für eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit. Das psychiatrische Versorgungssystem wird durch die Pandemie vor eine erhebliche Herausforderung gestellt. Es ist wünschenswert, dass die im Rahmen der Pandemie eingeführten Maßnahmen wie bspw. die Erleichterung der telemedizinischen Angebote auch weiterhin in der Routineversorgung bestehen bleiben. Auf jeden Fall sollte die weitere Entwicklung gut beobachtet und begleitet werden, so dass ggf. nachjustiert werden kann und für vergleichbare Situationen in Zukunft ausreichend empirische, epidemiologische Daten zur Verfügung stehen.

Dr. med. Tarik Karakaya, PD Dr. med. Moritz de Greck, Dr. med. Mathias Luderer, Dr. med. Christiane Schlang, Mishal Qubad, Dr. med. Christine Reif-Leonhard, Prof. Dr. med. Andreas Reif

Korrespondenzadresse per E-Mail: andreas.reif@kgu.de

Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Frankfurt, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt am Main

Die Literaturhinweise finden Sie in der PDF-Version der aktuellen Ausgabe auf unserer Website unter https://www.laekh.de/heftarchiv/ausgabe/2020/juli-august-2020