Dr. med. Camilla Diefenbach, Maximilian Bayas, Chiara Möser, Prof. Dr. med. Andreas Reif

Abstract

Die unipolare Depression ist eine häufige psychische Erkrankung, welche in großem Ausmaß sowohl persönliches Leid als auch gesellschaftliche Kosten verursacht. Obwohl in Deutschland etwa 9,5 Millionen Menschen betroffenen sind, erhalten nur 30 % eine adäquate Behandlung. Die S3-Leitlinie bietet klare Empfehlungen zur Diagnostik, Therapie und Prävention. Des Weiteren bietet die Leitlinie Handlungsempfehlungen bei Therapieresistenz. Dies beinhaltet psychotherapeutische, medikamentöse, aber auch neuromodulatorische Ansätze wie Elektrokonvulsionstherapie oder Magnetstimulation. Grundsätzliches Ziel der Depressionsbehandlung ist die vollständige Remission und langfristige Stabilisierung, unterstützt durch individuelle Therapiepläne und Aufklärung. Herausforderungen bleiben der Zugang zu Therapien und die Überwindung von Stigmatisierung.

Einleitung

Die unipolare Depression ist eine weit verbreitete psychische Erkrankung, die sich erheblich auf das Leben der Betroffenen auswirkt: Sie beeinträchtigt die Lebensqualität, führt häufig zu sozialem Rückzug und erhöht das Suizidrisiko [1]. Wirtschaftlich verursacht sie in Deutschland jährliche Kosten von bis zu 22 Milliarden Euro, bedingt durch Produktivitätsverluste, häufige Krankheitsausfälle und Behandlungskosten [2]. Jährlich begehen in Deutschland etwa 10.000 Menschen Suizid, viele davon mit der Grunderkrankung einer depressiven Störung [3].

In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Situation in Deutschland verschärft: Schätzungen zufolge leidet jede fünfte Person im Laufe ihres Lebens an einer Depression; dies betrifft rund 9,5 Millionen Menschen [4]. Jährlich werden etwa 1,5 Millionen neue Fälle diagnostiziert, wobei nur rund 30 % der Betroffenen eine angemessene Behandlung erhalten [5]. Frauen erkranken dabei doppelt so häufig wie Männer, mit der höchsten Prävalenz in der Altersgruppe von 30 bis 50 Jahren [6].

Stigmatisierung führt oft weiterhin dazu, dass Betroffene keine Hilfe suchen [7], weshalb Prävention und Aufklärung entscheidend sind, um das Bewusstsein zu schärfen und den Umgang mit Betroffenen zu verbessern. In den vergangenen Jahren hat sich jedoch gesellschaftlich ein zunehmendes Bewusstsein für die Auswirkungen depressiver Störungen entwickelt, wodurch sich der Zugang zu Behandlungen verbessert und die Akzeptanz der Erkrankung zunimmt [8].

Für eine effektive Therapie sollten sich die Behandler an der Nationalen VersorgungsLeitlinie (NVL) orientieren, die eine strukturierte Herangehensweise an Diagnostik und Therapie bietet [9]. Ziel ist es, Symptome zu lindern, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern und Rückfällen vorzubeugen. Die Behandlung der Depression richtet sich nach Schwere und Dauer, nach den bisherigen Behandlungen, aber auch nach Compliance und Wunsch der Patienten.

Die folgenden Abschnitte beleuchten zentrale Aspekte von Diagnostik, Therapieplanung sowie Therapie, vor allem bei schweren depressiven Episoden und akuter Suizidalität gemäß der NVL. Die verwendeten Empfehlungsgrade sind in Tab. 1 dargestellt. Hinweise auf die Empfehlungsgrade soll/sollte sind im Text fett und kursiv formatiert, siehe * in Tab. 1; EN = Empfehlungsnummer in der NVL.

Tab. 1: Empfehlungsgrade gemäß der NVL-Formulierungen*
EmpfehlungsgradBeschreibungFormulierung
AStarke Positiv-EmpfehlungSoll
BAbgeschwächte Positiv-EmpfehlungSollte
0Offene EmpfehlungKann
BAbgeschwächte Negativ-EmpfehlungSollte nicht
AStarke Negativ-EmpfehlungSoll nicht
* Im Text sind die NVL-Formulierungen „soll/sollte“ fett und kursiv formatiert, wenn sie auf den Empfehlungsgrad hinweisen. Bei anderer Formulierung ist der Empfehlungsgrad im Text angegeben.

Diagnostik

Allgemein

Die Diagnose einer depressiven Episode basiert hauptsächlich auf der klinischen Einschätzung. Eine zentrale Rolle spielt die Anamnese, die in einer ruhigen und wertschätzenden Atmosphäre erfolgen sollte. Es empfiehlt sich ein strukturiertes Vorgehen mit offenen Fragen. Die apparative Diagnostik dient dem Ausschluss anderer Erkrankungen und der Überwachung von Medikamentenwirkungen.

Das diagnostische Vorgehen bei Depressionen ist vereinfacht in den folgenden Punkten 1 bis 4 dargestellt. Die Schlüsselempfehlungen sind in gelb hinterlegten Abschnitten wiedergegeben.

1. Verdacht auf Depression

Mögliche Beschwerden:

  • Abgeschlagenheit
  • Schlafstörung
  • Appetitstörung
  • diffuser Kopfschmerz
  • Muskelverspannungen
  • diffuse Nervenschmerzen
  • Sistieren der Menstruation
  • sexuelle Funktionsstörung
  • Gedächtnisstörung

► Evaluieren von Risikofaktoren, z. B. affektive Episoden und Suizidversuche in der Eigen- und Familienanamnese

2. Diagnostik

gemäß ICD 10 mittels psychopathologischer Befunderhebung und Schweregradbestimmung:

Hauptsymptome (mind. zwei müssen erfüllt sein):

  1. gedrückte Stimmung
  2. Interessenverlust, Freudlosigkeit
  3. Antriebsmangel, erhöhte Ermüdbarkeit

Zusatzsymptome:

  • Konzentration ↓
  • Selbstwertgefühl & Selbstvertrauen ↓
  • Schuldgefühle
  • psychomotorische Agitiertheit oder Hemmung
  • Hoffnungslosigkeit
  • Schlafstörungen
  • Appetitstörungen
  • Suizidgedanken/Suizidhandlungen

Dauer:≥ zwei Wochen

Schweregrad: je nach Summe der Symptome:
4–5: leicht
6–7: mittelgradig
≥ 8:  schwer

3. Differenzialdiagnostik

Differenzialdiagnostische HinweiseMögliche Differenzialdiagnose
Maniforme Symptome wie Irritabilität oder Phasen gesteigerten AntriebsBipolar affektive Störung
Neue neurologische Fokalsymptomatik
Ersterkrankung an einer Depression im höheren Lebensalter
Organische affektive Störungen → cMRT
Maladaptive Reaktion auf einen klar identifizierbaren, psychosozialen Stressor und übertriebene Beschäftigung mit diesem
Grundsätzliche Ansprechbarkeit für positive Ereignisse
Anpassungsstörung
Ausgeprägte Ängste unabhängig von der aktuellen EpisodeAngststörung
Medikamentenanamnese (mit Fokus auf u. a. Kortison, Interferone, Betablocker, Antibiotika, Opioide, Zytostatika und orale Kontrazeptiva)Medikamentös induzierte Depressionen
Suchtanamnese, Hinweise auf Substanzintoxikation oder -entzugSubstanz induzierte Stimmungserkrankungen

4. Indikation für stationäre Therapie

(ggf. notfallmäßig) bei:

  • Akuter Suizidalität → Absprachefähigkeit eruieren
  • Psychotischen Symptomen
  • Schwerwiegenden psychosozialen Faktoren

Anamnese

In der Anamnese sollen die Beschwerden der Patientinnen und Patienten detailliert erfasst und der bisherige Verlauf der psychischen Symptome rekonstruiert werden (Empfehlungsnummer EN 2-4).

Die Fremdanamnese ergänzt wichtige Informationen des Erkrankungsbildes. Besonders relevant sind Informationen zu Vordiagnosen, Vorbehandlungen und Suizidversuchen. Auch die Familienanamnese für psychische Erkrankungen und Suizidalität sowie die Suchtanamnese sind zentral. Die soziobiographische Anamnese umfasst belastende Lebensereignisse, frühe Traumata, schulische, berufliche und familiäre Entwicklung sowie die aktuelle psychosoziale Situation.

Ergänzend können psychometrische Tests eingesetzt werden, um die Schwere der Symptome zu quantifizieren und die Diagnose zu stützen.

Körperliche Untersuchung und Diagnostik

Bei der Diagnostik depressiver Störungen ist eine umfassende somatische Abklärung unerlässlich, um organische Ursachen auszuschließen und eine sichere Differenzialdiagnose zu gewährleisten (Empfehlungsgrad A, EN 2-7).

Die körperliche Untersuchung kann Hinweise auf Anzeichen metabolischer, endokriner, rheumatologischer und neurologischer Erkrankungen geben.

Regelmäßige Messungen von Vitalzeichen (Puls, Blutdruck) und BMI sollen während einer Pharmakotherapie ebenso erfolgen wie eine Basislabordiagnostik, die neben klinisch-chemischen Parametern (Elektrolyte, Leber- und Nierenwerte, Entzündungsmarker) auch Gerinnungsparameter und das Blutbild umfasst. Bei Verdacht auf metabolische Störungen unter Psychopharmaka sind Lipidprofile und Blutzuckerbestimmungen indiziert. Die Schilddrüsenfunktion sollte zum Ausschluss einer Schilddrüsenunterfunktion routinemäßig überprüft werden, während ein Drogenscreening bei entsprechendem klinischem Verdacht sinnvoll ist (EN 4-13).

Die cranielle Magnetresonanztomographie (cMRT) ist die bildgebende Methode der Wahl zum Ausschluss organischer Ursachen, insbesondere bei atypischen Verläufen, neurologischen Symptomen oder Late-Onset-Depression, also dem erstmaligen Auftreten einer Depression ab dem 65. Lebensjahr [10].

Ein EKG soll vor Therapiebeginn mit Antidepressiva und zur Überwachung möglicher kardialer Nebenwirkungen erfolgen (EN 4-13).

Differenzialdiagnostik

Besteht der Verdacht auf eine Depression, sollen mehrere Differenzialdiagnosen erwogen werden:

In über 50 % der Fälle beginnt eine bipolare Störung mit einer depressiven Episode (sog. hidden bipolars): Hier können maniforme Symptome wie Irritabilität oder gesteigerter Antrieb als Prodrom auftreten. Daher sollte in der Anamnese nach manischen Symptomen und bipolaren Störungen in der Familie gefragt werden.

Treten depressive Symptome in plausiblem zeitlichem Zusammenhang mit einer somatischen Erkrankung auf und bessern sich nach erfolgreicher Behandlung der Grunderkrankung, sind die Kriterien für eine sekundäre (organische) Depression erfüllt.

Eine Dysthymie zeichnet sich durch eine über zwei Jahre andauernde depressive Verstimmung aus. Die Symptome ähneln denen einer depressiven Episode, erreichen jedoch nie deren Schweregrad, und das Funktionsniveau bleibt meist erhalten. Die Kombination von Dysthymie und depressiven Episoden wird als „Double Depression“ bezeichnet.

Anpassungsstörungen sind maladaptive Reaktionen auf klar identifizierbare Stressoren wie z.B. Scheidung oder Krankheit. Die Symptome treten innerhalb eines Monats nach dem Stressor auf, führen zu Funktionseinschränkungen und remittieren innerhalb von sechs Monaten spontan. Damit verwandt ist die anhaltende Trauerreaktion, die nach dem Verlust einer nahestehenden Person auftritt und zu schweren emotionalen Beschwerden und Funktionseinschränkungen führt.

Sowohl verschreibungspflichtige Medikamente (z. B. Kortikoide, Betablocker) als auch illegale Drogen können depressive Symptome verursachen.

Eine gründliche Medikamenten- und Suchtanamnese soll daher erfolgen, um substanzinduzierte Stimmungserkrankungen auszuschließen (EN 2-6).

Depressive Symptome können dabei sowohl in der Intoxikation als auch im Entzug auftreten.

Die häufig beobachtete Komorbidität von Persönlichkeitsstörungen erschwert aufgrund sich überschneidender Symptome die Diagnostik. Während Persönlichkeitsstörungen durch ein stabiles, überdauerndes Muster von Denken, Fühlen und Verhalten gekennzeichnet sind, manifestiert sich eine Depression durch phasenhaft auftretende Symptome, die von Patienten als fremd erlebt werden. Wichtige diagnostische Hinweise liefern hierbei die Tiefe und Intensität der Symptomatik sowie die subjektive Bewertung durch die Patienten.

Relevante Differenzialdiagnosen und Komorbiditäten bei einer depressiven Störung sind insbesondere bei älteren Menschen (> 65 Jahre) neurodegenerative Erkrankungen wie die Alzheimer-Demenz, die vaskuläre Demenz und das Parkinson-Syndrom. Der Erkrankungsbeginn ist oft schleichend und die Symptomatik wird häufig bagatellisiert. Hinweise auf demenzielle Erkrankungen sind Orientierungsstörungen und kortikale Symptome. Empfohlen sind eine gründliche neurologische Untersuchung sowie cMRT, Liquor-Biomarker und neuropsychologische Tests (z. B. CERAD plus, FAB, Apathie-Skalen).

Auch Schizophrenien und schizoaffektive Störungen manifestieren sich häufig in Form einer depressiven Episode. Gleichzeitig werden Negativsymptome schizophrener Psychosen wie beispielsweise sozialer Rückzug, Aktivitätsminderung, Sprechverarmung, Apathie u. a. leicht mit depressiven Symptomen verwechselt [11]. Es ist daher wichtig, frühere Symptome wie Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Denkstörungen und Ich-Störungen zu erfragen [11]. Ebenso essenziell ist es, zwischen Antriebsarmut bei neutralem oder zufriedenem Affekt und Antriebshemmung bei depressivem Affekt zu differenzieren.

Insomnien und Schmerzstörungen stellen weitere differenzialdiagnostische Herausforderungen dar. Beide Erkrankungen können sowohl Symptome einer Depression auslösen als auch komorbid mit dieser vergesellschaftet sein. Diagnostisch entscheidend ist hier der zeitliche Verlauf der Beschwerden.

Therapieplanung

Die Behandlungsphasen bestehen aus pharmakologischer und psychotherapeutischer Akuttherapie, gefolgt von pharmakologischer Erhaltungstherapie bzw. fortgesetzter Psychotherapie und abschließender Rezidivprophylaxe.

Grundsätzliches Ziel ist, die Remission einer depressiven Episode und das Funktionsniveau vor Erkrankungsbeginn („funktionelle Remission“) zu erreichen. In der Akutphase zielt die pharmakologische und psychotherapeutische Behandlung darauf ab, das Mortalitätsrisiko zu senken und den Leidensdruck der Patientinnen und Patienten zu reduzieren.

Maßgeblich für Therapieansprechen und -adhärenz ist es, Patienten umfassend und verständlich über Störungsbild und Behandlungsoptionen aufzuklären (Empfehlungsgrad A, EN 3-4). Daneben gilt es, mögliche Risiken oder Nebenwirkungen darzulegen sowie Befürchtungen oder Vorurteile gegenüber Medikation und Psychotherapie anzusprechen (Empfehlungsgrad B, EN 3-5). Diese Aufklärungs- und Informationsarbeit soll, sofern Patienten dies wünschen, auch Angehörige mit einbeziehen (EN 3-8).

Ziel ist es, so ein Krankheitsverständnis zu schaffen, ein unterstützendes soziales Netz zu fördern und auch Angehörige auf Unterstützung (z. B. Selbsthilfegruppen) aufmerksam zu machen.

Therapieziele sollen im Sinne der partizipativen Entscheidungsfindung (PEF) individuell erarbeitet und während des Behandlungszeitraums gemeinsam geprüft, neu bewertet und angepasst werden (EN 3-6): Kontext und Lebensumstände verändern sich, und eine PEF vor und während der Behandlung fördert die Compliance und hält die Therapiemotivation aufrecht.

Für all dies ist eine empathische und wertschätzende Gesprächsführung entscheidend. Insbesondere eine positive, hoffnungsvolle und wertschätzende Sprache wirkt der oft negativen Selbstwahrnehmung der Patienten entgegen.

Therapieoptionen und Therapieprinzipien

Psychoedukation und Aufklärung sind die Basis für eine leitliniengerechte und nachhaltige Behandlung der Erkrankung. Sie sind daher in diese integriert und nicht als gesonderte Maßnahme zu betrachten.

Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA, https://diga.bfarm.de/de) können als Medizinprodukte verschrieben werden, sollen jedoch therapeutisch begleitet werden, um wirksam und nicht schädlich zu sein (EN 4-2).Bei leichter Depression sollen zunächst mobilbasierte1 und niedrigschwellige Interventionen angeboten werden (EN 5-1) und im Verlauf reevaluiert werden.

Die drei Säulen der mittleren und schweren Depressionsbehandlung bestehen aus der Psychotherapie, der medikamentösen Therapie und neurostimulatorischen Verfahren, unterstützt durch psychosoziale Interventionen (siehe unten).

Medikamentöse Behandlung

Die meisten Antidepressiva erhöhen im synaptischen Spalt die Konzentration von Monoaminen (Serotonin, Noradrenalin, z. T. Dopamin) und wurden auf Basis der Monoamin-Hypothese entwickelt (bzw., ihre Wirkung gab Anlass zur Formulierung dieser Hypothese). Aktuell wird außerdem davon ausgegangen, dass Antidepressiva in der Folge dieser unmittelbaren neurochemischen Prozesse die neuronale Plastizität und die Ausschüttung neurotropher Substanzen beeinflussen.

Antidepressiva-Substanzklassen

Tab. 2 (im Literaturverzeichnis) fasst die wichtigsten Wirkstoffe mit Dosierungsempfehlungen gemäß NVL zusammen.

Gemäß Leitlinie ist die Evidenzqualität für alle Substanzgruppen gut, ein signifikanter Unterschied in der Effektivität der unterschiedlichen Substanzen besteht ebenso wenig wie Prädiktoren für differenzielle Effektivität.

Daher sollen bei Auswahl der Substanzen eher folgende Kriterien berücksichtigt werden: Für die Compliance spielen individuelle Präferenzen der Patienten und unerwünschte Arzneimittelwirkungen eine Rolle; Verfügbarkeit und Gebrauchstauglichkeit sollen ebenso berücksichtigt werden wie die Frage, ob die Einnahme im Hinblick auf Geschlecht und Alter, Komorbiditäten sowie Komedikation und vereinzelte Interaktionsprofile sicher ist (EN 4-4).

Antidepressiva aufgrund individueller Pharmakogenetik auszuwählen, ist in Deutschland momentan nur als Selbstzahlerleistung verfügbar und bisher nicht empfohlen. Jedoch werden Metabolisierungsprofile für zukünftige Therapieentscheidungen wahrscheinlich eine maßgebliche Rolle spielen. Bis dahin können Serumspiegelkontrollen (Therapeutisches Drug Monitoring, TDM) die Therapie steuern: So lassen sich nicht nur Wirksamkeit, sondern auch Compliance und Symptomverschlechterung einordnen.

Vor Therapiebeginn empfiehlt es sich, einen zeitlichen Endpunkt von drei bis vier Wochen festzuhalten, um die Wirksamkeit zu evaluieren (Empfehlungsgrad A, EN 4-5).

Dies verhindert, dass unwirksame Substanzen zu lange gegeben werden, und frühzeitig umgestellt wird. Bei älteren Patienten sollte allerdings aufgrund der langsameren Eindosierung bis zu sechs Wochen abgewartet werden. Sowohl ein Rückgang der depressiven Symptomatik als auch gesellschaftliche Teilhabe und der Erhalt von Lebensqualität tragen zur Wirksamkeit bei.

Nachdem Komorbiditäten und Kontraindikationen ausgeschlossen wurden, sollte die empfohlene Standarddosis so schnell wie möglich schrittweise aufdosiert werden (EN 4-7).

Durch den Beginn mit einer niedrigeren Anfangsdosis und deren allmählicher Steigerung lässt sich das Risiko von starken unerwünschten Arzneimittelwirkungen reduzieren, welche wiederum die Compliance gefährden können. Sehr wichtig ist eine realistische Aufklärung über Wirklatenz und mögliche Nebenwirkungen bei gleichzeitiger Maximierung einer positiven Erwartungshaltung.

Die NVL verfügt über ausführliche Patientenmaterialien mit Erläuterungen zu Unwirksamkeit, Absetzen, Vor- und Nachteilen medikamentöser Therapie und vieles andere mehr.

Psychotherapie

Falls bei leichter Depression unter niedrigschwelliger und mobilbasierter Intervention1 keine Besserung erfolgt, soll eine Psychotherapie angeboten werden (EN 5-3). Bei mittelschwerer Depression ist eine alleinige Psychotherapie ebenso wirksam wie eine Pharmakotherapie (Empfehlungsgrad A, EN 5-8). Bei schwerer Depression soll eine Kombination von Psycho- und Pharmakotherapie erfolgen (EN 5-13).

Die NVL enthält in ihren Empfehlungen keine spezifischen Therapieempfehlungen für bestimmte Psychotherapieverfahren, da keine Einigung innerhalb der Konsensgruppe erzielt wurde.

Psychotherapeutinnen und -therapeuten sollen nach der PEF das Verfahren auswählen (EN 4-27), nachdem sie die Patienten kennengelernt haben; fachfremde Personen sind für diese Auswahl nicht geeignet.

Die von der gesetzlichen Krankenversicherung anerkannten Richtlinienverfahren sind: Kognitive Verhaltenstherapie (KVT), Tiefenpsychologische (psychodynamische) und Systemische Therapie. Nicht erstattungsfähig hingegen sind die interpersonelle und die Gesprächspsychotherapie. Die KVT konzentriert sich darauf, individuelle dysfunktionale Denk- und Verhaltensmuster zu analysieren und das Problemverhalten durch ein alternatives Verhalten zu korrigieren. Weiterentwicklungen sind die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT), die Vermeidung reduzieren soll, die Mindfulness Based Cognitive Therapy (MBCT) mit Fokus auf Achtsamkeit und das Cognitive Behavioural Analysis System (CBASP), das spezifisch auf chronische Depressionen ausgelegt ist.

Psychodynamische Ansätze erklären depressive Symptome als Folge verdrängter Kränkungen oder Verluste, oft bedingt durch unsichere Bindungen im Kindesalter. In der Analyse reflektieren Patienten ihre Gefühle im „freien Sprechen“, während in der Tiefenpsychologie innere Konflikte anhand konkreter Lebenssituationen bearbeitet werden. Eine ausreichende Wirkung wird nur dann erzielt, wenn Therapiemotivation besteht und der Leidensdruck zu Veränderung motiviert. Dabei sollten Religion und Kultur sowie Krankheitsverständnis und biografische (traumatische) Erfahrungen berücksichtigt werden. Hat sich die Symptomatik nach 8 bis 12 Wochen nicht verbessert, sollten das Verfahren reevaluiert und Ursachen ergründet werden.

Neurostimulatorische Verfahren

Dritte Säule der antidepressiven Behandlung sind neurostimulatorische Verfahren, die therapieeskalierend bzw. ergänzend zur psychotherapeutischen und medikamentösen Therapie eingesetzt werden können.

Bei Therapieresistenz, psychotischen Symptomen oder akuter Suizidalität soll die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) über acht bis zwölf Einheiten angeboten werden (EN 7-27).

Bei der EKT stimuliert man unter Narkose in der Regel die rechte Hemisphäre (unilateral – teils auch beide Hemisphären, also bilateral), wodurch vermutlich die neuronale Plastizität begünstigt und neurotrophe Substanzen ausgeschüttet werden. Die wichtigste Nebenwirkung sind temporäre Gedächtnisstörungen. Die Leitlinie empfiehlt, die EKT bei therapieresistenten Depressionen oder bei psychotischen Symptomen einzusetzen. Zeigt die EKT eine gute Wirkung, kann bei der Notwendigkeit von EKT-Sitzungen in größeren zeitlichen Abständen zur Rückfallprophylaxe (sog. Erhaltungs-EKT) die Implantation eines Vagus-Nerv-Stimulators (VNS) erwogen werden. Dies ist ein einmalig invasives Verfahren, wodurch der linke N. vagus kontinuierlich über einen implantierten Impulsgenerator im Halsbereich elektrisch stimuliert wird.

Alternativ zur EKT sollte nichtinvasiv die repetitive Transkranielle Magnetstimulation (rTMS) augmentativ bei Therapieresistenz eingesetzt werden (EN 7-29).

Eine Spule an der Kopfhaut erzeugt bei der rTMS elektromagnetische Impulse und stimuliert dadurch den linken dorsolateralen präfrontalen Cortex hoch- und den rechten niederfrequent. Mögliche Nebenwirkungen sind unter anderem Kopfschmerzen.

Psychosoziale Therapien und unterstützende Maßnahmen

Psychosoziale Therapien und unterstützende Maßnahmen bilden die vierte Säule der Depressionsbehandlung und beinhalten unter anderem Beratungsstellen, den sozialpsychiatrischen Dienst sowie Online-Informationsplattformen. Ergo- und Soziotherapie sowie Selbsthilfegruppen und Peer-Support sind unterstützende Maßnahmen.

Nicht-medikamentöse Maßnahmen wie Schlafentzugstherapie oder Lichttherapie können in individuellen Fällen erwogen werden.

Behandlung bei schwerer depressiver Episode und Management akuter Suizidalität

Bei einer schweren depressiven Episode ist die Therapie der Wahl eine Kombination aus Medikation und Psychotherapie (Empfehlungsgrad A, EN 5-13). Lehnen Patienten dies ab, sollen beide Maßnahmen als Monotherapie gleichwertig angeboten werden (EN 5-14). Liegt eine schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen vor, soll antidepressiv und sollte zusätzlich antipsychotisch behandelt werden (EN 5-17).

Abb. 1 zeigt schematisch die Akuttherapie bei mittelgradiger und schwerer Depression.

Behandelnde sollen akute Suizidalität bei leicht-, mittel- und schwergradiger Depression immer erfragen und psychotherapeutisch prioritär behandeln (EN 2-11).

Ein einfühlsamer Kontakt und das Anerkennen der Gefühle der Patienten sind wichtig, um Suizidalität richtig zu beurteilen, im Stufenplan (Abb. 2) einzuordnen und einen Notfallplan zu erstellen.

Solange umsetzbar, sollenTherapiemaßnahmen weiterhin im Sinne der PEF getroffen werden (EN 12-2). Bei nicht ausreichenden ambulanten Therapiemaßnahmen, akuter Suizidalität oder Zustand nach Suizidversuch solleine stationäre Aufnahme erfolgen (EN 12-5).

Besteht akute Suizidgefahr und Verweigerung einer stationären Aufnahme, sollen Patienten als ultima ratio gegen ihren Willen aufgrund akuter Eigengefährdung nach § 17 des hessischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes (PsychKHG) stationär untergebracht werden (EN 12-6).

Bei akuter Suizidalität im Rahmen einer Depression kannEsketamin als Nasenspray eingesetzt werden (EN 12-6).

Intranasales Esketamin ist in Kombination mit einem SSRI oder SNRI zugelassen, wenn eine Notfallindikation oder Therapieresistenz vorliegt.

In den ersten zwei bis vier Wochen können Benzodiazepine oder Z-Substanzen bei schweren Schlafstörungen, ausgeprägter Unruhe oder drängenden Suizidgedanken überbrückend verschrieben werden, wenn keine Suchterkrankungen vorliegen und die Risiken abgewogen wurden (EN 5-15). Eine rein antidepressive Behandlung ist für die Therapie akuter Suizidalität ungeeignet (Empfehlungsgrad A, EN 12-13).

Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe

Für eine langfristige Stabilität soll das Antidepressivum in der Erhaltungsphase für die darauffolgenden sechs bis zwölf Monate ohne Dosisveränderung eingenommen werden (EN 6-1).

Im Anschluss muss erwogen werden, ob eine weitere Einnahme (Rezidivprophylaxe) indiziert oder ob die Substanz graduell über acht bis zwölf Wochen abgesetzt werden kann. Ein zu schnelles Absetzen kann zum „Absetzsyndrom“ mit Symptomen wie Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Übelkeit, Gleichgewichtsstörungen, Missempfindungen, Angst und Agitation sowie ggf. serotonergen oder cholinergen Syndromen einhergehen. Dies ist nicht Folge einer Abhängigkeit.

Patienten, die zum zweiten oder dritten Mal erkranken, sollten im Sinne einer Langzeitprophylaxe ein Antidepressivum ohne Dosisänderung für mindestens zwei aufeinanderfolgende Jahre einnehmen (EN 6-3).

Für die Dauer der Medikation ist jedoch immer der individuelle Verlauf zu berücksichtigen.

Um Patienten nachhaltig zu stabilisieren, soll im Anschluss an die psychotherapeutische Akutbehandlung das Angebot einer weiterführenden psychotherapeutischen Behandlung gemacht werden (EN 6-4). Damit diese nicht abrupt endet, empfiehlt sich zudem ein ausschleichendes Procedere mit immer größer werdenden Abständen zwischen den Therapieeinheiten (EN 6-6). Medikamentöse Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe sollten in Kombination mit einer Psychotherapie angeboten werden (EN 6-7).

Maßnahmen bei Nichtansprechen und Therapieresistenz

Sprechen Patienten auf eine alleinige Antidepressiva-Therapie nicht an, ist die Adhärenz mittels TDM zu prüfen und die Diagnose zu hinterfragen (Empfehlungsgrad A, EN 7-2). Relevante Komorbiditäten sollen ebenso berücksichtigt werden wie eine mögliche depressiogene Komedikation. Die folgenden Alternativen sind gleichwertig und solltenbei Nichtansprechen eingesetzt werden:

  1. Quetiapin (zugelassen für eine Augmentation), off-label können auch niedrigdosiert Aripiprazol, Olanzapin oder Risperidon augmentativ eingesetzt werden (EN 7-6).
  2. Insbesondere bei Suizidalität, aber auch sonst bei Nichtansprechen auf ein Antidepressivum sollte nach Nutzen-Risiko-Abwägung augmentativ Lithium eingesetzt werden (EN 7-7). Die Einnahme sollte bei Ansprechen für mindestens sechs Monate erfolgen, bei Nichtansprechen unter Berücksichtigung des Serumspiegels nach spätestens vier Wochen wieder abgesetzt werden (EN 7-8 bis 7-9).
  3. Bei Nichtansprechen auf eine Monotherapie sollte eine Kombination von Antidepressiva eingesetzt werden (EN 7-11): Hierfür eignen sich SSRI, SNRI und TZA entweder mit Mirtazapin, Trazodon oder Mianserin.
  4. Alternativ zur Augmentation bzw. Kombination kann einmalig die Substanzklasse gewechselt werden (EN 7-12).
  5. Dopaminagonisten, stimmungsstabilisierende Antiepileptika oder Psychostimulanzien sind zur Augmentation nicht geeignet.
  6. Wird zunächst rein psychotherapeutisch behandelt, soll zusätzlich medikamentös behandelt werden, sobald die Ursachen geprüft und die Therapie angepasst sind (EN 7-22).

Diskussion

Die Behandlung der unipolaren Depression erfordert einen differenzierten, patientenzentrierten Ansatz. Die NVL bietet dafür eine wichtige Orientierung. Dennoch bleibt die Frage, wie gut diese Richtlinien im Praxisalltag umgesetzt werden. Die Diskrepanz zwischen Leitlinienempfehlungen und tatsächlicher Behandlung spiegelt sich in der Tatsache wider, dass nur 30 % der Betroffenen in Deutschland eine adäquate Therapie erhalten. Ein möglicher Grund dafür ist, dass Psychoedukation und individuelle Therapiepläne nicht gut integriert sind und es an ambulanten Therapieplätzen mangelt.

Zudem stellt sich die Frage, wie Therapieresistenzen besser überwunden werden können. Die NVL betont, dass Pharmakotherapie und Psychotherapie kombiniert werden sollen. Doch auch ergänzende neuro­stimulatorische Verfahren wie die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) können unterstützend von Nutzen sein. Diese Methoden sind jedoch oft nur schwer zugänglich. Mehr Investitionen in Zugang zu solchen Verfahren können somit eine wichtige Rolle spielen.

Prävention und Entstigmatisierung sind ebenfalls Schlüsselelemente, um der hohen Prävalenz von Depressionen entgegenzuwirken. Würden Betroffene frühzeitig aufgeklärt und sensibilisiert, könnten sie schneller Zugang zu therapeutischen Angeboten finden. Auch das gesellschaftliche Bewusstsein für die Erkrankung würde so gestärkt werden. Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen und sozialen Unterstützung könnten langfristig dazu beitragen, das Risiko für Depressionen zu reduzieren.

Insgesamt ist die Behandlung der unipolaren Depression eine komplexe Herausforderung. Sie erfordert es, die Therapiepläne fortlaufend anzupassen, und die verfügbaren Behandlungsoptionen kontinuierlich weiterzuentwickeln.

Dr. med. Camilla Diefenbach, Maximilian Bayas, Chiara Möser, Prof. Dr. med. Andreas Reif, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Frankfurt am Main

Die Literaturangaben und Tab. 2 finden Sie hier.

1 In der NVL beziehen sich „mobilbasierte Interventionen“ auf Anwendungen für Mobilgeräte, die online zur Unterstützung von Behandlungen eingesetzt werden können. Diese umfassen evidenzbasierte Angebote mit psychoedukativen Inhalten, therapeutischen Modulen und gegebenenfalls Monitoring-Elementen.

Multiple Choice-Fragen

Die Multiple Choice-Fragen zu dem Artikel „Diagnostik und Therapie der unipolaren Depression “ von Dr. med. Camilla Diefenbach, Maximilian Bayas, Chiara Möser und Prof. Dr. med. Andreas Reif finden Sie in der PDF-Version dieses Artikels und im Mitgliederportal unter https://portal.laekh.de.

Die Teilnahme zur Erlangung von Fortbildungspunkten ist nur online über das Portal vom 25.04.2025 bis 24.10.2025 möglich. Die Fortbildung ist mit drei Punkten zertifiziert. Mit Absenden des Fragebogens bestätigen Sie, dass Sie dieses CME-Modul nicht bereits an anderer Stelle absolviert haben. Der Artikel hat ein Peer-Review-Verfahren durchlaufen. Nach Angaben der Autorin sind die Inhalte des Artikels produkt- und/oder dienstleistungsneutral, es gibt kein Sponsoring und es bestehen keine Interessenkonflikte.   (red)