Der Begriff „Zeitenwende“ wurde von der „Gesellschaft für deutsche Sprache“ zum Wort des Jahres 2022 gekürt. Aber nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaftsgeschichte gibt es solche „Zeitenwenden“, die man hier seit der Publikation „The Structure of Scientific Revolutions“ von Thomas S. Kuhn (1962) auch als „Paradigmenwechsel“ bezeichnet.
Der Marburger Universitätsprofessor für Medizin und Botanik Euricius Cordus lebte in einem solchen Zeitalter des Umbruchs. Anfang des 16. Jahrhunderts gab man sich nicht mehr mit den Überlieferungen antiker ärztlicher Autoritäten zufrieden, wenn sie nicht mit der eigenen Naturbeobachtung übereinstimmten. Cordus hat dies in der Botanik begonnen, die damals noch wegen der zahlreichen Heilpflanzen der medizinischen Fakultät an den Universitäten zugeordnet war.
Euricius Cordus wurde als Heinrich Ritze und 13. Kind eines wohlhabenden Bauern 1486 in Simtshausen (heute Ortsteil von Münchhausen, Landkreis Marburg-Biedenkopf) geboren. Er nannte sich deshalb „Spätgeborener“ (lat. cordus). Cordus studierte zunächst an der Universität Erfurt die Freien Künste, dann Medizin. Nach seiner Tätigkeit als Stadtarzt in Braunschweig war er von 1527–1534 Professor für Medizin an der neugegründeten (protestantischen!) Universität Marburg und starb bereits 1535 als Stadtarzt und Lehrer in Bremen. Nach Cordus ist eine Auszeichnung des Fachbereichs Medizin der Philipps-Universität Marburg, die Euricius-Cordus-Medaille, benannt.
Während seiner Marburger Zeit trat dort eine rätselhafte, stark ansteckende Krankheit auf, die „englischer Schweiß“ genannt wurde, weil die Epidemie in England begann und mit starker Schweißbildung einherging. Im Juli war sie in Hamburg nachweisbar, im September in Frankfurt am Main und sie breitete sich – offenbar entlang der großen Handelswege − weiter nach Süden aus, bis sie im Dezember in Bern angelangte. Man vermutet heute, dass es sich um eine Virusencephalitis gehandelt haben könnte.
Cordus publizierte im September 1529 in Marburg ein Buch über diese Epidemie unter dem Titel: „Ein Regiment: Wie man sich vor der Newen Plage, Der Englisch schweis genant, bewaren“ (Abb. 1). Das Buch erschien in deutscher Sprache, denn es wandte sich vor allem an die Bevölkerung. Cordus [1529, Bl. 4r] beschrieb folgende „Zeichen dieser Kranckheit: Zittern ... Frost ... Hitze... Schweiß“. Er zählte diese Krankheit zu den „pestientzischen Fiebern“, die durch „vergiefftigerem Lufft“ verursacht würden [1529, Bl. 3r]. Dieses Krankheitsgift sei so schädlich, vor allem für das Herz, dass es nicht mehr zur Ausbildung der typischen Pestbeulen kommen könne.
Als Therapie empfahl der Marburger Professor die damals üblichen unspezifischen Maßnahmen (purgieren, Aderlass und leichte Diät), außerdem spezielle Medikamente unter anderem zur Herzstärkung, vor allem aus Gewürzen (zum Beispiel Myrrhe, Koriander, Kümmel, Zitronensaft, Sauerampfer, Safran, Kampfer, Weihrauch, Aloe).
Diese Krankheit hat eine gewisse kirchengeschichtliche Bedeutung, weil aus Angst vor Ansteckung das am 3. Oktober 1529 begonnene „Marburger Religionsgespräch“ bereits nach drei Tagen ohne Einigung zwischen Luther und Zwingli abgebrochen wurde und die Beteiligten fluchtartig Marburg verließen. Damals waren in Marburg etwa 50 Personen an dieser fieberhaften Infektionskrankheit mit grippeähnlichen Symptomen erkrankt, von denen ein bis zwei Erkrankte verstarben, wie Luther selbst am 4. Oktober 1529 aus Marburg an seine Ehefrau schrieb: „Sie seynd hier toll worden mit Schweyß = Schrecken, gestern haben sich bei funfzig geleget, deren seynd eins oder zwey gestorben.“
Sein „Botanologicon“ (1534) ist formal die Aufzeichnung eines fiktiven Gesprächs zwischen fünf Freunden über die botanische Wissenschaft. Cordus hat in diesem Buch eine philologische-kritische Methode bei der Beurteilung antiker Textüberlieferungen in die Botanik eingeführt und zusätzlich gefordert, dies gleichzeitig mit eigener Naturbeobachtung zu kombinieren, denn, so seine beiden Grundsätze:
„Besser ist es, von einem Lehrer als von der Wahrheit abzuweichen“;
und
„Stärker sind die Gründe der Vernunft als die der Autorität“.1
Das in Marburg von Cordus geschriebene Buch „Botanologicon“ beginnt fortissimo schon auf dem Titelblatt mit dem Aufruf: „Höre, Arzt! Willst du verschiedene Pflanzen in anderer Weise kennenlernen als du bisher gelehrt worden bist, dieses neue Büchlein enthält vieles“.2 Cordus fordert darin seine Freunde auf, mit ihm nicht nur Bücher zu lesen, sondern auch botanische Exkursionen in die Umgebung von Marburg zu machen: „Denn es gefällt mir sehr gut auf dem Lande, wo ich an Ort und Stelle jene lebenden Pflanzen, über die ich zu Hause gelesen habe, mit den in meinem Gedächtnis eingeprägten Bildern vergleiche und betrachte, und bald deren Bezeichnung, bald auch deren Wirkkräfte von alten Weibern, die mir über den Weg laufen, erfrage. Nachdem alle mit ihrer Beschreibung <in der Literatur> verglichen sind, bestimme ich sie entweder mit reifem Urteil und so scharfsinnig wie möglich oder stelle Vermutungen an“.3
Abb. 2: 16. Jahrhundert: drei unterschiedliche Heilpflanzen mit ähnlichem Namen
Deutscher Name: Hirschzunge
wiss. Name (16. Jh.): Scolopendrium
Name (Linné 1753): Asplenium scolopendrium
Pflanzenklasse: Farnpflanze
Vermehrung durch: Sporen
Deutscher Name: Milzfarn
wiss. Name (16. Jh.): Scolopendrium
Name (Linné 1753): Asplenium ceterach
Pflanzenklasse: Farnpflanze
Vermehrung durch: Sporen
Deutscher Name: Milzkraut
wiss. Name (16. Jh.): Scolopendrium
Name (Linné 1753): Chrysosplenium alterniifolium
Pflanzenklasse: Blütenpflanze
Vermehrung durch: Samen
Es herrschte seinerzeit in der Botanik ein nomenklatorisches Chaos, denn die Beschreibungen und Bezeichnungen der Pflanzen in der Fachliteratur enthielten meist keine Angaben zur Unterscheidung der einzelnen Pflanzenarten voneinander. Außerdem gab es oft keine brauchbaren Bilder zur Unterscheidung. Von Cordus wird dieses Problem am Beispiel des Hirschzungenfarns (Abb. 2a) erklärt, der seinerzeit gemeinsam mit zwei völlig verschiedenen Pflanzenarten wissenschaftlich neben anderen Synonymen „Scolopendrium“ genannt wurde (Abb. 2). Alle drei gleichnamigen Pflanzen wurden bei „Milzschwellungen“ als Heilmittel angewandt und hießen deshalb auch „Asplenium“ (milzverkleinernd) oder im Deutschen „Milzkraut“. Von Cordus konnten durch einen Vergleich der Blattform und der medizinischen Wirkungen die drei genannten Arten voneinander unterschieden werden [Cordus 1543, p. 34].
Prof. Dr. med. Michael Sachs, Dr. Senckenbergisches Institut, für Geschichte und Ethik der Medizin, Fachbereich Medizin, Universitätsmedizin, Goethe-Universität, Paul-Ehrlich-Str. 20–22, 60590 Frankfurt am Main
Quellen:
Cordus, Euricius (1529): Ein Regiment:|| Wie man sich vor der Newen Pla=||ge/ Der Englisch schweis genant/ be=||waren/ Vnd so man damit ergrieffen || wird/ darynn halten sall/ Durch || Euritium Cordum/ Der || Artzney Doctorem || vnd Professo=||rem zů || Marpurg.|| Marburg: F. Rhode 1529 [4°, (8) Bl.].
Cordus, Euricius (1534): EVRICII || CORDI SIMESVSII MEDICI || Botanologicon.|| ... ||. Köln: Johann Gymnich 1534) [8°, 183 S., (11) Bl.]
Walch, Johann Georg (Hrsg.): M. Luther, Sämmtliche Schriften. Halle: Joh. Justinus Gebauer 1749, Bd. 21 (1749), Sp. 299, No. 269.
Fußnoten:
1 Cordus 1534, p. 33: „Satius est à preceptore quam ueritate discedere. […] Potiora sunt rationis que authoritatis momenta “.
2 Cordus 1534, Titelblatt: „HEVS Medice. Vis uarias aliter quàm doctus es hactenus herbas Scire, nouus multas iste libellus habet“.
3 Cordus 1534, p. 26f.: „Maxime enim ruri delector, ubi corman uiuas illas, de quibus domi legeram, herbas as commendatas memorie effigies conferi & contemplor, ipsasque tum nomenclaturas, tum etiam uires ab osurjs uetulis exploro, dehin collatis as earum historias omnibus maturo & que sagace possum iudicio uel decerno uel opinior.“