Seit Jahren engagiert sich Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Ernst Hanisch in Afghanistan. Vor acht Jahren baute er in der zweitgrößten Stadt des Landes, Herat, zusammen mit afghanischen Ärztinnen und Ärzten das erste Brustkrebszentrum auf. Der frühere Ärztliche Direktor und ehemalige Chefarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie der Asklepios Klinik im südhessischen Langen hat in den folgenden Jahren nicht nur den medizinischen Fortschritt im Land vorangetrieben, sondern auch Freunde und – wie er selbst sagt – eine „afghanische Familie“ gefunden. Teil derer ist auch sein langjähriger Freund Dr. Aziz Jami. Nachdem die islamistischen Taliban im Jahr 2021 wieder die Kontrolle über das Land am Hindukusch eroberten (siehe Kasten), zog Jami nach Virginia in die USA. Zusammen erzählen sie im Interview über die Geschichte des Brustkrebszentrums am Kimia Hospital Herat, die Zeit der Machtübernahme durch die Taliban sowie ihre Pläne für die Zukunft. Das Interview wurde ursprünglich in Englisch geführt.
Herr Prof. Hanisch, Herr Dr. Jami, schön, dass wir trotz der Zeitverschiebung zum Gespräch finden. Erzählen Sie von den Anfängen des Brustkrebszentrums in Herat. Wie ist es dazu gekommen?
Prof. Dr. med. Ernst Hanisch: Im Jahr 2004 besuchte ich zusammen mit meinem väterlichen Freund Dr. Naim Assad zum ersten Mal Herat in Afghanistan. Dort habe ich Aziz kennengelernt. Mit der Medizinischen Fakultät Herat und der Medizinischen Fakultät der Goethe-Universität Frankfurt haben wir dann ein Austauschprogramm beziehungsweise Mentorenprogramm etabliert: 25 Kollegen kamen nach Deutschland in verschiedene Kliniken zum hospitieren. Seitdem war ich bis 2018 jedes Jahr in Afghanistan. 2011 gründeten wir die Afghanistan Surgeons Society-West (ASSW), die als Netzwerk für alle Chirurgen im westlichen Teil des Landes dient. Wie bei den Anfängen von Ärzteorganisationen in Deutschland im 19. Jahrhundert sind auch hier alle chirurgischen Disziplinen vereint. Dies war das Fundament für das Brustkrebszentrum, weil so auch der Austausch der Ärzteschaft über Brustkrebs in Afghanistan zustande kam. Die Behandlung von Brustkrebs war vorher in der Region quasi nicht existent.
Dr. Aziz Jami: Wir konnten für die Gründung der ASSW über 100 Kolleginnen und Kollegen gewinnen. Dies war ein historischer Moment für die Ärzteschaft in der Region. Die ersten konkreten Pläne für das Brustkrebszentrum starteten dann im Jahr 2016.
Hanisch: In 2017 gründeten ASSW und der Verein für Afghanistan-Förderung e. V. (VAF) in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt der Provinz Herat sowie mit Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und der Else Kröner-Fresenius-Stiftung das erste kostenfreie diagnostische und therapeutische Brustkrebsprojekt im Westen Afghanistans. Das Programm war ursprünglich für eine Laufzeit von zwei Jahren konzipiert.
...wie ging es danach weiter?
Hanisch: Da Brustkrebs nicht mein Spezialgebiet ist, habe ich mich von Eckart Krapfl, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe der Asklepios Klinik Langen, intensiv schulen lassen. Daraufhin schulte ich in einem ersten Kurs über Brustkrebs das Personal in Herat. Die Chirurginnen und Gynäkologinnen waren sehr interessiert und sie absolvierten weitere Kurse zu Brustkrebs in Indien. Das war die Grundlage für das Brustkrebszentrum. Später konnten wir auch die passenden Gerätschaften besorgen.
Wie sah/sieht die medizinische Versorgung für Frauen mit Brustkrebs in Afghanistan aus? Welche medizinischen Besonderheiten gibt es im Vergleich zu Deutschland?
Hanisch: Fast alle Krebspatienten in Afghanistan suchen das Gesundheitssystem erst sehr spät auf, was ihre Überlebenschancen stark einschränkt. Ein Mangel an Bewusstsein für die Anzeichen und Symptome von Brustkrebs sowie die Bedeutung einer frühzeitigen Diagnose sind Hauptursachen für die späte Diagnosestellung. Außerdem fehlt es in Afghanistan nach wie vor an einer umfassenden diagnostischen und therapeutischen Infrastruktur sowie an ausgebildetem Personal. Diese begrenzten Ressourcen des Gesundheitssystems führen zu verzögerten Diagnosen und unzureichender Behandlung.
Jami: Man kann Afghanistan und die entwickelten Länder nicht vergleichen, die medizinische Versorgung ist nur rudimentär. Die einzigen Behandlungsmöglichkeiten sind in den größten Provinzstädten und der Zugang für viele Menschen ist sehr limitiert, vor allem auf dem Land und für Frauen. Für viele ist allein der Weg in eine dieser Städte quasi unmöglich. Es gab vorher keinen integrierten Ansatz, der die Patientinnen von Diagnose bis zur Therapie begleitete. Zuvor gab es keine leitlinienorientierte Vorgehensweise oder Spezialisierung. Es gab zuvor auch keine Möglichkeit für eine Mammografie.
Welche Neuerungen in der Behandlung sind durch das Brustkrebszentrum entstanden?
Jami: Durch Unterstützung aus Italien und mit Hilfe von Prof. Hanisch standen die nötigen Geräte für Mammografie zur Verfügung. Diese funktionieren bis heute noch. Damals konnten auch zum aller ersten Mal Verfahren der Immunhistochemie eingeführt werden, um Antigene von Tumorzellen zu erkennen. Heute gibt es mehr als zehn private Kliniken in Afghanistan, die Mammografien, aufgrund des Erfolges in Herat, anbieten. Einige Patienten, die mit Strahlentherapie behandelt werden, müssen dafür aber noch in den Iran reisen. Dort arbeiten wir mit Kollegen zusammen, da uns dafür die Ausstattung und Ressourcen fehlen. Dies ist möglich, weil alle Beteiligten ehrenamtlich helfen.
Hanisch: Die Implementierung dieser Prozesse, von der richtigen Diagnose bis zur Entscheidung, welche Therapie man einschlägt, ist entscheidend. Die Mitarbeit der Kolleginnen und Kollegen vor Ort war wirklich außerordentlich.
Jami: Mir ist in diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen, dass Prof. Hanisch die laparoskopische Chirurgie (Schlüssellochchirurgie) nach Afghanistan brachte. Er zeigte sie mir und meinen Kollegen, wir operierten zusammen. Ich trainierte in der Folge wiederum andere Kollegen in dem Verfahren. Mittlerweile haben wir 20 Kliniken, die diese minimalinvasive Chirurgie anwenden. Das war wirklich ein historischer Fortschritt für unsere Medizin. Für dieses Engagement gehört Prof. Hanisch ein Preis verliehen!
Hanisch: (lacht) Aziz, ich danke Dir, Du schmeichelst mir!
Was war für Sie, Prof. Hanisch, ein besonderer Moment Ihrer Arbeit?
Hanisch: Während meines gestrigen Notarztdienstes traf ich auf eine mehr als 90 Jahre alte Patientin. Wir konnten sie nicht mehr reanimieren. Die Familie erzählte mir, dass sie ein Prof. Hanisch in Herat an der Schilddrüse vor vielen Jahren operiert hatte. Dann meinte ich nur: Ich bin Prof. Hanisch... Das Erstaunen war groß.
Wie haben Sie die Wochen der Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 erlebt?
Hanisch: Ich konnte es gar nicht glauben, dass sie so schnell die Macht erlangen. Auch viele meiner afghanischen Freunde konnten es nicht glauben. Ich war zu dieser Zeit hier in Deutschland und war natürlich besorgt über meine Kolleginnen und Kollegen und Freunde vor Ort.
Jami: Niemand konnte zuerst glauben, dass die afghanische Regierung so schnell kollabiert. Viele Menschen, gerade gut ausgebildete, haben zu dieser Zeit das Land verlassen. Viele hatten Angst und es herrschte natürlich große Unsicherheit, wie es auch mit dem Brustkrebszentrum weitergeht. Aber die Lage hat sich mit der Zeit stabilisiert.
Wie ist die Lage für die Ärztinnen?
Hanisch: Die Ärztinnen im Zentrum dürfen weiterhin arbeiten, weil sie unentbehrlich sind. Das Gesundheitssystem würde sonst kollabieren. In der Klinik arbeiten Frauen und Männer teilweise noch zusammen. In der Gynäkologie herrscht in Afghanistan sonst aber Geschlechtertrennung, aber das war auch schon vorher so.
Jami: Auch an der Universität in Herat wurde vorher schon getrennt unterrichtet. Prof. Hanisch musste also einen Kurs für Frauen und einen für Männer anbieten.
Chirurgen arbeiten gemischt zusammen, die Krankenpfleger sind aber jeweils auf den Krankenflügel für Frauen und Männer getrennt.
Viele junge Frauen absolvieren aber weiterhin ihre Ausbildung zur Krankenpflegerin, Hebamme oder medizinischen Assistentin, denn das sind aktuell die einzigen höheren Ausbildungen, die für Frauen erlaubt sind. Arzt können Frauen nicht mehr werden.
Wie sieht aktuell die Arbeit im Brustkrebszentrum aus?
Hanisch: Wir arbeiten zur Zeit mithilfe von Kollegen hier in Deutschland per Telemedizin mit der Klinik in Herat zusammen. Dabei unterstützen wir beispielsweise bei der Interpretation von Mammografie-Aufnahmen oder histologischen Präparaten. Wir haben aber immer noch sehr erfahrene Onkologen im Zentrum vor Ort.
Was planen Sie für das Brustkrebszentrum für die Zukunft? Wollen Sie wieder nach Afghanistan reisen?
Hanisch: Vielleicht ist es möglich, in den nächsten Jahren wieder dorthin zu reisen.
Für das Brustkrebszentrum bin ich optimistisch, dass wir die Arbeit weiterhin fortsetzen können, auch wenn die Umstände jetzt sicherlich nicht einfacher geworden sind. Auch die Finanzierung unseres Projektes ist nicht sicher. Aber wir haben immer noch ein gutes Team vor Ort.
Jami: Ich reise immer mal wieder in das Land. Für Prof. Hanisch sehe ich kein besonderes Risiko, nach Afghanistan zu kommen. Er genießt einen ausgezeichneten Ruf in Herat, die Menschen lieben ihn für das, was er für sie getan hat.
Interview und Übersetzung: Lukas Reus
Machtübernahme der Taliban und ihre Folgen
Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im Jahr 2021 war das Ergebnis eines langen Konflikts, der mit dem Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 begann. Ab Mai 2021 starteten die Taliban eine groß angelegte Offensive, als die internationalen Truppen mit dem Abzug begannen. Sie eroberten in wenigen Wochen große Teile des Landes. Die afghanische Armee kollabierte ohne die Unterstützung der NATO-Soldaten. Es kam zu fluchtartigen Evakuierungen und dramatischen Szenen, deren Bilder um die Welt gingen. Als Folge riefen die Taliban ihr „Islamisches Emirat Afghanistan“ aus und führten ein striktes islamisches Recht ein. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan wird überwiegend kritisch betrachtet, aufgrund der Auswirkungen auf Menschen- und insbesondere Frauenrechte. Mädchen dürfen in der Regel nur noch bis zur sechsten Klasse zur Schule gehen. Dennoch gibt es einige Punkte, die von Beobachtern als positiv hervorgehoben werden, vor allem im Hinblick auf Sicherheit – die Taliban, die zuvor die Anschläge verübten, sind nun an der Macht und viele Oppositionelle mussten fliehen; es gibt noch Anschläge durch den IS – und geringeren Drogenhandel und Korruption.
Laut dem Auswärtigen Amt richten sich die Anschläge auch gegen ausländische Staatsangehörige. Zudem bestehe die Gefahr, Opfer von Entführungen oder willkürlichen Inhaftierungen zu werden. Der internationale Flughafen Kabul sei zwar geöffnet, verfüge jedoch nur über ein eingeschränktes Flugangebot und wurde in der Vergangenheit bereits Ziel terroristischer Anschläge. Zudem entsprächen Infrastruktur und Flugsicherheitseinrichtungen des Flughafens Kabul nicht internationalen Standards, heißt es vonseiten des Auswärtigen Amtes.
Im Jahr 2019 lebten in der Provinz Herat über zwei Millionen Menschen, davon 556.000 (26,5 %) im Stadtgebiet. Ungefähr die Hälfte der Stadtbevölkerung war unter 19 Jahre alt. Der Großteil der Einwohner sind Tadschiken. (red)