Dr. med. Sinem Koc-Günel, Prof. Dr. med. Maria Vehreschild

Ein Abkürzungsverzeichnis finden Sie am Ende des Artikels.

Einleitung

Vier Jahre nach dem Höhepunkt der Covid-19-Pandemie stehen wir weiterhin vor den lang anhaltenden und komplexen Folgen für Patient:innen und das Gesundheitssystem. Millionen Menschen weltweit leiden an einem Long-/Post-Covid-Syndrom (PCS), einer vielschichtigen Langzeiterkrankung, die bislang nur unzureichend verstanden ist. Laut aktueller Literatur erleben ca. 10–20 % der Genesenen einer akuten Covid-19-Infektion langfristige Beschwerden wie Fatigue, kognitive Beeinträchtigungen und körperliche Einschränkungen [1–4].

Die Diagnose und Therapie des PCS bleibt weiterhin eine Herausforderung, da spezifische Biomarker und evidenzbasierte Behandlungsansätze fehlen. Der aktuelle Forschungsstand legt nahe, dass das PCS durch eine Kombination verschiedener pathophysiologischer Mechanismen verursacht wird: virale Persistenz und Reaktivierung, Autoimmunreaktionen, Veränderungen der Mikrobiota, vaskuläre Dysfunktionen und metabolische Veränderungen [2]. Diese Mechanismen können mehrere Organsysteme betreffen, was die diagnostischen und therapeutischen Anforderungen erhöht.

Ein zentraler Punkt für das Verständnis und die Bewältigung des PCS ist die Identifikation der zugrunde liegenden pathophysiologischen Prozesse. Auch wenn diese noch nicht vollständig verstanden sind, gibt es mittlerweile vielversprechende Einblicke in die komplexen Hypothesen zur Genese des PCS, aus denen erste Ansatzpunkte für gezielte Therapieoptionen abgeleitet werden können.

Pathophysiologische Mechanismen

Seit Beginn der Pandemie wurden zahlreiche Fallberichte und Studien veröffentlicht, die verschiedenste Phänomene in der postakuten Phase sowie im Langzeitverlauf einer Covid-19-Erkrankung beschreiben. Diese Berichte umfassen eine Vielzahl von Symptomen und Komplikationen, die verschiedene Organsysteme und Kompartimente des Körpers betreffen. Viele der bisherigen Hypothesen basieren jedoch auf kleineren Fallzahlen und liefern lediglich erste Einblicke, die noch durch umfangreichere Untersuchungen validiert werden müssen. Angesichts der Komplexität der Erkrankung und ihrer vielfältigen Auswirkungen wird im Folgenden ein strukturierter Überblick über die aktuellen Kernpunkte der Forschung zu PCS gegeben:

1.  Virale Persistenz und Reaktivierung

Die komplexe Symptomatik des PCS deutet auf immunologische und virologische Prozesse hin, wobei die Persistenz von SARS-CoV-2 sowie die Reaktivierung latenter Viren, insbesondere des Epstein-Barr-Virus (EBV), immer wieder als mögliche Auslöser für das PCS diskutiert werden [2, 5, 6]. Einige Studien untersuchen die Rolle von EBV-Reaktivierungen bei Covid-19- und PCS-Patient:innen [7, 8]. Es gibt Hinweise darauf, dass EBV-Reaktivierungen in Einzelfällen mit anhaltender Müdigkeit in Verbindung stehen könnten [9, 10], jedoch sind weitere Studien notwendig, um eine kausale Beziehung zu bestätigen.

Zudem wurden auch Reaktivierungen von anderen Herpesviren wie Cytomegalovirus oder humanes Herpesvirus 6 und 7 sowie humane endogene Retroviren (HERVs) mit schwereren Covid-19-Verläufen und potenziellen Langzeitfolgen assoziiert [11]. Diese Reaktivierungen werden mit einer gestörten Immunantwort in Verbindung gebracht, beispielsweise der Blockierung der Typ-I-Interferon-Antwort durch Autoantikörper, welche die unzureichende Kontrolle dieser Viren begünstigen könnte [12]. Es bleibt jedoch unklar, ob die Viren selbst pathogene Effekte haben oder durch zusätzliche entzündliche Immunreaktionen zur Entwicklung des PCS beitragen.

Untersuchungen zeigen zudem, dass bei PCS-Patient:innen in CD16+ Monozyten ein persistierendes SARS-CoV-2-Spike Protein (S1) nachweisbar ist [13], und dass SARS-CoV-2-RNA im Darm und in anderen Organen auch lange nach der Akutphase der Infektion detektiert werden kann, was auf eine mögliche Viruspersistenz hindeutet[14–15]. Es wird diskutiert, ob Virusreservoire anhaltende Entzündungen fördern, die möglicherweise zur Entwicklung von PCS-Symptomen beitragen [6].

Zusammenfassend bleiben die kausalen Zusammenhänge unklar. Die Studien beschreiben häufig Korrelationen, aber keine eindeutige Pathogenese. Es fehlt eine konsistente Definition, wie lange Virusfragmente im Körper pathogene Relevanz behalten. Die Frage, ob die Viruspersistenz Ursache oder Folge eines dysfunktionalen Immunsystems ist, bleibt ebenfalls ungeklärt.

2. Autoimmunprozesse

Neben den Hinweisen auf eine Viruspersistenz sowie eine mögliche Reaktivierung latenter Viren konnte ebenfalls gezeigt werden, dass das PCS mit Immundysregulationen einhergehen kann. In diesem Zusammenhang wurde bisher demonstriert, dass Immunzellen wie T-Zellen funktionelle Veränderungen aufweisen, darunter Erschöpfung und eine veränderte Zytokinproduktion, die die Immunregulation beeinträchtigen können [16–17].

Die erhöhte PD1-Expression auf CD4+ T-Zellen wurde während der akuten Phase von Covid-19 dokumentiert, und langfristige immunologische Veränderungen wie eine erhöhte Erschöpfung einiger T-Zellen wurden bei PCS-Patient:innen beobachtet [16, 18]. Zusätzlich wurden vermehrt aktivierte angeborene Immunzellen, ein Mangel an naiven T- und B-Zellen sowie eine erhöhte Expression von Typ-I- und Typ-III-Interferonen wie IFNβ und IFNλ1 nachgewiesen [19].

Zusätzliche Analysen zeigen, dass PCS-Patient:innen oft erhöhte Werte an IL-4– und IL-6-sezernierenden CD4+ T-Zellen sowie an nicht-klassischen Monozyten und aktivierten B-Zellen aufweisen. Gleichzeitig sind die Mengen an konventionellen dendritischen Zellen und die Cortisolspiegel im Vergleich reduziert. [18].

Diese Studien an spezifischen Subgruppen von Patient:innen liefern wertvolle Erkenntnisse und bilden eine wichtige Grundlage für weiterführende Hypothesen, die einer umfassenden Validierung in zukünftigen Untersuchungen bedürfen. Autoimmunprozesse sind bei PCS ein plausibler Mechanismus. Dennoch beruhen viele dieser Erkenntnisse auf kleinen Kohorten oder spezifischen Subgruppen von Patient:innen. Die Translation dieser Erkenntnisse in klinische Ansätze ist bisher begrenzt.

3. Endotheliale Dysfunktion

Auch Mikrogefäßveränderungen und endotheliale Dysfunktionen stehen in engem Zusammenhang mit den anhaltenden Beschwerden des PCS. Mikrothromben und eine reduzierte Kapillardichte könnten sowohl kardiovaskuläre als auch neurologische Symptome verursachen, wie Studien zeigen [20]. So wurden in kardialen MRTs bei PCS-Betroffenen selbst Monate nach der Infektion weiterhin anhaltende Herzanomalien nachgewiesen [21]. Ergänzend bieten Erkenntnisse zu endothelialem Schaden und mikrovaskulären Entzündungen, wie sie charakteristisch für Covid-19 sind, neue Ansätze, um Symptome wie kognitive Defizite und Stimmungsschwankungen durch eine beeinträchtigte Hirndurchblutung zu erklären [22, 2].

Eine Studie von Ståhlberg et al. (2024) untermauert diese Hypothese, indem sie anhand peripher-arterieller Tonometrie zeigte, dass PCS-Patient:innen auch Jahre nach der akuten Infektion weiterhin einen pathologisch veränderten Reaktiven-Hyperämie-Index aufweisen. Dies verdeutlicht die anhaltende Beeinträchtigung der Mikrozirkulation, welche die weitreichenden vaskulären und neurologischen Symptome bei PCS erklären könnte [23].

Ebenso konnten endotheliale Schäden anhand von retinaler Gefäßanalyse (RVA) am Auge gezeigt werden, welches die Bandbreite der betroffenen Körperkompartimente aufgrund geschädigter Mikrozirkulation unterstreicht [24]. Analysen von Biomarkern wie ICAM-1, das eine erhöhte Endothelaktivierung und die Anheftung von Immunzellen an Gefäßwände fördert, sowie CCL-2, das für die Rekrutierung von Monozyten und die Aufrechterhaltung chronischer Entzündungsprozesse verantwortlich ist, zeigen bei PCS-Patient:innen nach intensivmedizinischer Behandlung deutliche Hinweise auf endotheliale Dysfunktion. Diese spezifischen Veränderungen stützen die Annahme, dass eine gestörte Endothelfunktion wesentlich zur eingeschränkten Mikrozirkulation und den vielfältigen klinischen Symptomen des PCS beiträgt [25].

4. Mitochondriale Dysfunktion

Eine mitochondriale Dysfunktion wird als zentrale pathophysiologische Komponente bei PCS intensiv diskutiert. Dabei zeigen Studien eine Vielzahl struktureller und funktioneller Veränderungen in den Mitochondrien, die mit der persistierenden Symptomatik in Verbindung stehen.

Strukturelle und funktionelle Anomalien

Mitochondriale strukturelle Anomalien, darunter signifikante Schwellungen, gestörte Cristae und unregelmäßige Morphologien, wurden bei PCS-Patient:innen durch Transmissionselektronenmikroskopie nachgewiesen. Diese Befunde deuten auf eine erhöhte mitochondriale Belastung und Dysfunktion hin [26]. Muskelbiopsien von Überlebenden kritischer Covid-19-Verläufe zeigen eine verminderte Aktivität mitochondrialer Komplexe II und IV, was zum Teil mit Muskelschwäche und Fatigue in Zusammenhang gebracht wird. Es wurden außerdem Veränderungen in der Zusammensetzung der Muskelfasern festgestellt, die auf eine Verschiebung von ausdauernden, energieeffizienten Fasern (oxidative Fasern) hin zu schnelleren, aber weniger ausdauernden Fasern (glykolytische Fasern) hindeuten. Diese Veränderungen gehen mit einer verminderten Aktivität von Enzymen in den Mitochondrien einher, was die Energiegewinnung der Muskeln zusätzlich beeinträchtigt [27].

Biochemische Marker und Mitophagie

Hinweise auf mitochondriale Dysfunktion bei PCS basieren auf erhöhten Spiegeln von Superoxid-Dismutase 1 (SOD1), einem Indikator für oxidativen Stress, und autophagiebezogenen Enzymen wie ATG4B. Diese Marker suggerieren mögliche gestörte Mitophagie-Prozesse, allerdings ist ihre Spezifität für PCS bisher unklar. Gleichzeitig wurden bei PCS-Patient:innen niedrigere Konzentrationen zirkulierender mitochondrialer DNA (ccf-mtDNA) festgestellt, die als potenzieller Biomarker für das PCS dienen könnten [26]. Diese Veränderungen unterstreichen die Rolle des oxidativen Stresses und einer gestörten Autophagie in der Pathogenese.

Immunometabolische Dysregulation und virale Manipulation

Zusätzlich zeigen neuere Studien, dass eine gestörte Sauerstoffextraktion und oxidative Phosphorylation in Verbindung mit immunometabolischen Dysregulationen stehen. Dies führt zu einer erhöhten Laktatbildung und einer Verschiebung zu anaeroben Stoffwechselwegen, die insbesondere bei körperlicher Belastung die Symptome verschärfen können. Solche bioenergetischen Dysfunktionen können mit der Persistenz von viralen Antigenen und einer anhaltenden Immunaktivierung korreliert werden, wie sie bei dem PCS beobachtet werden [28]. Virale Manipulationen der mitochondrialen Funktionen spielen ebenfalls eine Rolle. SARS-CoV-2 und andere Viren beeinflussen gezielt mitochondriale Prozesse, um die zelluläre Energieversorgung zugunsten ihrer Replikation umzuleiten und gleichzeitig die Immunabwehr des Wirts zu schwächen. Diese Veränderungen können über die akute Infektion hinaus bestehen bleiben, insbesondere wenn die mitochondriale DNA dauerhaft geschädigt wird. Dieser Mechanismus unterstützt die „Hit-and-Run“-Hypothese, nach der virale Angriffe mitochondriale Dysfunktionen verursachen, die langfristig bestehen bleiben und eigenständige klinische Syndrome fördern können [29].

Langfristige Folgen und Bedeutung

Die Rolle mitochondrialer Dysfunktionen als Verbindung zwischen akuten Infektionen und chronischen, nicht-übertragbaren Erkrankungen wird zunehmend erkannt. Studien zeigen, dass mitochondriale Schäden nach SARS-CoV-2-Infektionen, HIV und antiviralen Therapien persistieren können. Diese Dysfunktionen beeinträchtigen die Energieproduktion auf zellulärer Ebene, was zu dauerhaften Symptomen wie Fatigue, Muskelschwäche und kognitiven Einschränkungen führen kann [29].

Besonders relevant ist die Frage, ob mitochondriale Dysfunktionen die primäre Ursache für PCS darstellen oder als sekundäre Folge auftreten. Ihre potenzielle Bedeutung als diagnostischer Biomarker oder therapeutisches Ziel bleibt unklar. Erste Ansätze zur Stabilisierung mitochondrialer Funktionen, etwa durch Antioxidantien oder Maßnahmen zur Förderung der Mitophagie, sind Gegenstand laufender Forschung.

5. Mikrobiom als Katalysator

Die Rolle des Mikrobioms, insbesondere des Darmmikrobioms, für die Entwicklung eines PCS wird zunehmend als Schlüsselfaktor in der Pathogenese und Persistenz der Symptome diskutiert. Eine Veränderung der physiologischen Zusammensetzung der Mikrobiota steht dabei im Zentrum der Diskussion. Studien belegen eine Assoziation zwischen einer SARS-CoV-2-Infektion und einer veränderten Zusammensetzung der Darmmikrobiota, die mit einer Dysregulation der Immunantwort und verstärkten systemischen Entzündungsprozessen einhergeht [30]. Eine integrierte Analyse von Metagenomik und klinischen Parametern identifizierte zwei unterschiedliche Cluster, von denen eines mit schwereren Covid-19-Verläufen und der Entwicklung von PCS assoziiert war. Dieses Cluster war durch spezifische bakterielle, fungale und virale Zusammensetzungen sowie durch eine reduzierte Diversität der Mikrobiota gekennzeichnet [31].

Diese Ergebnisse unterstreichen die potenzielle Nutzung des Mikrobiomprofils als prädiktives Werkzeug für Krankheitsverläufe und -schwere. Veränderungen im Mikrobiom bei PCS könnten nicht nur bakterielle, sondern auch fungale und virale Komponenten umfassen, die potenziell die Immunmodulation und Entzündungsprozesse beeinflussen. Der genaue Mechanismus und die klinische Relevanz dieser Veränderungen sind jedoch noch nicht abschließend geklärt. Eine reduzierte Alpha-Diversität und funktionelle Veränderungen wie eine reduzierte Produktion von kurzkettigen Fettsäuren wurden bei Patient:innen mit PCS beobachtet [32].

Die Alpha-Diversität beschreibt die Vielfalt der Mikroorganismen in einer bestimmten Umgebung – in diesem Fall im Darm. Eine reduzierte Diversität wird häufig mit einer gestörten Darmflora in Verbindung gebracht, die für die allgemeine Gesundheit und die Immunregulation essenziell ist. Solche funktionellen Abweichungen könnten die gastrointestinale und systemische Homöostase beeinträchtigen.

Neurologische und neuropsychiatrische Symptome

Es wird ebenfalls vermutet, dass das Mikrobiom eine Rolle bei neurologischen und neuropsychiatrischen Symptomen des PCS spielen könnte. Hinweise aus aktuellen Studien legen nahe, dass eine veränderte Zusammensetzung möglicherweise über die ‚Darm-Hirn-Achse‘ zur Entstehung kognitiver Dysfunktionen beiträgt [33]. Erste Hinweise deuten darauf hin, dass diese Dysregulationen mit einer chronischen Aktivierung des Immunsystems verbunden sind, was neurologische Symptome wie „Brain Fog“ fördert. Die mikrobiellen Veränderungen beim PCS eröffnen möglicherweise neue Ansätze für diagnostische und therapeutische Interventionen. Eine veränderte Diversität und Funktion des Mikrobioms könnte als Biomarker zur Identifikation von Patient:innen mit einem erhöhten Risiko für schwere Krankheitsverläufe dienen [34].

Therapeutische Ansätze wie Mikrobiomtransplantationen oder probiotische Interventionen werden zunehmend untersucht, um das Gleichgewicht der Mikrobiota wiederherzustellen und die Symptome zu lindern [33]. Langfristige Studien sind notwendig, um die Wirksamkeit von mikrobiombasierten Interventionen bei PCS zu bewerten. Veränderungen in der mikrobiellen Zusammensetzung könnten zur Aufrechterhaltung von Entzündungen und immunologischen Dysfunktionen beitragen, die für PCS charakteristisch sind. Zudem wird eine gestörte Mikrobiota mit einer verlängerten Virusausscheidung und der Chronifizierung von Symptomen in Verbindung gebracht [31].

Obwohl erste Studien vielversprechend sind, bleibt die klinische Anwendung begrenzt. Mikrobiomtransplantationen und ähnliche Ansätze sind weiterhin experimentell. Um evidenzbasierte Behandlungsstrategien für PCS zu entwickeln, sind weitere Studien nötig, die die zugrunde liegenden Mechanismen aufklären.

6.  Autonome Dysregulation

Das posturale Tachykardiesyndrom (POTS) wird als eine Form der kardiovaskulären autonomen Dysfunktion bei Patient:innen mit PCS beschrieben. Studien zur Häufigkeit variieren, mit Prävalenzangaben von bis zu 30 % in spezifischen Kohorten stark symptomatischer Patient:innen. Das POTS äußert sich durch eine übermäßige Herzfrequenzsteigerung beim Aufstehen (> 30 Schläge pro Minute) sowie durch Symptome wie orthostatische Intoleranz, Fatigue, „Brain Fog“ und Brustschmerzen.

Studien legen nahe, dass sowohl SARS-CoV-2-Infektionen als auch Covid-19-Impfungen POTS bei prädisponierten Personen durch immunologische Mechanismen auslösen können, während die Langzeitprognose und spezifische Behandlungsmöglichkeiten noch unklar sind [35].

Laut weiteren Studien beschränkt sich die autonome Dysfunktion nicht nur auf das POTS, sondern umfasst auch andere Manifestationen wie orthostatische Hypotonie, vasovagale Synkopen und gastrointestinale Störungen. Diese Störungen treten häufig in Verbindung mit einer Fehlregulation des sympathischen und parasympathischen Nervensystems auf, was zu Symptomen wie Schwindel, Übelkeit, veränderten Schweißmustern und gestörter Temperaturregulation führt [36].

Es wird vermutet, dass diese Dysfunktionen durch eine Kombination verschiedener pathophysiologischer Mechanismen verursacht werden. Zu den Hauptfaktoren gehören entzündliche Prozesse, die durch eine überschießende Immunantwort auf die SARS-CoV-2-Infektion ausgelöst werden, insbesondere durch erhöhte Zytokinspiegel wie IL-6 und TNF-α, die die Funktion des autonomen Nervensystems beeinträchtigen können. Darüber hinaus spielen autoimmune Reaktionen eine Rolle, bei denen Autoantikörper gegen adrenerge und muskarinische Rezeptoren die Signalübertragung im sympathischen und parasympathischen Nervensystem stören. Auch eine Schädigung der Blut-Hirn-Schranke, die die Freisetzung proinflammatorischer Moleküle ermöglicht, scheint zu einer Dysregulation in zentralen Nervenzentren wie dem Hypothalamus zu führen, welche die autonome Kontrolle weiter beeinträchtigt [37, 36].

Diagnosestellung inklusive Scoring-Systemen

Die Vielfalt der Symptome und die Multisystemnatur des PCS erfordern eine umfassende, interdisziplinäre Diagnostik. Nach der S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (DGP) bleibt das PCS eine Ausschlussdiagnose. Eine umfassende hausärztliche Betreuung und Aufklärung über die meist gute Prognose des Syndroms sind zentrale erste Schritte. Beim Screening auf ein PCS Syndrom haben sich standardisierte Fragebögen für Fatigue (z. B. Fatigue Severity Score), Dyspnoe und Konzentrationsstörungen bewährt. Bei schwerer Beeinträchtigung der Lebensqualität oder persistierenden Symptomen (> 12 Wochen) ist eine Vorstellung in einer PCS-Spezialambulanz angezeigt. In spezialisierten PCS-Ambulanzen werden vertiefte diagnostische Abklärungen durchgeführt, um die vielfältigen Symptome besser einzuordnen und andere organische Ursachen für die PCS-assoziierten Symptome auszuschließen. Untersuchungen zu Biomarkern wie Zytokin-Level oder viraler Persistenz, die aktuell vor allem im Rahmen von Studien erfolgen, könnten langfristig zusätzliche Erkenntnisse liefern, um die Diagnosestellung zu erleichtern und personalisierte Therapieansätze zu entwickeln [38].

Insbesondere Tests zur Identifikation von POTS, Small-Fiber-Neuropathie sowie kognitive Tests wie der MoCA-Test (Montreal Cognitive Assessment Test) haben sich als vielversprechend erwiesen. Darüber hinaus bieten neu entwickelte digitale Tools die Möglichkeit, Symptome patientenzentriert zu erfassen. Insbesondere in Studiensettings unterstützen solche Anwendungen die standardisierte Datenerhebung und ermöglichen zugleich erste telemedizinische Ansätze für Diagnostik und Verlaufskontrolle.

Therapie

Da spezifische diagnostische Marker und evidenzbasierte Behandlungen für das PCS fehlen, werden verschiedene pharmakologische Off-Label-Therapien als mögliche Optionen diskutiert. Diese Ansätze basieren auf Erkenntnissen zu ähnlichen Erkrankungen wie ME/CFS oder Syndromen, die uns aus anderen Kontexten geläufig sind, wie zum Beispiel dem POTS und zielen auf die multisystemische Natur des PCS ab. Es handelt sich dabei um potenzielle Therapieansätze, deren Wirksamkeit und Sicherheit im Zusammenhang des PCS jedoch noch nicht ausreichend durch Studien belegt sind. Im Folgenden werden aktuelle wissenschaftlich fundierte Annahmen dargestellt.

Pharmakologische Ansätze beim Post-Covid-Syndrom: Off-Label-Therapien und Studienperspektiven

1.  Regulation der autonomen Dysfunktion

  • Beta-Blocker und Ivabradin: Diese Medikamente werden bei Patient:innen mit posturalem Tachykardiesyndrom (POTS) eingesetzt, das häufig beim PCS auftritt. Ihr Einsatz basiert auf Erfahrungen aus der Behandlung von POTS in anderen Kontexten.

2.  Neuromodulation und Fatigue-Behandlung

  • Low Dose Naltrexon (LDN): Dieses Medikament könnte durch seine entzündungshemmenden und immunregulierenden Eigenschaften bei PCS-Symptomen wie Fatigue und neurokognitiven Einschränkungen helfen. Bisherige Erkenntnisse stammen jedoch aus Beobachtungsstudien und präklinischen Modellen [39].
  • Bupropion: Bupropion, das die Verfügbarkeit von Dopamin und Noradrenalin erhöht, zeigt in anderen Kontexten, wie etwa bei krebsassoziierter Fatigue [40], positive Effekte. Beim PCS existieren jedoch noch keine ausreichend validierten Studienergebnisse, die eine breite Anwendung rechtfertigen.

3. Entzündungshemmung und Mastzellstabilisierung

  • Antihistaminika (Cetirizin, Loratadin): Medikamente wie Cetirizin und Loratadin werden als potenzielle Optionen für die Stabilisierung von Mastzellen und die Reduktion entzündlicher Prozesse betrachtet. Ihre Wirksamkeit beim PCS ist jedoch nur anekdotisch dokumentiert und bedarf weiterer systematischer Untersuchung [41].
  • Statine: Statine zeigen entzündungshemmende Effekte auf vaskulärer Ebene und könnten vaskuläre Dysfunktion positiv beeinflussen [42].

4. Behandlung von kognitiven Symptomen und neurologischen Beschwerden

  • Low Dose Aripiprazol (LDA): In niedriger Dosierung könnte dieses Medikament neuroinflammatorische Prozesse beeinflussen und bei Symptomen wie „Brain Fog“ helfen. Der Einsatz basiert bisher auf Hypothesen und ersten Beobachtungsstudien [43].
  • Venlafaxin (SNRI): Dieses Medikament zeigt potenziellen Nutzen bei serotoninassoziierten Symptomen, jedoch fehlt der spezifische Nachweis für das PCS.

5.  Durchblutungsfördernde und neurologische Medikamente

  • Pyridostigmin (Mestinon): Pyridostigmin wird aufgrund seiner Wirkung auf die autonome Regulation als potenzielle Therapieoption bei POTS und ME/CSF betrachtet [44]. Sein Nutzen beim PCS wird aktuell untersucht, ist aber noch nicht etabliert.
  • Vericiguat: Dieses Medikament fördert die Durchblutung und könnte bei vaskulärer Dysfunktion eine Rolle spielen. Auch hier sind die Ergebnisse für das PCS bislang spekulativ, werden aber aktuell im Rahmen der „VERI-LONG”-Studie getestet.

6.  Antivirale Therapie

  • Nirmatrelvir/Ritonavir: Antivirale Medikamente werden intensiv erforscht, insbesondere für Subgruppen von Patient:innen. Eine randomisierte Phase-2-Studie [45] zeigte jedoch keine signifikante Verbesserung der Erholung im Vergleich zu Placebo, was die Notwendigkeit weiterer Forschung unterstreicht.
  • Vidofludimus Calcium (IMU-838): Dieses Medikament, ein DHODH-Inhibitor, zeigt entzündungshemmende und antivirale Effekte. Eine Phase-2-Studie [46] deutete auf eine signifikante Reduktion der Fatigue-Symptomatik hin, jedoch ist der spezifische Einsatz beim PCS Gegenstand der laufenden RAPID-Revive-Studie.

7.  Schmerztherapie

  • Pregabalin und Duloxetin: Diese Medikamente sind bei persistierenden neuropathischen Schmerzen nach Covid-19 Infektion bewährt und könnten beim PCS symptomatisch wirksam sein [47].

→ Viele der erwähnten Off-Label-Therapien wie Low-Dose-Naltrexon oder Antihistaminika basieren auf Hypothesen, Fallberichten oder Beobachtungsstudien. Medikamente wie Vidofludimus Calcium sind vielversprechend, befinden sich jedoch in frühen Entwicklungsphasen. Trotz der Vielfalt potenzieller Behandlungsoptionen bleibt die evidenzbasierte Versorgung von PCS-Patient:innen eine Herausforderung. Bis belastbare Ergebnisse vorliegen, sollte die Therapie individuell und interdisziplinär erfolgen, wobei der Fokus auf symptomatischer Linderung und Rehabilitation liegt.

Symptommanagement und Rehabilitation

Die Rehabilitation von PCS-Patient:innen erfordert multimodale Ansätze, die individuell auf die vielfältigen Symptome abgestimmt sind. Die S1-Leitlinie empfiehlt ein an der „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) orientiertes Konzept, das verschiedene Therapiebausteine miteinander kombiniert:

  • Atemtherapie: Verbesserung der Lungenfunktion und Atemkapazität, insbesondere bei PCS-Patient:innen mit anhaltender Dyspnoe und chronischem Husten [48].
  • Physio- und Bewegungstherapie: Ein schrittweise aufgebautes, individuell angepasstes Training kann helfen, Fatigue zu lindern und die körperliche Belastbarkeit sowie Muskelkraft zu steigern [49].
  • Fatigue-Management:
    • Pacing-Techniken: Betroffene lernen, ihre Energie gezielt einzuteilen und Überlastungen zu vermeiden, um eine Stabilisierung der Symptomatik zu erreichen [50].
    • Psychosomatische Unterstützung: Verhaltenstherapeutische Ansätze fördern die Krankheitsbewältigung und steigern die Lebensqualität.
  • Kognitive Rehabilitation: Neuropsychologische Übungen sind essenziell, um Aufmerksamkeit, Gedächtnis und exekutive Funktionen bei PCS-Patient:innen mit kognitiven Einschränkungen gezielt zu fördern.
  • Psychosoziale Unterstützung: Neben Verhaltenstherapien helfen Entspannungsverfahren bei der Bewältigung von Depressionen, Anpassungsstörungen und krankheitsbedingtem Stress.
  • Ergotherapie und Logopädie: Diese Therapien zielen darauf ab, motorische und sprachliche Einschränkungen zu verbessern und die Alltagskompetenz zu stärken.

In Deutschland bieten zahlreiche Rehabilitationszentren spezifische Programme für PCS-Patient:innen (U09.9) an. Diese Zentren arbeiten interdisziplinär mit Fachgebieten der Infektiologie, Pneumologie, Neurologie und Psychosomatik zusammen. Allerdings erschweren lange Wartezeiten und eine begrenzte Verfügbarkeit, besonders in ländlichen Regionen, den Zugang. Telemedizinische Ansätze könnten hier eine entscheidende Rolle spielen, um Versorgungslücken zu schließen und die Rehabilitation flächendeckender zugänglich zu machen.

Ein Beispiel hierfür ist die ReCOVer-Studie, die in der TU Dresden durchgeführt wird und die App-basierte Ansätze zur Unterstützung von PCS-Patient:innen mit psychischer Belastung bietet. Solche telemedizinischen Angebote folgen den evidenzbasierten Empfehlungen der S1-Leitlinie und erweitern die Möglichkeiten der personalisierten Rehabilitation.

Zusammenfassung und Ausblick

Das Post-Covid-Syndrom bleibt eine komplexe und anhaltende Herausforderung für das Gesundheitssystem und die Betroffenen. Als Ausschlussdiagnose erfolgt die Diagnostik weiterhin symptomorientiert, ergänzt durch standardisierte Instrumente wie den PCS-Score oder den Fatigue Severity Scale (FSS). Essenziell sind multimodale Therapieansätze, die Fatigue-Management, Bewegungstherapie und kognitive Rehabilitation kombinieren, um die Lebensqualität der Patient:innen zu verbessern.

Innovative telemedizinische Lösungen eröffnen neue Möglichkeiten, insbesondere in Regionen mit begrenztem Zugang zu spezialisierten Behandlungsangeboten. Pharmakologische Off-Label-Therapien sollten ausschließlich im Rahmen kontrollierter Studien angewendet werden, da ihre Wirksamkeit und Sicherheit außerhalb solcher Settings kritisch zu bewerten ist.

Langfristig ist eine intensive Forschung zu den pathophysiologischen Mechanismen und die Entwicklung personalisierter Behandlungsstrategien unerlässlich. Nur durch ein besseres Verständnis der zugrunde liegenden Prozesse und die Integration evidenzbasierter Ansätze können die Versorgung der Betroffenen nachhaltig verbessert und die Auswirkungen dieser Erkrankung gemindert werden.

Dr. med. Sinem Koc-Günel, Prof. Dr. med. Maria Vehreschild

Goethe-Universität, Universitätsklinikum Frankfurt, Medizinische Klinik II, Infektiologie, E-Mail: Koc-Guenel@med.uni-frankfurt.de

Die Literaturangaben finden Sie hier.

Abkürzungsverzeichnis
ATG4BAutophagy Related 4B Cysteine Peptidase
ccf-mtDNAZirkulierende mitochondriale DNA
CCL-2CC-Chemokin-Ligand-2
CD4+; CD16+Cluster of Differentiation
DHODHDihydroorotate Dehydrogenase
EBVEpstein-Barr-Virus
HERVHumane Endogene Retroviren
HIVHumanes Immun- defizienz-Virus
ICAM-1Intercellular Adhesion Molecule 1
IL-4;IL-6Interleukin-4; -6
INFInterferon
LDNLow Dose Naltrexon
ME/CFSMyalgische Enzephalomyelitis
MoCA-TestMontreal Cognitive Assessment Test
MRTMagnetresonanz- tomographie
PCSLong-/Post-COVID- Syndrom
PD1Programmed cell death protein 1
POTSPosturale Tachykardie-Syndrom
RVARetinale Gefäßanalyse
SOD1Superoxid-Dismutase 1
TNF-αTumornekrosefaktor- alpha