Sieben Monate vor dem ursprünglichen Ende der Legislaturperiode wird in Deutschland nach dem Bruch der Ampel neu gewählt. In vielen Gesprächen höre ich, wie schwer es vielen fällt, sich für eine der Parteien zu entscheiden. Für manche überzeugt ein Parteiprogramm, aber nicht die handelnden Personen. Andere finden in allen Parteiprogrammen Ideen, die nicht überzeugen. Oft klingt auch Resignation in diesen Überlegungen mit.

Die Gefahr ist groß, dass dies zu einer schlechten Wahlbeteiligung führt. Umfragen spiegeln häufig eine pessimistische Grundstimmung, die sicher auch durch die vielen Krisen der Gegenwart begründet sind. Die Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine, Klimaziele, die nicht erreicht werden, das fehlende Wirtschaftswachstum sind Gründe für Verunsicherung. Die Suche nach vermeintlich einfachen Antworten in sozialen Medien führt zu algorithmisch personalisierten Informationsangeboten, die sich auf die individuelle Meinungsbildung auswirken. So kennt der Resonanzraum von mal subtil und mal ganz explizit verbreiteten menschenverachtenden und gar rechtsextremen Botschaften kaum Grenzen.

Vertun wir uns nicht – auch unsere Demokratie ist verletzlicher, als wir lange Zeit wahrhaben wollten. Wie schnell es gehen kann, die Demokratie von innen auszuhöhlen, zeigen Beispiele aus jüngerer Zeit, auch in Europa.

„Unsere Demokratie ist verletzlicher, als wir lange Zeit wahrhaben wollten.“

In Artikel 1 unseres Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Diese elementare Verpflichtung lässt sich nicht einfach an den Staat oder die Politik outsourcen: Es ist Aufgabe von jeder und jedem Einzelnen, die Würde des Menschen zu schützen.

Was wir aus meiner Sicht jetzt brauchen, ist ein starkes Signal für die Demokratie.

Ausgrenzung und Abwertung widersprechen unserem ärztlichen Selbstverständnis und jeder von uns ist gefragt, diesem Verhalten, wann immer wir es erleben, entgegenzutreten und nicht wegzuschauen. Respekt, Toleranz, Menschlichkeit und Wertschätzung sind die Grundvoraussetzung unseres ärztlichen Handelns.

Die Grundprinzipien des freien ärztlichen Berufs in einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft stehen in direktem Gegensatz zu den Ideologien autokratischer Systeme. Während die Demokratie das Individuum und dessen Recht, sein Leben nach eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu gestalten, in den Vordergrund stellt, zielen rechtsradikale Ideologien auf eine Homogenisierung der Gesellschaft ab, bei der individuelle Freiheiten und Unterschiede zugunsten einer vermeintlichen kollektiven Identität unterdrückt werden.

Unser Berufsethos gebietet es, die Gesundheit aller Patienten und Patientinnen ohne Unterschied zu fördern. In einem demokratischen, sozialen und pluralistischen Gesundheitssystem ist dies möglich. Unsere ärztliche Selbstverwaltung zeigt, dass in einem selbstverwalteten System – geprägt durch Engagement und Kompetenz der Beteiligten – die Freiberuflichkeit von Ärztinnen und Ärzten geschützt wird und weit über das direkte berufliche Wirken hinaus auch ein sozialethischer und sozialkultureller Mehrwert für die Gesellschaft entsteht. Dieses Engagement, diesen Mut, voranzugehen für eine demokratische und plurale Gesellschaft, brauchen wir jetzt. Resignation und Pessimismus bringen uns nicht weiter.

Folgend ein treffendes Zitat von Erich Kästner:

„Die Weltgeschichte kennt viele Epochen, in denen dumme Leute mutig oder kluge Leute feige waren. Das war nicht das Richtige. Erst wenn die Mutigen klug und die Klugen mutig geworden sind, wird das zu spüren sein, was irrtümlicherweise schon oft festgestellt wurde: ein Fortschritt der Menschheit.“

Dr. med. Susanne Johna, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen