Der Autor arbeitet u. a. als Leitender Notarzt regelmäßig im Rettungsdienst Kassel und ist als Lehrbeauftragter für Allgemeinmedizin an den Universitäten Marburg und Gießen tätig sowie als Dozent (Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Pharmakologie, Notfallmedizin) für verschiedene Landesärzte- und Zahnärztekammern, u. a. auch für die Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung der Landesärztekammer Hessen.
Internistische Notaufnahme, Übergabe einer 92-jährigen, etwas dyspnoischen, sehr ängstlichen Patientin durch den Notarzt. Der aufnehmende Arzt stellt sich nicht vor, vermeidet Blickkontakt, wirkt unkonzentriert und fahrig. Mitten im Übergabegespräch schlägt er wortlos die Bettdecke am Fußende der Patientin zurück, drückt auf beide Knöchel, dreht sich um und verlässt den Raum. Sprachlosigkeit – auch im übertragenen Sinne – bei allen Beteiligten.
„Wir gehen respektvoll miteinander um“ ist häufig ein auf Wänden geschriebenes Motto beispielsweise in Grundschulen. Warum funktioniert das bei diesem Fallbeispiel aus der Praxis nicht, das nach meiner Erfahrung so oder ähnlich oft zu beobachten ist? Ist es Selbstschutz, Müdigkeit nach dem Dienst oder fehlende Empathie? Spielen Sprach- und Kulturbarrieren eine Rolle? Vermutlich handelt es sich um ein multifaktorielles Geschehen, wie so oft in der Medizin. Neben dem gefährlichen Verlust von wichtigen Informationen in der Übergabesituation gelingt auf diese Weise sicher kein Aufbau von Vertrauen als wichtigstem Grundbestandteil einer stabilen Arzt-Patientenbeziehung.
Szenenwechsel: unfallchirurgische Notaufnahme. Der Notarzt übergibt eine 65-jährige Patientin nach Reposition einer Sprunggelenksluxationsfraktur, sie ist aufgrund von Analgosedierung im Rettungswagen noch etwas schläfrig, aber voll orientiert. Der aufnehmende Unfallchirurg mit Migrationshintergrund hat deutliche sprachliche Defizite. Dennoch gelingt es ihm, durch sein zuversichtliches, kompetentes Auftreten und mit einer freundlichen Vorstellung inklusive Blickkontakt schnell das Vertrauen der Patientin zu gewinnen und ihre Angst deutlich zu reduzieren.
Wir sehen hier zwei im Grunde ähnliche Alltagssituationen, die dennoch völlig unterschiedlich verlaufen. Klar wird aber: Ärztliches Handeln basiert auf Professionalität und Menschlichkeit. Neben einer guten Ausbildung sind sichere Kommunikation und suffizientes Crew Ressource Management Grundvoraussetzungen für den Behandlungserfolg, bleiben jedoch leere Vehikel, wenn die handelnden Personen nicht einsteigen. Evidenzbasierte Medizin muss einen hohen Stellenwert haben, während die Vermittlung von Hoffnung, ein Lächeln und eine Berührung gleichsam gefragt und wirksam sind und nicht auf der Strecke bleiben dürfen. Die ärztliche Persönlichkeit ist gefordert, wenn es um situativ abgestimmtes Handeln geht, um der Komplexität des Menschen gerecht zu werden.
Dr. med. Gerd Appel, Kassel, E-Mail: gerd.appel@t-online.de