Es kommt nicht jeden Tag vor, dass sich die Ärzteschaft und die Gesetzliche Krankenversicherung einig sind, doch in dem folgenden Punkt ist die Einigkeit groß. Die finanzielle Stabilität der sozialen Sicherungssysteme ist von herausragender gesellschaftlicher Bedeutung und einer der Garanten für den jahrzehntelangen sozialen Frieden in unserem Land. Dass Frieden keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist, mussten wir vor etwas mehr als drei Jahren wieder schmerzlich lernen, als Russland die Ukraine überfiel. Hier zeigte sich überdeutlich, dass es nicht hilft, eine Politik nach Art des Vogel Strauß zu machen. Das Motto „Was nicht sein darf, das kann nicht sein“ hat noch nie zu zukunftsfähigen Lösungen geführt.
Der alleinige Wunsch nach Frieden, den die überwältigende Mehrheit der Menschen hegt, reicht nicht aus, sondern es bedarf ständiger Anstrengungen und Mühen, diesen Frieden zu erhalten und ja, auch zu verteidigen. Das gilt nicht nur für internationale Konflikte, sondern auch für unseren sozialen Frieden. Mir ist bewusst, dass die neue Bundesregierung, die es beim Verfassen dieser Zeilen noch nicht gab, eine kaum zu bewältigende Fülle, um nicht zu sagen Last an gewaltigen Aufgaben zu lösen hat. Und doch muss der Blick trotz der außenpolitischen Krisen auch nach innen gerichtet werden. Das Defizit der gesetzlichen Krankenkassen ist mehr als beunruhigend, die Lage der gesetzlichen Pflegeversicherung ist besorgniserregend und die Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung gibt ebenfalls seit vielen Jahren Anlass zur Sorge.
Umso enttäuschender ist es daher, dass sich in den Reihen der Unterhändler für eine zukünftige Koalition keine Gesundheitsfachleute finden. Oder steht womöglich zu befürchten, dass alle insgeheim froh sind, dass der noch amtierende Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach öffentlich bekundet hat, das Amt weiterführen zu wollen. Zugegeben, dieses Amt war noch nie beliebt und gehört bestimmt nicht zu den bequemen Aufgaben, aber trotzdem muss ich spontan an einen Hit von Herbert Grönemeyer denken, in dem es heißt „aber der muss es nun doch wirklich nicht sein“.
Eine funktionierende Wirtschaft braucht nicht nur bezahlbare Energiepreise und ein zuverlässiges Verkehrssystem, sondern auch ein verlässliches und ausreichend finanziertes Gesundheitssystem. Weitere Reformen sind unumgänglich, denn wir werden weder die zunehmende Überalterung unserer Gesellschaft noch das immer drängendere Fachkräfteproblem ad hoc lösen können. Das wird uns allen etwas abverlangen bzw. es muss allen etwas abverlangen und darf nicht zu Lasten nur weniger Gruppen gehen. Wenn jeder sein Scherflein beiträgt, dann kann es gelingen. Das ist leicht dahingesagt und wird mit Sicherheit schwieriger als gedacht – hier muss ich gleich einen berühmten Amerikaner, nämlich Mark Twain, zitieren: „Man kann die Welt oder sich selbst ändern. Das Zweite ist schwieriger.“
Wenn wir jetzt nicht damit anfangen, könnte es bald zu spät sein. Wir werden vermutlich noch länger arbeiten müssen. Wir werden prüfen müssen, welche Leistungen wirklich unverzichtbar sind. Wir werden den Begriff der Eigenverantwortung neu diskutieren müssen. Wir müssen unser Gesundheitssystem von einem Patientenirrgarten in einen übersichtlichen Pfad überführen. Wir werden unsere Krankenhäuser, aber auch die ambulante Versorgung auf die Aufgabe vorbereiten müssen, die auf Deutschland als Drehscheibe hinsichtlich der Versorgungsstrukturen von Alliierten in einem Konfliktfall zukommen könnte. An dieser Stelle betone ich ausdrücklich, dass wir alle hoffen, diese Vorbereitungen niemals im Ernstfall auf die Probe stellen zu müssen.
Diese Aufzählung ist nur ein kleiner Teil der vor uns liegenden Aufgaben. Wir brauchen Kreativität, Pragmatismus, Entschlossenheit und Vertrauen in die Lösungskompetenzen der vielen klugen Köpfe in unserem Land. Gerade unsere Vielfalt ist ein Pfund, mit dem wir wuchern können. Was wir nicht brauchen ist ideologisches Denken, wie wir es in den vergangenen drei Jahren hatten.
Dr. med. Edgar Pinkowski, Präsident