Frau Prof. Hahn, Sie haben die groß angelegte ELSA-Studie geleitet. Die ursprüngliche Intention des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn war, die psychischen Auswirkungen von Schwangerschaftsabbrüchen untersuchen zu lassen. Können Sie beschreiben, welche weiteren Aspekte der Versorgungslage ungewollt Schwangerer untersucht wurden?
Prof. Dr. rer. pol. Daphne Hahn: ELSA heißt „Erfahrung und Lebenslagen ungewollt Schwangerer, Angebot der Beratung und Versorgung“. Zu der ursprünglichen Forschungsfrage von Jens Spahn gibt es international bereits viele Studien. Vor der offiziellen Ausschreibung für dieses Projekt gab es zwei Expert:innenrunden, in denen die Probleme des Umgangs mit ungewollter Schwangerschaft beschrieben wurden. Daraus ist dann ELSA entstanden.
Folgende Fragen wollten wir beantworten: Welche Belastungen und Ressourcen haben Frauen mit ungewollten Schwangerschaften überhaupt? Welche Unterstützungsangebote gibt es? Erfüllen die derzeitigen Unterstützungsangebote den Bedarf von Frauen mit gewollten und ungewollten Schwangerschaften? Zusätzlich wollten wir die psychosozialen Unterstützungsangebote und die medizinische Versorgung erheben. Daraus haben wir dann ein sehr komplexes und einzigartiges Projekt konzipiert, das die verschiedenen Seiten untersucht, aber sie gleichzeitig auch aufeinander bezieht. Außerdem wurden Ärzten und Ärztinnen befragt, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, und auch diejenigen, die es nicht tun.
Haben Sie Erkenntnisse zu den psychischen Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen in der ELSA-Studie zusätzlich erhoben? Sie meinten ja, es gäbe dazu eigentlich schon gute Evidenz ...
Hahn: Die gibt es. Wir haben nicht psychische Störungen, sondern psychisches Wohlbefinden im Kontext mit einem Schwangerschaftsabbruch erhoben. Wir haben vergleichend Frauen befragt, die gewollt schwanger geworden sind und die Schwangerschaft ausgetragen haben, sowie Frauen, die ungewollt schwanger geworden sind und diese Schwangerschaft ebenfalls ausgetragen haben. Ebenso untersuchten wir ungewollt Schwangere, die einen Abbruch durchgeführt haben, und haben das psychische Wohlbefinden dieser drei Gruppen verglichen. Das ist insofern interessant, als dass bei der Gruppe der Frauen, die die Schwangerschaft abgebrochen haben, das psychische Wohlbefinden nach dem Schwangerschaftsabbruch nicht schlechter geworden ist. Vielmehr sind bestimmte Einflussfaktoren auf das Wohlbefinden sehr deutlich zu erkennen. Eine Partnerschaft ist beispielsweise wichtig. Eine große Rolle spielt aber auch das Thema Stigmatisierung bei denjenigen, die die Schwangerschaft abgebrochen haben. Es ist ein starker Einflussfaktor dafür, dass das psychische Wohlbefinden nach dem Abbruch erst mal schlecht ist, dann aber wieder besser wird. Auch der Zugang und die Erfahrung in der Versorgung sind ein wichtiger Faktor.
Die von Ihnen erhobenen Daten zeigen eine heterogene Versorgungslage: eine Deutschlandkarte mit teils schwarzen Flecken. Gibt es Regionen in Hessen, von denen man sagen kann, dass dort eine Unterversorgung von ungewollt Schwangeren besteht?
Hahn: Es gibt keine eindeutige Definition für den Zugang zu medizinischer Versorgung beim Schwangerschaftsabbruch in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht hat einmal formuliert, dass der Zugang ausreichend ist, wenn eine Tagesreise den Weg hin und zurück ermöglicht, inklusive Schwangerschaftsabbruch. Wir haben uns aber an den Formulierungen des Gemeinsamer Bundesausschusses (G-BA) orientiert, der sagt, für ambulante Versorgung für mobilitätseingeschränkte Gruppen in der Gynäkologie werden 40 Minuten Fahrzeit mit dem Pkw angesetzt. In Hessen gibt es Gegenden, beispielsweise um Fulda, Osthessen, Nordosthessen, wo Frauen einen schlechteren Versorgungszugang haben.
Liegen diese schwarzen Flecken nicht eigentlich am allgemeinen Ärztemangel, oder spielt da wirklich das Thema Schwangerschaftsabbruch eine so große Rolle?
Hahn: Der allgemeine Ärztemangel spielt sicher überall eine Rolle, aber wir haben auch Bundesländer, zum Beispiel Sachsen, wo in ländlichen Bereichen ein Ärztemangel besteht, es aber diese schwarzen Flecken nicht gibt. Dort gibt es viele Einrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, anders als in Hessen. Deshalb ist es kein gutes Argument, um den Mangel zu begründen.
Es wird gesundheitspolitisch gerade nicht nur der Ärztemangel diskutiert, sondern auch die Zentralisierung von bestimmten Eingriffen. Was halten Sie davon, dass Schwangerschaftsabbrüche auch eher in Zentren stattfinden sollten?
Hahn: Ich bin grundsätzlich nicht abgeneigt gegen eine Form von Zentralisierung, die aber keine Klinik sein muss. In Belgien beispielsweise werden große Familienplanungszentren genutzt, die verschiedene Dinge anbieten, die Partnerschaft und Familie betreffen. Das finde ich durchaus denkbar. In Deutschland gibt es ja auch solche Strukturen, die zum Teil schon Beratung übernehmen, beispielsweise der Öffentliche Gesundheitsdienst. Dieser hat meines Erachtens ein großes Potenzial, denn es gibt ihn deutschlandweit in allen Landkreisen und kreisfreien Städten. Die vorhandene Struktur könnte weiterentwickelt werden und hätte den Vorteil, dass alles, was mit dem Thema reproduktive und sexuelle Gesundheit verbunden ist, dort zu finden ist.
Die Datenlage zum Thema Schwangerschaftsabbruch scheint insgesamt nicht gut. Aus einer schlechten Datenlage erhält man nur unzureichende Ergebnisse. Wie kann die Datenlage insgesamt verbessert werden?
Hahn: Ein großes Problem war, dass wir die Daten nicht kleinräumig erheben konnten, sondern nur auf Länderebene. Die Entfernung zu Einrichtungen haben wir mit Adresslisten analysiert, die wir mühevoll und aufwendig aus unterschiedlichen Datenbanken zusammengestellt haben. Mit der Veränderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes bezogen auf die Gehsteigbelästigung wird auch der Zugang zu den Daten verändert, denn diese sollen jetzt auch auf Landkreisebene und auf Ebene der kreisfreien Städte ausgewertet werden, sodass hier jetzt hoffentlich auch der Datenzugang verbessert wird. Durch diese gesetzlichen Veränderungen werden die Daten einmal jährlich erhoben und – das ist jetzt zentral – auch zur Verfügung gestellt. So verbessert sich die Möglichkeit, die Daten kleinräumiger auszuwerten.
Beratungsstellen können den Betroffenen neben allgemeinen Informationen auch Listen zur Verfügung stellen mit Ärztinnen und Ärzten, die Abbrüche anbieten, und es gibt seit 2019 die Liste der Bundesärztekammer. Können Sie etwas darüber sagen, ob ungewollt Schwangere generell genügend Informationen bekommen zum Thema Schwangerschaftsabbruch?
Hahn: Wir haben die Betroffenen gefragt, woher sie ihre Informationen bekommen und ob sie Barrieren erlebt haben. Viele Informationen bekommen sie von der Beratungsstelle und ihren Ärztinnen und Ärzten. Interessant fanden wir, dass nur 3,5 % der Frauen über die Liste der Bundesärztekammer (enthält aktuell nur ca. 366 Adressen), an ein Angebot zum Schwangerschaftsabbruch kamen. Hingegen gaben 58,1 % aller befragten 608 Frauen mit Schwangerschaftsabbruch Informationsbarrieren an, die häufig auch mit Stigmatisierungen zu tun haben.
Bei der Versorgung spielt auch die Methode des Schwangerschaftsabbruchs eine Rolle: Es gibt medikamentöse und chirurgische Abbrüche. Woran liegt es, dass in Deutschland chirurgische Abbrüche immer noch oft als Kürettagen durchgeführt werden, obwohl diese in den WHO-Leitlinien sowie deutschen Leitlinien nicht empfohlen werden?
Hahn: Der Anteil an Kürettagen ist, wenn man sich die Bundesstatistik anguckt, relativ konstant geblieben, anders als die empfohlene Vakuumaspiration und der medikamentös durchgeführte Abbruch. Beim medikamentös durchgeführten Abbruch steigen die Anteile und bei der Vakuumaspiration sinken sie. Aber es gibt immer noch einen relativ hohen Anteil an Kürettagen, obwohl die WHO diese Methode nicht empfiehlt, da sie mit höheren Risiken verbunden ist. Das hat damit zu tun, dass die Ärzte und Ärztinnen diese erlernt haben und sich mit anderen Methoden nicht sicher fühlen.
Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der Ausbildung von Schwangerschaftsabbrüchen in der Weiterbildung und der Versorgungslage?
Hahn: Es gibt viele internationale Studien, die zeigen, dass man das, was man in der Ausbildung lernt, auch später durchführt. Das hat sich bei uns bestätigt, insbesondere, wenn Ärztinnen und Ärzte die Durchführung des Schwangerschaftsabbruches in der fachärztlichen Weiterbildung gelernt haben. Je weiter fortgeschritten die Schwangerschaft bei Schwangerschaftsabbrüchen nach Beratungsregelung ist, desto mehr zeigen sich Handlungsunsicherheiten und damit steigt auch das Risiko für die Schwangere. Bei unserer Regionalbefragung mit Gynäkolog:innen in drei Regionen fanden wir heraus, dass 87,7 % es für sinnvoll halten, das Thema in die fachärztliche Weiterbildung aufzunehmen.
Was halten Sie von der Forderung, dass auch Hausärztinnen und Hausärzte medikamentöse Schwangerschaftsabbrüche anbieten sollen?
Hahn: In anderen Ländern machen es auch die Hebammen. Ich wüsste keinen Grund, der dagegen spricht, wenn es gelernt wird. Das kann auch eine Möglichkeit sein, Versorgungsengpässe, gerade in der frühen ungewollten Schwangerschaft, zu lösen.
Wir haben als Delegiertenversammlung der Landesärztekammer Hessen einen Beschluss verabschiedet, dass wir die Versorgung von ungewollt Schwangeren verbessern wollen. Welche Maßnahmen hielten Sie für geeignet?
Hahn: Wir haben diejenigen Ärztinnen und Ärzte befragt, die keine Schwangerschaftsabbrüche durchführen, welche Barrieren es gibt, die verhindert oder reduziert werden können. Da stand an erster Stelle, dass sie es nicht machen, weil ihre Einrichtung es nicht tut oder weil die Räume fehlen. Das sind zumindest Dinge über die man nachdenken kann: z. B. Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Oder dass es auch die Allgemeinmediziner machen.
Die Anzahl der Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, nimmt ab. Es fragen sich viele, warum die jüngeren Ärztinnen und Ärzte keine Abbrüche mehr machen. Ein Thema ist dabei auch das Stigma. Haben Sie auch Erkenntnisse über das Thema Stigma bei den Ärztinnen und Ärzten erhoben?
Hahn: Ja, wir haben diejenigen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, nach Stigmatisierungserfahrung befragt. Der Anteil ist relativ hoch. 62 % insgesamt haben Stigmatisierungserfahrungen gemacht. Ich denke, dass die Verankerung des Schwangerschaftsabbruchs im Strafgesetzbuch, die den Schwangerschaftsabbruch dennoch kriminalisiert, auch die Bereitschaft beeinträchtigt, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Dass es etwas anderes wäre, wenn es eine anerkannte Gesundheitsleistung für Frauen in Deutschland wäre und es nicht mehr strafrechtlich verankert. Darüber hinaus muss sich wahrscheinlich auch die Denkweise ändern, denn Schwangerschaftsabbrüche können zu den Lebenswirklichkeiten von Frauen und Paaren gehören.
Haben Sie die Gründe von Frauen für Schwangerschaftsabbrüche auch abgefragt?
Hahn: Die Lebenssituation der Frauen spielt eine große Rolle, wenn man die gewollten ausgetragen, die ungewollten ausgetragenen und die abgebrochenen Schwangerschaften vergleicht. Die Gründe bei den ungewollten abgebrochenen Schwangerschaften sind durchaus heterogen. Das ist nicht eine Gruppe, die immer schlechte Lebenslagen hat, aber im Vergleich zu den ungewollten Schwangerschaften, die ausgetragen wurden, kumulieren bei ihnen die ungünstigen Lebenslagen. D. h. sie haben oft eine schlechtere Partnerschaft, sind in schlechteren finanziellen Situationen, verfügen nicht über angemessenen Wohnraum oder befinden sich noch in der Ausbildung. Das sind alles Gründe, die verständlich machen, warum sie sich so entscheiden.
Zum Abschluss: Wie können wir die Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen reduzieren?
Hahn: Wir sollten eher darüber nachdenken, wie ungewollte Schwangerschaften reduziert werden können. Denn wenn man sich die Situation der Frauen anschaut, finde ich es immer nachvollziehbar, warum sie diese Entscheidung fällen. Bei der Vermeidung von ungewollten Schwangerschaften ist das große Thema einerseits Verhütung. Wir wissen aus Studien, dass gerade diejenigen Frauen in schlechteren finanziellen Verhältnissen schlechter verhüten, weil sie nicht die Möglichkeiten haben, sich die sichere Methode zu leisten. Zweitens muss man sich fragen, ob sich Frauen in Ausbildung eher entscheiden würden ein Kind zu bekommen, wenn sich das besser integrieren ließe. Wichtig ist auch, dass Männer die Verantwortung für Verhütung nicht den Frauen überlassen. Bestimmte Dinge lassen sich auch nicht vermeiden: Wenn eine Partnerschaft in der Krise ist, dann ist das keine gute Voraussetzung für ein Kind. Man kann nicht jeden Schwangerschaftsabbruch verhindern.
Interview: Stefanie Minkley, Delegierte der Landesärztekammer Hessen
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