Nach der Teillegalisierung von Cannabis im April hat der Bundestag auch neue Regeln zu Cannabis im Straßenverkehr beschlossen. Wer mit 3,5 Nanogramm Tetrahydrocannabinol (THC) pro Milliliter Blut oder mehr im Auto unterwegs ist, riskiert 500 Euro Bußgeld und einen Monat Fahrverbot. Bisher galt die strikte Linie, dass schon beim Nachweis von THC Konsequenzen drohen. Über die Auswirkungen der neuen Regeln, wie die Gesetze zustande kamen und welchen wissenschaftlichen Hintergrund diese haben, hat Dr. med. Siegmund Drexler, Vorsitzender des Suchtausschusses der Landesärztekammer Hessen, zusammen mit der HÄBL-Redaktion mit Prof. Dr. Stefan Tönnes gesprochen, Leiter der forensischen Toxikologie an der Goethe-Universität Frankfurt sowie Vorsitzender der Grenzwertkommission beim Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV).
Herr Prof. Tönnes, wie kam der Grenzwert von 3,5 Nanogramm zustande?
Prof. Dr. Stefan Tönnes: Die Grenzwertkommission hat sich schon vor ca. zwei Jahren damit beschäftigt, einen neuen Grenzwert für THC im Straßenverkehr zu finden. Das Problem: Die Datenlage in der Literatur zu Cannabis im Straßenverkehr ist sehr heterogen. Die Studien liefern sehr divergierende Ergebnisse. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab. Allein die Häufigkeit des Konsums bei den Probanden und die damit zusammenhängende Gewöhnung sind schlecht charakterisiert. Weil im entsprechenden Paragrafen auch die Grenze von 0,5 Promille Alkohol im Blut ist, haben wir versucht, einen entsprechenden Grenzwert für THC zu finden. Allerdings gibt es Probleme damit, Alkohol und THC im Straßenverkehr zu vergleichen, da die Wirkungen sehr unterschiedlich sind.
Dennoch diskutierten wir intensiv, um den bis 21.08.2024 geltenden Stand zu verbessern, bei dem bereits schon bei einem Nanogramm pro Milliliter eine Sanktion erfolgt. Das ist ein rein analytischer Richtwert gewesen. Es gab keine aussagekräftige wissenschaftliche Datenlage dafür, dass bei solch niedrigen Werten das Unfallrisiko tatsächlich steigt oder Wirkungen noch messbar sind. Die ersten Auffälligkeiten in einzelnen Leistungsbereichen treten in einer bekannten Studie im Bereich von zwei bis fünf Nanogramm auf, darauf basierend hatte ich einen erhöhten Grenzwert von 3,5 Nanogramm entwickelt, welcher in der Mitte dieses Bereichs liegt. Die später eigens eingesetzte Interdisziplinäre Expertenarbeitsgruppe des BMDV, bei der ich ebenfalls beratend, aber nicht stimmberechtigt mitgewirkt habe, hat ebenfalls diesen Wert vorgeschlagen. Und der Vorschlag dieser Expertengruppe war letztendlich ausschlaggebend für das Gesetz. Die Konzeption des Grenzwertes beinhaltet drei Aspekte: eine Konzentration, bei der Wirkungen festgestellt wurden, einen möglichen Abbau zwischen Fahrt- und Blutentnahmezeitpunkt und einen Sicherheitsaufschlag. Zur Abgrenzung von dem bisher angewendeten „analytischen Grenzwert“ wird dieser Wert auch als „Wirkungsgrenzwert“ bezeichnet.
Welche Unterschiede gibt es denn in der Wirkung von Alkohol und Cannabis? Wie hoch ist das Unfallrisiko?
Tönnes: Die rauschbedingten Effekte auf die Verkehrssicherheit sind deutlich unterschiedlich in der Qualität, aber auch in der Quantität. Bei Alkohol ist die Unfallgefahr viel deutlicher ausgeprägt als bei Cannabis: in epidemiologischen Studien steigt das Unfallrisiko mit steigenden Blutalkoholwerten fast schon exponentiell. Für Cannabis ist bei THC-Serumkonzentrationen unter rund sieben Nanogramm je Milliliter kaum ein erhöhtes Unfallverursacherrisiko zu zeigen, eine klare Konzentrationsabhängigkeit des Unfallrisikos kann nicht belegt werden. Aktuelle Reviews und Metaanalysen sprechen für ein cannabisassoziiertes Unfallrisiko, das unter einer Erhöhung um den Faktor zwei liegt. Ein aus meiner Sicht wichtiger Faktor, der bei den Unterschieden zwischen Alkohol und Cannabis berücksichtigt werden muss, ist, dass bei inhalativem Cannabiskonsum der Schweregrad des Rausches eher beeinflussbar ist als bei oraler Aufnahme von Alkohol. Zudem entwickelt sich bei Cannabis eine sehr ausgeprägte Toleranz. Bei der Auswertung von Unfallstudien besteht bei THC das besondere Problem, dass ein Blutwert nicht zuverlässig etwas darüber aussagt, dass die Person unmittelbar vorher konsumiert hat oder wie stark ein Rausch ausgeprägt war. In Fahrsimulationsstudien finden sich nach kontrolliertem Cannabiskonsum teils erst bei relativ hohen THC-Konzentrationen im Blut deutliche Auffälligkeiten, so dass aus meiner Sicht Alkohol weiterhin die größte Gefahr im Straßenverkehr bleibt.
In den Medien wird oft davon gesprochen, dass die 3,5 Nanogramm einem Blutalkoholwert von 0,2 Promille entsprechen. Lässt sich das so vergleichen?
Tönnes: Nein, der Meinung bin ich nicht. In einer Studie wurden ähnliche Leistungsauffälligkeiten bei diesen Werten gezeigt, aber eigentlich war das als orientierender Vergleich gedacht, der dem nicht kiffenden Teil der Bevölkerung verdeutlichen soll, dass der Wert von 3,5 Nanogramm immer noch ein recht niedriger Wirkstoffwert ist. Es stellt allerdings keine untere Wirkungsgrenze dar. Bei Menschen, die nie oder sehr selten kiffen, kann bei einer THC-Konzentration von 3,5 Nanogramm durchaus eine signifikante Beeinträchtigung vorliegen. Ein echter Vergleich ist letztendlich aber nicht möglich.
Wie schnell baut der Körper THC ab?
Tönnes: Bei Alkohol kann man mit der bekannten Faustregel von einem Abbau von mindestens 0,1 Promille pro Stunde sehr gut vorhersagen, wann der Körper den Alkohol im Blut abgebaut hat. Bei THC verhält sich das anders, da das THC unpolar und fettlöslich ist und sich ausgeprägt im Gewebe verteilt. In einigen Studien ließ sich THC auch noch nach drei Wochen Abstinenz im Blut nachweisen. Das bedeutet aber nicht, dass es dann noch eine klinische Wirkung zeigt.
Ich habe selbst schon Studien dazu gemacht. Bei Probanden, die im Studiensetting den ganzen Tag über nicht konsumierten, konnte bspw. bei einem Probanden morgens eine THC-Konzentration von fünf Nanogramm pro Milliliter gemessen werden, und am Abend lagen immer noch vier Nanogramm je Milliliter Blutserum vor, ohne dass Auffälligkeiten in der Verfassung festgestellt wurden. Das lässt sich darauf zurückführen, dass das Gewebe weiterhin THC an das Blut abgibt, auch zu Zeiten, in denen nicht mehr konsumiert wird. Dies betrifft allerdings nur Konsumenten, die sehr häufig konsumieren. Mangels aussagekräftiger Studien kann man diesen Anreicherungseffekt in tiefen Kompartimenten derzeit noch nicht genauer vorhersagen oder einschätzen.
Wie gut sind die Analytikmethoden der Polizei vor Ort? Kann die Polizei den THC Wert überhaupt nachweisen, ohne Blut abzunehmen?
Tönnes: Es gibt gut etablierte Schnelltests für Urin und Speichel. Speicheltests haben den großen Vorteil, dass der THC-Wert im Speichel nicht mit dem im Blut korreliert, sondern nur wenige Stunden nach dem Konsum feststellbar ist. So kann man nur die Autofahrer erwischen, die wirklich relevant sind und noch unter einem unmittelbaren Rausch stehen. Aber meines Wissens nach nutzen nicht alle Bundesländer diese Tests. Das wird sich wahrscheinlich noch entwickeln. Eine weitere Möglichkeit für einen schnellen Test sind Urintests. Hierbei bleibt Cannabis mehrere Tage nach dem letzten Konsum nachweisbar. Mit keinem Testsystem kann man die THC-Konzentration im Blut abschätzen.
Auf was achten Polizisten bei der Kontrolle eines Autofahrers?
Tönnes: Da gibt es Auffall- und Ausfallerscheinungen. Zu den Auffallerscheinungen zählen bspw. die geröteten Augen oder der Geruch nach Cannabis. Zu den Ausfallerscheinungen, die auch wichtig vor Gericht sind, gehören neben Auffälligkeiten in der Fahrweise auch, ob der Gleichgewichtssinn, die Koordination oder das Auffassungsvermögen gestört sind.
Sind die Labore quantitativ und qualitativ in der Lage, das Aufkommen zu bewältigen?
Tönnes: Das tun die Labore jetzt schon. Die forensisch-toxikologischen Laboratorien haben ausreichende Kapazitäten, um den Analysenbedarf zu bewältigen. Die Polizei kann dagegen nur so viele Kontrollen oder Blutentnahmen anordnen und durchführen, wie sie Personal dafür bereit hält. Dieser personelle Aufwand wird weiterhin der Flaschenhals bleiben. Die Beamten mit der erforderlichen Ausbildung und Kompetenz kann man nicht aus dem Hut zaubern.
Setzt sich in der Gesellschaft das Recht auf Rausch durch?
Tönnes: Jetzt kommen wir in den persönlich-philosophischen Bereich. Letztendlich ist der Rausch auch etwas Menschliches. Es gibt so viele Mittel, an denen sich Menschen berauschen: Alkohol, Sport, harte Drogen, sogar Arbeit. Jedes Mittel hat seine Tücken und sicherlich sind einige Mittel wesentlich gefährlicher als andere. Es hängt von der Gesellschaft ab, was toleriert wird. Menschen werden immer etwas finden, in das sie sich flüchten können. Häufig ist es auch eine Frage der Lebensperspektive. Gute Perspektiven für und Förderung von jungen Menschen erscheinen mir als eine gute Drogenprävention.
Sehen Sie eine erhöhte Gefährdung der Jugendlichen durch die Legalisierung?
Tönnes: Ich sehe durch die Legalisierung die große Gefahr, dass sich der Konsum durch eine leichtere Verfügbarkeit weiter erhöht. Das kann zum Wegfall von Hemmungen führen und birgt die Gefahr der Entwicklung eines intensiven Konsums. Es gibt eine Befragungsstudie, die zeigt, dass gerade Menschen, die häufig konsumieren, sich kurz nach dem Kiffen ins Auto setzen. Das ist die Gruppe, die auch nachher für die Verkehrssicherheit problematisch ist, weil sie sich selbst als fahrtüchtig fehl-einschätzt und ihr Bedürfnis nach Rausch über die Sicherheit von anderen stellt.
Wie stehen Sie persönlich zum Gesetz der Cannabislegalisierung?
Tönnes: Es handelt sich in erster Linie um eine gesellschaftliche und politische Entscheidung. Ich persönlich denke nicht, dass das Gesetz ein großer Wurf ist, da es nur durch gravierende Einschnitte und Verzicht auf ursprünglich vorgesehene Regelungen mit internationalen und EU-Restriktionen kompatibel gemacht werden konnte. Cannabis ist ein Rauschmittel mit den typischen Problemen, die einem Gebrauch und insbesondere Missbrauch innewohnen. Cannabis darf nicht verharmlost werden, der Konsum birgt im Vergleich mit anderen Mitteln durchaus besondere Risiken. Ich habe allerdings den Eindruck, dass das Thema in der Öffentlichkeit teils sehr einseitig und unangemessen polarisiert dargestellt wird und zu wenig ausgewogen diskutiert wird.
Hat sich die Legalisierung bereits auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Tönnes: Nein, aber im beruflichen Kontakt mit den Ermittlungsbehörden bekomme ich die besondere Belastung mit, die sich bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft schon eingestellt hat.
Das Interview führten Dr. med. Siegmund Drexler und Lukas Reus
Biografisches
Nach dem Studium der Pharmazie und Tätigkeit im Institut für experimentelle und klinische Toxikologie in Homburg/Saar promovierte Stefan Tönnes dort 1997. Nach Habilitation in Forensischer Toxikologie wurde er 2011 zum außerplanmäßigen Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main ernannt und leitet dort den Fachbereich Forensische Toxikologie. Er ist Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Ausschüsse, u. a. Vorsitzender der Grenzwertkommission des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV), und war lange Zeit Präsident der Gesellschaft für Toxikologische und Forensische Chemie.