Prof. Dr. med. Stephan Sahm
Kein Land in der Welt, in dem nicht die Explosion der Kosten für die Gesundheitsversorgung diskutiert würde. Dies gilt in erster Linie für die reichen entwickelten Länder. In den ärmeren Ländern stellt sich die Frage anders: Wie kann der Bevölkerung überhaupt Zugang zur medizinischen Versorgung verschafft werden? Dies ist eine der großen moralischen Fragen der Gegenwart.
In den entwickelten Ländern hat sich die akademische Disziplin „Medizinethik und Bioethik“ seit Jahrzehnten etabliert, es existieren Gremien, die Regierungen und Verwaltungen beraten – analog dem deutschen Ethikrat. Dort werden ethische Herausforderungen moderner Medizin wie etwa die gerechte Organverteilung, Regelungen der Organspende, Fragen der Medizin am Lebensende (aktuell Suizidassistenz) und anderes mehr verhandelt. Der Fokus der Aufmerksamkeit und wissenschaftlichen Arbeit ist fast immer ausschließlich auf die Probleme in den jeweiligen Ländern gerichtet.
Ein blinder Fleck stellt die globale Perspektive dar. Da ist etwa die himmelschreiende Ungleichheit, betrachtet man weltweit, wie viel Menschen keinen Zugang auch nur zu medizinischer Basisversorgung haben. Medizinethik und Bioethik müssen eine globale Perspektive einnehmen, auch im Interesse reicher Länder.
Angesichts der Fülle von grenzüberschreitenden Fragestellungen ist es notwendig, zur deren Diskussion und bei der Beratung von Entscheidungsträgern in den jeweiligen Regierungen einen internationalen Austausch zu pflegen. Zu diesem Zweck wurde bereits vor vier Jahrzehnten die European Society for Philosophy of Medicine and Health Care (ESPMH) gegründet. In dieser Vereinigung sind akademisch ausgewiesene Vertreter der Medizinethik und Bioethik aus ganz Europa versammelt. Viele sind gefragte Ratgeber in ihren Heimatländern und in internationalen Gremien tätig wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Jährlich treffen sich die Experten der ESPMH zum Austausch in einem anderen europäischen Land, jüngst in Offenbach und Frankfurt am Main vom 21. bis 24. August. Der Kongress wurde vom Ketteler Krankenhaus Offenbach und vom Senckenbergischen Institut für Geschichte und Ethik in der Medizin der Universität Frankfurt ausgerichtet.
Die Leitung des Ketteler Krankenhauses will so dem gesellschaftlichen Auftrag als kirchliches Krankenhaus und seiner Positionierung in der Gesellschaft lokal und global gerecht werden – nicht nur mit intellektueller Diskussion in und mit der Gesellschaft, sondern auch mit praktischer Hilfe, indem Räume für eine Sprechstunde für Menschen ohne Krankenversicherung in der Klinik bereitgestellt werden.
Der Kongress stand unter dem Leitthema „Medizin und Markt“ (Ökonomie). Zum einen wegen der Herausforderungen der globalen gesundheitlichen Versorgung, wobei sich Defizite insbesondere im Rahmen der SARS-CoV-2-Pandemie gezeigt haben. Außerdem ist Frankfurt die „City oft the Euro“ und es liegt nahe, im Zentrum des europäischen Finanzwesens ökonomische Herausforderungen medizinischer Praxis zu diskutieren. Ein weiterer Aspekt betrifft den philosophischen Genius Loci: Weltweit ist die Frankfurter Universität aufgrund ihrer philosophischen Tradition der Kritischen Theorie bekannt. Mit ihren berühmten Vertretern wie Theodor Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas hat sie die jüngere Philosophiegeschichte geprägt. Für eine Fachgesellschaft, die die Philosophie in ihrem Namen trägt und grundlegend über ethische Herausforderungen medizinischer Praxis und Gesundheitsversorgung nachdenken will, war der Kongress willkommener Anlass, sich mit Argumenten und Gründen der kritischen Theorie zu befassen, etwa wenn es um die ethische und rechtliche Rechtfertigung von Freiheitsbeschränkungen (Lockdowns) im Rahmen einer Pandemie geht. Teilnehmer kamen aus dem Iran, Taiwan, Australien, USA, Kanada, Afrika und allen europäischen Ländern – damit wurde der Kongress zu einem globalen Forum.
Fairer Zugang zur Gesundheitsversorgung – eine globale Herausforderung
Der Kongress wurde vom Oberbürgermeister der Stadt Offenbach, Dr. Felix Schwenke, und dem Direktor des Senckenbergischen Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin in Frankfurt, Prof. Dr. med. Michael Sachs, eröffnet sowie von Prof. Dr. med. Stephan Sahm vom Ketteler Krankenhaus.
Als Eröffnungsrednerin konnte Prof. Sheila Dinotshe Tlou aus Botswana gewonnen werden. Sie war von 2004 bis 2008 Gesundheitsministerin in Botswana und unterrichtet als Professorin für Krankenpflege an der Universität Botswana. Tlou hat eine atemberaubend positive Bilanz als Ministerin bei der Bekämpfung von Aids und bei der Verhinderung von Übertragungen des Virus von Müttern auf ihre Kinder in der Schwangerschaft vorzuweisen. Sie ist heute noch für die WHO und für afrikanische Organisationen als Botschafterin und Aktivistin tätig. 2019 wurde sie von Rankingagenturen unter die einhundert wichtigsten Frauen Afrikas eingeordnet. Sie ist Co-Vorsitzende der globalen HIV-Präventionskoalition und Kanzlerin der Open University of Botswana.
In ihrem Eröffnungsreferat spannte Tlou einen weiten Bogen von den Menschenrechten zu den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen, die bis 2030 erfüllt sein sollen. Dazu gehöre auch ein Mindestmaß an medizinischer Versorgung für alle Menschen.
Auf dem afrikanischen Kontinent seien die Herausforderungen enorm. Es gelte, die u. a. auf dem afrikanischen Kontinent weit verbreitete teils krasse Benachteiligung von Frauen und bestimmten Ethnien abzubauen. Eine vordringliche Aufgabe sei es zudem, in allen Ländern Strukturen zu etablieren, die eine primäre Krankenversorgung für die Bevölkerung sicherstellen und die dann auch Basis sein können für eine faire Verteilung von Impfstoffen. Impfkampagnen setzen ein Mindestmaß an primärer Versorgungsstruktur voraus (Sozialstationen, Pflegestützpunkte etc.). Die grobe Ungleichverteilung von Impfstoffen, wie sie in der Covid-19-Pandemie zu beobachten war, sei nicht allein durch den Mangel an Impfstoff und unzureichender Bereitstellung durch reicher Länder des globalen Nordens bedingt gewesen. Auch die fehlende Infrastruktur habe einer Steigerung der Impfquoten entgegen gestanden.
Sheila Tlou, die in engem Kontakt mit vielen politischen Führern in Afrika steht, will diese nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Sie fordert sie auf, jeweils Ressourcen für die Etablierung einer Grundstruktur medizinischer Versorgung zur Verfügung zu stellen. Erst wenn eine primäre medizinische Versorgungsstruktur aufgebaut ist, kann die Solidarität reicher Länder, etwa durch Bereitstellung von Impfstoffen, überhaupt wirksam werden.
Diese Überlegungen sind kein Freibrief, verantwortliche Solidarität hintanzustellen. Es kann zu Recht als Skandal bezeichnet werden, wenn auf dem Höhepunkt der Covid-19-Pandemie nur etwa ein Prozent der Bevölkerung Afrikas eine Impfdosis erhalten hatte, wohingegen diese Rate in den entwickelten Ländern bei bis zu 80 % lag. Nicht zuletzt mit Blick auf die von der WHO jetzt mit einer höchsten Alarmstufe versehene Ausbreitung des Mpox-Virus erinnerte Tlou an die Erkenntnis, kein Land sei sicher, wenn nicht alle Länder sicher seien. Sie verwies dabei auf die Tatsache, dass angesichts globaler Mobilität heute die Eindämmung eines Virus durch klassische Maßnahmen der Prävention allein nicht gelingen könne. Eine präventiv wirksam Impfquote müsse daher in allen Ländern angestrebt werden, sonst gebe es keine Sicherheit. Daher liege eine gerechte (angemessene) Verteilung von Impfstoffen im Interesse aller Nationen.
Keine Impfgerechtigkeit weltweit
Hierzulande fordern viele eine Aufarbeitung der politischen Entscheidungen und der wissenschaftlichen Empfehlungen im Rückblick auf die Covid-19-Pandemie. Vieles spricht dafür, dass die Erregung nach der Veröffentlichung der Protokolle des RKI vermutlich unangemessen ist.1 Fachleute stellen fest, das in Deutschland keine nicht vertretbaren Entscheidungen getroffen worden seien. Etwas anders verhält es sich im Rückblick auf die globalen Verhältnisse und im Blick auf Impfgerechtigkeit. Mit dieser Frage hat sich Ndidi Nwaneri aus Nigeria befasst. Sie plädierte eindringlich für eine Solidarität für andere. Diese unterscheide sich von dem umgangssprachlich als Solidarität mit anderen bezeichneten humanen Impuls. Solidarität für andere schließe ein, entsprechende politische Strukturen national und international zu schaffen, die eine angemessene Verteilung von Impfstoffen und gerechten Zugang zur Gesundheitsversorgung auch in Zeiten pandemischer Bedrohung sicherstellen. Die Philosophin und Sozialwissenschaftlerin stellte nüchtern fest, solange es keine Weltregierung gebe, bleibe nur der mühsame Weg, die Nationalstaaten zur Solidarität für andere zu motivieren. Diese Solidarität stehe im konkreten Fall nicht selten den Interessen der Staaten entgegen. Staatskunst sei es, zunächst die Interessen der Bürger einer Nation zu vertreten. Diese Haltung sei jedoch Grund drastischer Ungleichheiten. Nwaneri verwies auf den kläglichen Ausgang der Covax-Initiative der WHO im Rahmen der Covid-19-Pandemie. Ziel dieser Initiative war es, allen Ländern eine angemessene Menge an Impfdosen zukommen zu lassen. Reiche wie arme Länder sollten aus diesem Pool Impfstoffe erhalten. Jedoch kauften die reichen Länder neben dieser Initiative Impfdosen in einer Menge, dass der Markt rasch leer war. Auch Zusagen, die finanziellen Mittel für die Finanzierung der Covax-Initiative bereitzustellen, wurden nicht eingehalten. Dies hatte eine krasse Ungerechtigkeit der Verteilung von Impfstoffen zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden zur Folge. Es ist den besonderen Charakteristika des Virus geschuldet, dass Afrika doch einigermaßen glimpflich durch die Pandemie kam. Das sei jedoch kein Erfolg internationaler Hilfsbereitschaft gewesen, so Nwaneri und zitierte den Generalsekretär der Vereinten Nationen Antonio Guterres unter Anspielung auf die Vergabe von Schulnoten: „Wissenschaftstest bestanden, Ethik unzureichend!“
Freiheit und Gesundheit – ein konfliktreiches Verhältnis
Weitere Probleme wurden besprochen, die vor allem Länder des globalen Nordens betreffen. So die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gesundheit, das Prof. Dr. iur. Klaus Günther in den Blick nahm. Er ist Professor für Strafrecht & Strafprozessrecht und Vertreter der Kritischen Theorie sowie Gründer des Clusters Normative Orders an der Goethe-Universität. Unzweifelhaft setze Freiheit ein Mindestmaß an Gesundheit voraus, damit Freiheit überhaupt gelebt werden könne. Seit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates sei die Förderung der Gesundheit ein Ziel des Staates. Gleichwohl rechtfertige das Ziel, Gesundheit wiederherzustellen oder zu erhalten, nicht jede die Freiheit einschränkende Maßnahme. Keine Theorie oder Methode, so Günther, könne dieses Spannungsfeld ein für alle Mal auflösen. Er plädierte für eine Abwägung und sorgfältige Prüfung im Einzelfall. Der Referent ließ es offen, doch lassen sich daraus Schlüsse ziehen im Blick auf die allenthalben vorgetragenen Forderungen, die politischen Entscheidungen der Pandemie aufzuarbeiten. Eine intensive Diskussion über alle einzelnen Schritte und Entscheidungen hat zweifelsohne in Deutschland jeweils stattgefunden. Daraus folge jedoch nicht, dass sich jede Entscheidung im Nachhinein als richtig und sinnvoll erwiesen hätte – vielmehr sei dies ein Hinweis, dass sie pro ante sorgfältig geprüft waren und damit rechtfertigbar. Einschlägige Entscheidungen des Verfassungsgerichts bestätigten diese Einschätzung.
Künstliche Intelligenz (KI)
Zum Thema künstliche Intelligenz referierte der Mathematiker und Philosoph Jan Mikelson. Er lehrt am College of Engineering, Art & Technology der Makerere University in Kampala, Uganda, und ist Datenmanager bei der Science Nanoleg AG in Zürich. Die Medizin sei gewohnt, mit Daten (etwa aus Laboruntersuchungen oder aus physikalischen Verfahren) umzugehen, deren exakter Prozessverlauf, geschweige denn deren nosologisch kausale Beziehungen ebenfalls unbekannt seien. Auch komme es beim Einsatz von KI darauf an, die Bedeutung der Resultate für die jeweiligen Entscheidungen in Studien zu überprüfen. Die Bewertung der Resultate bleibe ein Akt der Evaluation in Menschenhand.
In einem Seminar wurde die Anwendung von KI speziell in der Psychiatrie vertieft. Es mache einen Unterschied, ob ein psychisch kranker Mensch sich von einer Person (hermeneutisch) verstanden weiß, oder ob die Diagnose allein aufgrund eines digitalen Kontaktes durch künstliche Intelligenz erhoben wurde. Die Krankheit werde so gleichsam versachlicht, objektiviert und möglicherweise somatisiert.
Welche medizinische Versorgung schulden wir Fremden?
Die medizinische Versorgung von Migranten, von Asylsuchenden, in anderen Worten Fremden in einer Kommunität, wird in allen Ländern kontrovers diskutiert. Die Frage, welche medizinischen Leistungen Menschen in Not geschuldet sind, lässt sich nicht leicht beantworten. Unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte, die eine gleiche medizinische Versorgung für alle Menschen auf dem Erdball einschließen, wären alle Maßnahmen allen geschuldet. Andererseits sind Gesichtspunkte eines Kommunitarismus zu berücksichtigen: Die Voraussetzungen medizinischer Versorgung können nur aufrecht erhalten werden, wenn Bürger der jeweiligen Staaten ihren Pflichten gegenüber der Gemeinschaft nachkommen (etwa durch Steuerzahlungen).
Mit diesem Spannungsfeld befasste sich Rolf Ahlzén, Schweden. Nach eingehender Analyse ethischer, rechtlicher und philosophischer Gesichtspunkte sprach er sich für einen weichen Kosmopolitanismus aus. Im akuten Krankheitsfall seien basale Versorgungen für alle geschuldet. Außerordentliche und intensiv Ressourcen verbrauchende Maßnahmen dürften jedoch durchaus den Mitgliedern, das heißt den Staatsbürgern des jeweiligen States, vorbehalten werden, wie Ahlzén am Beispiel eines migrantischen Patienten mit Notwendigkeit einer Organtransplantation illustrierte. Dabei machte er deutlich, dass jede Entscheidung (Zuteilung aller Maßnahmen an alle Menschen in einem geografischen Gebiet versus Vorbehalt bestimmter Maßnahmen nur für Staatsbürger der Region) mit ethischen Verwerflichkeiten einhergeht. Die Verweigerung lebensrettender, aufwendiger und kostenintensiver Maßnahmen sei jedoch zu rechtfertigen, weil sie überhaupt nur zu leisten seien, weil andere, das heißt die jeweiligen Staatsbürger, sich dem Gemeinwesen gegenüber solidarisch erweisen und regelmäßig ihre Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen erfüllen, etwa indem sie Sozialbeiträge und Steuern zahlen. Daher sei eine Bevorzugung dieser Bürger bei Knappheit von Ressourcen rechtfertigbar. Dennoch bleibe das Gefühl des humanen Ungenügens, Ahlzén sprach von „unclean ethics“.
Diskussionsfreudige Experten
Auf den Tagungen der ESPMH wird aktiver Austausch zum Teil des Programmes und die Tagung 2024 war insgesamt ein großer Erfolg.
Prof. Dr. med. Stephan Sahm, Ethikrat (Vors.), Ketteler Krankenhaus Offenbach/Institut für Geschichte und Ethik in der Medizin Goethe-Universität, Frankfurt/Main,
E-Mail: Stephan.sahm@t-online.de