Vorwort

Es gibt Ereignisse in einem Arztleben, von denen man nicht glauben mag, sie könnten sich wiederholen. Dann erlebt man das perfekte „Déjà-vu“ durch einen anderen Fallbericht im Hessischen Ärzteblatt (Ausgabe 6/2024, Seite 347 f.).

Junger Patient mit Panmyelophthise

Wochenenden sind für Ärzte im Dienst häufig voller Überraschungen, so an einem Sonntag in meiner damaligen Uniklinik: ein Anruf eines Kollegen aus einer etwas entfernt gelegenen JVA. Ein Anfang 20-jähriger Insasse sei komplett erblindet. Der Patient habe am ganzen Körper Hämatome. Das Blutbild sei so katastrophal, dass er an der Verlässlichkeit seines Labors zweifele. Er vermute eine akute Leukämie.

Ca. zwei Stunden später wurde der junge Mann eingeliefert. Die eindrucksvollen, ausgedehnten Hämatome und Suffusionen waren nicht zu übersehen; das Kolorit der übrigen Haut unterschied sich kaum vom weißen Anstrich des Aufnahmeraumes. Der Patient war geschwächt, müde und blind, jedoch ansprechbar. Auf der Notaufnahme war ein Augenspiegel vorhanden: Ich sah am Augenhintergrund nur die blaue Hämatomfarbe.

Das Ergebnis der Laboranalyse zeigte: Im Blutbild waren keine Thrombozyten, keine Leukozyten nachweisbar, die Hämoglobinkonzentration lag unter 5 g/dl. Der Patient konnte zu seiner Krankengeschichte zunächst fast nichts beitragen; er habe jedoch einen Medikamentenplan bei sich, in dem das Medikament Myleran® mit 2 x 1 Tablette pro Tag aufgeführt war.

Myleran® (Busulfan) ist ein zytostatisch wirkendes Alkylantienmedikament, das schwere Knochenmarksdepressionen hervorrufen kann. Es wurde damals relativ häufig in der Behandlung von Leukämien und von Polyzythämien eingesetzt. Von derartigen Erkrankungen war dem Arzt der JVA jedoch nichts bekannt.

Der Patient erhielt zunächst das, was er dringend brauchte: Thrombozyten- und Erythrozytenkonzentrate. Die augenärztliche Prognose der Amaurose nach Auflösung der Hämatome wurde als günstig eingeschätzt. Nach den Transfusionen konnte sich der Patient zur Anamnese äußern.

Nach einem Autounfall als Kleinkind sei er mehrere Male neurochirurgisch operiert worden, über eine Liquorfistel seien dann bei ihm mehrmals Meningitiden aufgetreten. Es habe sich eine Epilepsie entwickelt, die zunächst mit Mylepsinum® (Primidon) behandelt worden sei. Dann sei von einem anderen Arzt die Therapie auf Myleran® umgestellt worden. Dieses Mittel sei ihm dann u. a. auch von seinem betreuenden neurochirurgischen Zentrum weiter verschrieben worden. Unglaublich, und doch plausibel: Hier waren ein Zytostatikum und ein Antiepileptikum, beide mit vier gleichen Anfangsbuchstaben, verwechselt worden.

Der Chef der Hämatologie des Klinikums führte noch am Sonntagabend eine Knochenmarkspunktion durch: ein quasi „leeres“ Knochenmark ohne Zeichen einer hämatologischen Erkrankung. Der junge Mann wurde in einem sogenannten Isolierzimmer untergebracht und mit erythro- und granulopoesestimulierenden Faktoren behandelt. Endlich erholte sich das Knochenmark, das Sehvermögen war wieder normal. Krampfanfälle hatte er zudem in der Zeit nicht erlitten. Er konnte schließlich die Klinik verlassen.

Er blieb ein besonderer Patient. Jedes Mal stellte er viele medizinische Fragen, zum Beispiel wie man eine Lungenentzündung diagnostiziert und behandelt. Er interessiere sich sehr für Medizin. Dann verlor ich ihn aus den Augen.

Entstehung der Verwechslung

Eine Indikation für eine antiepileptische Behandlung dürfte bestanden haben, unter Mylepsinum® (Primidon) scheinen keine Krampfanfälle mehr aufgetreten zu sein. Da der junge Mann ein recht „unstetes“ Leben mit häufigen Ortswechseln geführt hat, wurden spätere Kontrollen von unterschiedlichen Ärzten durchgeführt, die auch dann die Rezepte ausstellten. Insofern war nicht herauszufinden, wo sich die Medikamentenverwechslung ereignet hatte. Allerdings war im Rahmen der fortgesetzten Myleran®-Therapie auch eine „Folgerezeptausstellung“ in der neurochirurgischen Ambulanz einer norddeutschen Universitätsklinik erfolgt. Offensichtlich war nie ein Auslassversuch der antikonvulsiven Medikation erfolgt. Da auch unter Myleran® und während der wochenlangen Überwachung in unserem Krankenhaus keine Krampfanfälle auftraten, hätte man auf das antiepileptische Mylepsinum® wohl längst verzichten können.

Prävention

Der Klinische Pharmakologe des Klinikums und der Leiter des Rudolf-Buchheim-Instituts für Pharmakologie haben sich in der Folge dafür eingesetzt, dass Namensähnlichkeiten bei Arzneimittel mit völlig unterschiedlichen Indikationen aus Sicherheitsgründen vermieden werden sollten. Erst als dann Medikamente mit „hinweisenden Suffixen“ auf den Markt kamen: -tidin für H-2-Rezeptorblocker, -pril für ACE-Hemmer, -prazol für Protonenpumpeninhibitoren oder -sartane für Angiotensin-II-Antagonisten schien hier ein gewisser Fortschritt erreicht. Eine Verwechslung innerhalb der gleichen „pharmakodynamischen“ Substanzgruppen hätte zumindest keine schwerwiegenden Folgen haben können. Dieser Sicherheitsaspekt geht dann aber teilweise verloren, wenn ähnlich klingende Abkürzungen zulässig sind. Beispiel: Eine Verwechslung von „ASS“ mit „ACC“ ist sprachlich vielleicht ein „Lapsus“, kann aber z. B. nach einem gefäßchirurgischen Eingriff schnell fatale Folgen haben kann.

Unerwartetes Nachspiel

Einige Jahre später las ich einen Artikel in einer medizinischen Wochenschrift über „falsche Ärzte“.

Der Name meines ehemaligen Patienten war auch dabei. Es wurde erwähnt, er habe seine medizinischen Kenntnisse als Patient einer Universitätsklinik erworben. Wenn er es war (Vor- & Nachname passten), hat er sich als sogenannter, aber falscher Hausarzt in die Nähe des Ortes in Norddeutschland begeben, an dem ihm wohl zum ersten Mal fehlerhaft Myleran® verordnet wurde. Vielleicht hat er geglaubt, dass man ihm dort etwas schuldig sei.

Prof. Dr. med. Friedrich Lübbecke, apl. Prof. für Innere Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen, Uelzen