Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach irrt, wenn er den Ärztemangel in Abrede stellt, meint Dr. med. Susanne Johna, 1. Vorsitzende des Marburger Bundes: Es gibt strukturelle Probleme, die nicht zu ignorieren sind.

Es ist das ewige Mantra in der Diskussion um den Ärztemangel: In Deutschland fehlen keine Ärztinnen und Ärzte, sie sind nur schlecht verteilt. So hört man es seit Jahren von den Krankenkassen, so hört man es auch jetzt wieder vom früheren Vorsitzenden des Sachverständigenrats Gesundheit und Pflege (SVR Gesundheit), Prof. Gerlach. Im Interview mit der „Ärzte Zeitung“ spricht er von Mythen und „undifferenzierten Behauptungen“, die „in fast jedem Statement“ zu hören seien. Er selbst ist sich ganz sicher: „Es gibt zwar disziplinäre und regionale Engpässe, aber keinen allgemeinen Ärztemangel, keine generelle Überalterung, keine überdurchschnittliche Abwanderung in andere Bereiche und es gibt keinen Zusammenhang zwischen Arztzahlen und Baby-Boomern.“

Etwas differenzierter sollte man die Sache schon betrachten. Denn ohne Einbeziehung des aktuell und prospektiv zur Verfügung stehenden Arbeitsstundenvolumens ergibt sich leicht ein schiefes Bild. Es reicht eben nicht, vor allem Köpfe zu zählen, dann daraus eine vermeintliche „Arztdichte“ abzuleiten und auf dieser Grundlage anhand von Vergleichen mit Ländern, die eine deutlich jüngere Bevölkerung haben, Schlussfolgerungen zu ziehen. Wer das aktuelle Jahresgutachten „Fachkräfte im Gesundheitswesen“ des SVR Gesundheit aufmerksam liest, wird zwar auch den zutreffenden Hinweis finden, dass sich die Anzahl der Ärztinnen und Ärzte in den vergangenen Jahren kontinuierlich erhöht hat. Zugleich aber erläutert der Rat auch, wie diese Zahl einzuordnen ist:

„Die Anzahl der Ärztinnen und Ärzte erlaubt nur einen eingeschränkten Rückschluss auf die zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte. Daher sind die Vollzeitäquivalente (VZÄ) zu berücksichtigen, also der Abgleich der gearbeiteten Stunden mit den üblichen Arbeitsstunden eines Vollzeiterwerbstätigen. Im Vergleich der absoluten Anzahl der Ärztinnen und Ärzte mit den entsprechenden VZÄ über die Zeit zeigt ein Trend zu zunehmender Teilzeitarbeit. Seit dem Jahr 1991 stieg die Anzahl der in Krankenhäusern tätigen Ärztinnen und Ärzte um 111 Prozent, wohingegen in Bezug auf die VZÄ nur ein Anstieg von 82 Prozent zu verzeichnen ist. Benötigte man im Jahr 1991 noch 103 Ärztinnen und Ärzte für den Beschäftigungsumfang von 100 Vollzeitarztkräften im Krankenhaus, so waren hierfür 2022 bereits 120 Personen notwendig.“

Auch Gerlach spricht davon, dass „Teilzeit, sprich weniger Arbeitseinsatz“ zu verzeichnen sei, misst diesem Trend aber zu wenig Beachtung bei. Die Zahlen sprechen jedoch eine klare Sprache: In den Kliniken haben inzwischen knapp ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte ein Beschäftigungsverhältnis unterhalb der Regelarbeitszeit. Auch bei den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten nimmt das Arbeitsstundenvolumen insgesamt ab, wie aus der aktuellen Statistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ersichtlich ist: Von den 95.208 zugelassenen Vertragsärztinnen und Vertragsärzten hatten im Jahr 2023 bereits 11,4 Prozent einen hälftigen Versorgungsauftrag; im Jahr 2013 lag dieser Anteil bei 4,1 Prozent. Noch höher liegt der Teilzeitanteil bei den angestellten Ärztinnen und Ärzten in der vertragsärztlichen Versorgung: 63 Prozent haben eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden oder weniger.

Über alle Alterskohorten hinweg gibt es einen ausgeprägten Wunsch nach geringeren Arbeitszeiten. Trotzdem leisten allein die angestellten Ärztinnen und Ärzte in den Krankenhäusern jährlich etwa 60 Millionen Überstunden, pro Kopf zwischen sechs und sieben Stunden pro Woche, wie die Mitgliederbefragung „MB-Monitor 2022“ des Marburger Bundes ergab. Gerlach blendet diese Tatsachen in seinem Rundumschlag einfach aus, weil sie nicht zu seiner Ansicht passen, es bedürfe nur einer besseren Koordination und Steuerung im Gesundheitswesen. Niemand bestreitet die bestehenden Koordinierungsdefizite. Wer aber in den bestehenden und prospektiven Engpässen lediglich ein Verteilungsproblem sieht, verkennt die tatsächlichen Verhältnisse. Ohne die seit Jahren stark steigende Anzahl von Ärztinnen und Ärzten mit ausländischer Qualifikation könnte die Versorgung der Bevölkerung bereits jetzt nicht mehr aufrechterhalten werden.

Es ist auch keineswegs „normal“, dass inzwischen knapp 40 Prozent der Hausärztinnen und Hausärzte 60 Jahre und älter sind. Schon jetzt ist klar, dass diese Baby-Boomer nicht durch ausreichend jüngere, hier ausgebildete Ärztinnen und Ärzte ersetzt werden können, die häufiger in Teilzeit arbeiten und mehr Wert auf geregelte Arbeitszeiten und eine gute Work-Life-­Balance legen, wie das KBV-Berufsmonitoring unter Medizinstudierenden regelmäßig darlegt.

Der Expertlnnenrat Gesundheit und Resilienz der Bundesregierung schreibt jüngst in seiner zweiten Stellungnahme: „Weder Einwanderung noch die Flexibilisierung der Anerkennung von Abschlüssen werden absehbar ausreichen, um den Bedarf quantitativ und qualitativ zu decken.“

Gerlach überschätzt auch die Anzahl der existierenden Medizinstudienplätze. Selbst wenn man Medizinstudienplätze an privaten Hochschulen hinzurechnet, wie er das ganz selbstverständlich tut, ist der aktuelle Gesamtumfang von 12.000 Studienplätzen pro Jahr nicht bedarfsgerecht. Die Studienkapazitäten entsprechen in etwa denen, die es 1990 in der alten Bundesrepublik ausschließlich an staatlichen Hochschulen gab, bei damals circa. 63 und heute rund 84 Millionen Einwohnern.

Und natürlich hat es Auswirkungen auf die Versorgung, wenn nun die geburtenstarken Jahrgänge nach und nach in den Ruhestand gehen. Diese Entwicklung wird sich bis zum Ende der 2030er-Jahre fortsetzen. Auch in vielen anderen Berufen gibt es einen Fachkräftemangel. Im Gesundheitswesen korrespondiert aber der Mangel mit einem zunehmenden medizinischen Bedarf aufgrund des steigenden Durchschnittsalters der Bevölkerung und einer im Alter höheren Krankheitslast.

Die aus dem Ärztemangel resultierenden Belastungen für das ärztliche Personal drohen die Probleme weiter zu verstärken. Ursachen und Folgen von Fachkräfteengpässen könnten eine „Negativspirale“ hervorrufen, warnt der SVR Gesundheit in seinem Gutachten: „So werden die bereits in der Ausgangssituation herausfordernden Arbeitsbedingungen durch Personalengpässe weiter verschärft. Die damit einhergehenden Folgen für Patienten und Patientinnen sowie das Personal tragen zu einer niedrigen Arbeitszufriedenheit bei und erhöhen den Wunsch nach einem Arbeitsplatzwechsel bis zum Berufsausstieg.“

Die Folgen des Ärztemangels wären besser beherrschbar, wenn die Politik endlich ernst mit ihrem Versprechen machen würde, die Patientenversorgung zu entbürokratisieren. Gerlach jedoch sieht in dem Bürokratieaufwand lediglich ein weiteres Argument, nicht noch mehr Ärzte auszubilden „und in dieses verrückte System zu jagen, um den Papierkram besser abwickeln zu können“. Das eigentliche Anliegen gerät dabei völlig aus dem Blick, nämlich der Wunsch von Ärztinnen und Ärzten, durch Entlastung von Bürokratie mehr Zeit für die Patienten zu gewinnen.

Aber auch dafür hat der frühere SVR-Vorsitzende schon eine Lösung parat: Durch Künstliche Intelligenz wird in Zukunft alles einfacher. 30 bis 40 Prozent der heutigen Tätigkeiten von Ärztinnen und Ärzten könnten, so Gerlach, durch KI und interprofessionelle Teamleistungen unterstützt oder gar ersetzt werden. Auf KI-­gestützte Systeme werden wir uns aber sicherlich nicht blindlings verlassen können. Genauso wenig wird es funktionieren, einen Mangelberuf (Ärzte) durch den nächsten (Pflege) zu ersetzen. Die ärztliche Tätigkeit wird sich verändern, das steht außer Frage. Es ist aber fahrlässig, den Ärztemangel kleinzureden und die schöne neue KI-Zukunft rosarot zu malen. Das wird den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten sicher nicht gerecht.

Dr. med. Susanne Johna, Internistin, Krankenhaushygienikerin und Gesundheitsökonomin, Oberärztin für Krankenhaushygiene am St. Josef-Hospital Rheingau in Rüdesheim, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen

Nachdruck aus der Ärzte Zeitung vom 22.8.2024, mit freundlicher Genehmigung Springer Medizin Verlag GmbH.

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