Im Zelt steht Hauptfeldwebel Daniel Wittgen und legt das Tourniquet (Aderpresse) schnell um das verwundete Bein des Soldaten auf der Liege. Die untere Hälfte des Beins wurde durch eine Mine abgesprengt. Mit jedem Herzschlag fließt Blut aus der schweren Wunde. Die Atmung ist flach. Mit gezielten Handgriffen verschließt Daniel Wittgen das Tourniquet mit dem Klettverschluss und dreht den Knebel fest. Nach wenigen Umdrehungen hört der Blutfluss auf. Leben gerettet – vorerst. Was nach einem Einsatz in einem Feldlazarett auf einem Kriegsschauplatz klingt, ist nur eine Übung. Der verwundete Soldat ist lediglich eine lebensechte Puppe mit künstlichem Blutfluss, Atmung und blinkenden Augen. Um die Liege stehen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die Beifall für die gekonnten Handgriffe des Hauptfeldwebels spenden. Sie sind Gäste auf Schloss Oranienstein zu Diez an der Lahn, das nun zum zweiten Mal Raum für das erfolgreiche Symposium zur Zivil-Militärischen Zusammenarbeit (ZMZ) bietet.
Fortbildung in historischem Ambiente
Das Symposium im Schloss Oranienstein, der „vielleicht schönsten Kaserne der Bundeswehr“, wurde von der Landesärztekammer Hessen und ihrer Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung in Kooperation mit den Landesärztekammern Rheinland-Pfalz und Saarland organisiert. Primäre ZMZ-Partner sind das Kommando Regionale Sanitätsdienstliche Unterstützung der Bundeswehr sowie deren Landeskommandos aus Hessen und aus Rheinland-Pfalz. Bei der Begrüßung durch den Hausherren von Oranienstein, Generalstabsarzt Dr. Armin Kalinowski, wies dieser auf die Bedeutung von ZMZ vor dem Hintergrund der weltpolitischen Lage hin. Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General a. D. Wolfgang Schneiderhan, der Schirmherr des Symposiums, sprach in seiner Begrüßung von der notwendigen Resilienz auf politischer, militärischer, gesellschaftlicher und medizinischer Ebene, die erst im Verbund zu einer wirkungsvollen Abschreckung führe. Auch Oberstarzt d. R. Dr. Ulrich Jürgens schloss sich als Veranstaltungsleiter dem an und führte kurz in das Thema dieses Tages ein.
Drehscheibe Deutschland
Oberst Siegfried Zeyer, Kommandeur des Heimatschutzregiments 5 in Hessen, erklärte in seinem Impulsvortrag, was militärisch unter einem Ernstfall zu verstehen sei. Man müsse sich spätestens seit dem Angriffskrieg Putins auf die Ukraine 2022, mit der denkbaren Ausweitung auf NATO-Staaten, ernsthaft mit dem Eintritt der Landes- und Bündnisverteidigung gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrags befassen. Zwar sei Deutschland, anders als während des Kalten Krieges, kein Frontstaat mehr. Es müsse aber, mitten in Europa gelegen, als Drehscheibe für die Verlegung von Truppen der NATO-Verbündeten seinen Beitrag leisten. Auch die zivile Infrastruktur müsse darauf vorbereitet werden. Deutschland werde Ziel militärischer Angriffe sein, und sei es bereits heute auf anderen Ebenen: durch Cyberangriffe, Spionage, Sabotage, Wahlbeeinflussung und Desinformation. Die Aufgabe einer Drehscheibe gelte aber auch umgekehrt: In einem Worst-Case-Szenario sei durchaus mit ein- bis zweitausend Verwundeten täglich zu rechnen, die zunächst in den Krankenhäusern Deutschlands behandelt werden müssten. Auch die medizinische Versorgung sehr vieler, zum Teil geflüchteter Zivilisten würde eine immense Herausforderung darstellen.
Generalarzt Dr. Bruno Most, Stellv. Kommandeur des Kommandos Sanitätsdienstliche Einsatzunterstützung in Weißenfels, ging in seinem Referat ebenfalls auf die Bedeutung der zivilen Infrastruktur für die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands ein. So könne man von der Ukraine lernen, die Schiene als effektiven Transport für Verwundete zu nutzen. Es bedürfe jedoch noch großer Anstrengungen seitens der Politik, um den Sanitätsdienst der Bundeswehr auf einen solchen Ernstfall vorzubereiten. Bei der Gesamtverteidigung komme es nicht nur auf die militärische Seite, sondern genauso auf die zivile Unterstützung an. Hier müssten die gesetzlichen Weichen von der Politik gestellt werden. Nicht nur die Bundeswehr brauche ein Sondervermögen, sondern auch der zivile Bereich im Gesundheitssystem benötige ausreichende Investitionen.
Kooperation mit zivilen Kliniken
Im Folgenden arbeitete Prof. Dr. Matthias Münzberg von der BG-Unfallklinik Frankfurt heraus, wie die BG-Kliniken seit 2019 mit der Bundeswehr kooperieren. So gebe es beispielsweise das Extremitätenboard, in dem man komplizierte Fälle bespreche und von der Expertise beider Institutionen profitiere. In Deutschland gebe es gerade einmal knapp über 100 Betten in den Verbrennungszentren. Im Auditorium herrschte die einhellige Meinung, dass dies für den Ernstfall nicht reichen wird. Hier kooperiere man ebenfalls mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr für ein umfassendes Konzept. Bei der Betrachtung werde zudem oft vernachlässigt, dass die Patienten nach der Akutbehandlung auch ausreichend Reha-Plätze brauchten, so Münzberg. Nicht zuletzt müsse man sich Gedanken machen, wie man genug medizinisches Material vorhalte, da man in einem Ernstfall nur wenige Tage durchhalten könne. Eine wichtige Frage sei auch der Personalstand, dieser sei bereits in Friedenszeiten sehr begrenzt.
Ausbildungen für den Ernstfall
Prof. Dr. Dr. Michael Kreinest von der BG-Unfallklinik Ludwigshafen stellte das dortige Kurs- und Simulationszentrum mit Blick auf besondere Lagen vor. Kreinest, Leiter der Stabsstelle Katastrophenmedizin, zeigte an Beispielen aus der jüngeren Vergangenheit, das Ernstlagen durchaus auch in Deutschland vorkommen. Überflutungen, weitgreifende Stromausfälle, Cyberattacken: Die Liste an Bedrohungslagen sei lang. In der Akademie des Bildungscampus der BG-Klinik Ludwigshafen biete man verschiedene Aus- und Fortbildungen für Pflegekräfte an. Beispielhaft sei hier der Umgang mit Verbrennungen oder die Ausbildung zur medizinischen Dekontaminationsfachkraft genannt. Dort lernen Teilnehmende auch den Umgang mit radioaktiver Strahlung. „Die Angst verlieren und den Respekt behalten“, beschrieb Kreinest die Essenz des Kurses.
In der anschließenden Diskussion wurde von mehreren Teilnehmern ergänzt, dass sich die aktuelle Vorbereitung unserer Gesellschaft vor allem auf Fachpersonal konzentriere. Es sei aber genauso wichtig, die Bürgerinnen und Bürger in ihrer Resilienz zu stärken, beispielsweise durch quantitativ umfangreichere Ausbildungen zum Ersthelfer. Auch müsse die zivile Verteidigungsfähigkeit mehr in den öffentlichen Diskurs gerückt werden, da dies aktuell noch nicht geschehe.
Schuss-, Splitter- und Explosionsverletzungen
Den ersten klinischen Beitrag lieferte Oberstarzt Prof. Dr. Erwin Kollig vom Bundeswehrzentralkrankenhaus in Koblenz. Generell gebe es keine spezifischen Verletzungsmuster, die nur im Krieg geschehen. Kollig verwies beispielhaft auf eine vor kurzem erfolgte Druckflaschenexplosion mit 29 Verletzten. Diese hatten ähnliche Verletzungen wie Soldaten in Afghanistan erlitten. Schuss- und Splitterverletzungen gehen immer einher mit der schweren Kontamination des Wundgewebes durch Splitter oder eingetragene Uniformreste, so Kollig. Anhand von Daten aus dem Krieg in der Ukraine sehe man, dass die meisten Verletzungen durch Artillerie hervorgerufen würden, und nur ein Teil durch direkte Schussverletzungen. 70 % seien Verletzungen der Extremitäten, da der Oberkörper in der Regel durch eine schusssichere Weste geschützt sei. Häufig übersehen würden allerdings Verletzungen der Lunge durch die Druckwellen von Explosionen. Laut Kollig seien gewisse Kenntnisse in Bezug auf die Ballistik essenziell, um Schussverletzungen in ihrer Komplexität zu verstehen. Verschiedene Ummantelungen der Geschosse hätten unterschiedliche Verwundungsfolgen. Anhand von Röntgenaufnahmen verdeutlichte Kollig die Auswirkungen verschiedener Ummantelungen bei einer Schussverletzung mit einem neun Millimeter-Kaliber. Diese könnten bei einem Treffer auf den Knochen zu sehr komplexen Splitterungen und damit zu Weichgewebsverletzungen führen. In solchen Szenarien sei es besonders wichtig, den Fokus auf die Basics der Lebenserhaltung zu legen, statt sich auf Details zu konzentrieren.
Koordination im Katastrophenschutz
Im nächsten Vortrag stellte Staatssekretär a. D. Christian Seel, ZMZ-Beauftragter des Ministeriums für Inneres, Bauen und Sport im Saarland, den Katastrophenschutz auf föderaler Ebene vor. Seel betonte, nicht zu unterschätzen, dass viele Reservisten auch bei Feuerwehr oder THW seien und man mit einem faktischen Mangel rechnen müsse. Auch die Planung, Koordination und Kooperation von Bund und Ländern, Landkreisen und Kommunen, nicht zuletzt der Bundeswehr sowie deren unterschiedlichen Aufgaben beim Katastrophen- und Zivilschutz müssten überprüft und eventuell auch rechtlich auf neue Beine gestellt werden. Dafür brauche man keine Verfassungsänderung, aber andere rechtliche Änderungen. Der OPLAN Deutschland (Operationsplan Deutschland) sei eine gute Grundlage. Das in Teilen streng geheime Dokument bündele die zentralen Anteile der Landes- und Bündnisverteidigung in Deutschland mit den dafür erforderlichen zivilen Unterstützungsleistungen. Deshalb sei es laut Seel weniger von Bedeutung, dass nicht alle Beteiligten alles kennen, sondern vielmehr, dass alle die ihnen zukommenden Aufgaben erfüllen können.
Lebensgefährliche Blutungen
Zurück zu klinischen Themen: PD Dr. Dan Bieler, Unfallchirurg am Bundeswehr-Zentralkrankenhaus in Koblenz und Koordinator der S3-Leitlinie Polytrauma, stellte die Empfehlungen zum evidenzbasierten Umgang mit lebensgefährlichen Blutungen vor. Schockmanagement umfasse vier Punkte: Blutung stoppen, Blutverlust ersetzen, Gerinnung optimieren und Wärme erhalten. Letzteres sei die einfachste therapeutische Maßnahme, die einem Schwerverletzten zugutekommen könne. Bei der manuellen Kompression, um den Blutverlust zu stoppen, komme ein Tourniquet erst zur Anwendung, wenn andere Maßnahmen gescheitert seien, da eine zu lange Anwendung eines Tourniquets letztendlich die Gefahr der Amputation der Extremität berge. Den Einsatz einer REBOA (Resuscitative Endovascular Balloon Occlusion of the Aorta), um eine nicht komprimierbare relevante Blutung im Bereich des Abdomens oder Beckens temporär zu kontrollieren, sieht Bieler kritisch. Eine Studie aus England, die die Effektivität von REBOA testen wollte, musste abgebrochen werden, da die Mortalitätsrate in der Gruppe, bei der REBOA zum Einsatz kam, höher war. Mit früher Blutgabe könne wertvolle Zeit erkauft werden, so Bieler.
Kontamination mit chemischen Kampfstoffen
Oberstarzt Prof. Dr. Dirk Steinritz vom Münchener Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr ging auf die Problematik von chemischen Kampfstoffen ein. Diese könnten bereits bei Einsatz von geringen Mengen zu einer hohen Zahl von Toten führen. Viele Kampfstoffe könnten auch zu unterschiedlichen Symptomen führen. Senfgas z. B. sei bekannt für Hautschädigungen, könne aber beim Einatmen auch schwere Lungenschäden hervorrufen. Wenn ein Verdacht auf den Einsatz chemischer Kampfstoffe bestehe, sei es sehr wichtig, eine Probe vom Patienten zu nehmen. Auch müssen Vorkehrungen getroffen werden, um die Behandelnden zu schützen. Beim Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn 1995 durch die Aum-Sekte mit dem Nervengift Sarin seien 25 % des Klinikpersonals behandlungsbedürftig geworden. Deswegen sei die Dekontamination von hoher Bedeutung, die Vorhaltung von Antidoten sei ebenso wichtig. Hochtoxische Stoffe wie VX benötigten nur geringe Mengen (siehe Foto), die Nervenkampfstoffe der Nowitschok-Gruppe könnten noch gravierendere Wirkungen haben.
Theorie und Praxis verbinden
In der Mittagspause konnten die Teilnehmer nach einer Stärkung an der Feldküche bei der eingangs erwähnten Station das korrekte Anlegen eines Tourniquets üben. Für beides zeichnete das Sanitätsregiment 2 Westerwald qualifiziert und gut verantwortlich. An einer anderen Station konnte die Dekontamination von Kampfstoffen an harmlosen Ersatzstoffen geübt werden (Foto). Hier wurde die Station durch den Dekontaminationszug des DRK Bad Soden/Taunus unter Führung von Bernd Swierzek professionell betrieben. Dr. Bernard Kuczewski, Abteilungsleiter im Amt Brandschutz/Feuerwehr der Stadt Rüsselsheim, leistete dabei tatkräftige Unterstützung.
Zusammenarbeit in der Universitätsmedizin
Oberstarzt Prof. Dr. Robert Schwab vom Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr in Koblenz referierte anschließend über die ZMZ in der Universitätsmedizin vor dem Hintergrund der Landes- und Bündnisverteidigung. Prof. Schwab zeigte beispielhaft die Zusammenarbeit an den Bundeswehrkrankenhäusern mit Universitäten und Krankenhäusern. Die Bundeswehr sei nur einsatzfähig, wenn es die entsprechende Gesundheitsversorgung gebe. Die Universitätsmedizin Mainz könne nun dank der Kooperation mit dem Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz 25 weitere Medizinstudienplätze anbieten.
Einschätzung der aktuellen geopolitischen Lage
Den abschließenden Vortrag hielt Prof. Dr. Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München. Er referierte über die veränderte geopolitische Lage seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine. Die Bedrohung für liberale Demokratien komme allerdings nicht nur von außen, sondern auch von innen. Extreme Parteien und Desinformationskampagnen würden die Gesellschaft spalten und zur Aushöhlung der Demokratie führen, warnte Masala. Positiv sei, dass die Bundeswehr Umfragen zufolge durchaus Vertrauen in der Bevölkerung genieße, die Gesellschaft müsse allerdings auf verschiedenen Ebenen resilienter werden. Resilienz bedeute, schwierige Zeiten mit klarem Kopf zu überstehen. Jede und jeder Einzelne müsse sich klarmachen, dass ein Aggressor nicht aufhöre, wenn ihm nicht klare Kante gezeigt werde. Dafür seien alle Bürger zuständig. Zum Ende sprach Masala über seine Wahrnehmung der Putinschen Kriegsszenarien gegenüber dem Westen. Jenseits der Eroberung der Ukraine verfolge Putin damit auch einen „Test“, der ihn an die deutsche Remilitarisierung (1936) des nach dem Ersten Weltkrieg von den Siegermächten besetzten und später geräumten Rheinlands erinnere. Namentlich durch die seinerzeitige Passivität der Siegermächte wurde eine der letzten Gelegenheiten verpasst, die Eroberungspläne Hitlers allein durch entschiedenes Auftreten rechtzeitig einzugrenzen. Hitler marschierte ein, und setzte sein aggressives Vorgehen immer weiter fort.
In seinen Dankes- und Abschlussworten unterstützte Dr. Edgar Pinkowski, Präsident der Landesärztekammer Hessen, die Analysen von Prof. Masala. „Um Desinformation zu erkennen, braucht es Bildung, und diese dürfen wir in unserer Priorisierung wichtiger Inhalte keinesfalls vergessen!“ bekräftigte Dr. Pinkowski.
Lukas Reus, Hessisches Ärzteblatt
Dr. med. Ulrich Jürgens, Beauftragter des Kdrs. LKdo HE zur LÄK Hessen
Dr. med. Alexander Marković, Beauftragter ZMZ, Landesärztekammer Hessen