Die Frankfurter Chirurgin Charlotte Mahler war eine bedeutende Chirurgin und einfühlsame Ärztin, spezialisiert vor allem auf operative Eingriffe bei Kindern, insbesondere Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Zusätzlich ist sie bekannt geworden durch drei „Rekorde“:

  • bereits 1922 wurde „Fräulein Charlotte Mahler“ Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie; sie war damals eines von vier weiblichen Mitgliedern dieser Gesellschaft neben insgesamt 2055 männlichen Kollegen;
  • 1945/46 war Charlotte Mahler erstmals im deutschen Sprachraum (vielleicht sogar weltweit) kommissarische Leiterin einer chirurgischen Universitätsklinik − in Frankfurt am Main;
  • 1947 wurde sie, gerade habilitiert, zur ersten Chefärztin einer chirurgischen Krankenhausabteilung im deutschsprachigen Raum gewählt: an das Bürgerhospital zu Frankfurt am Main, wo sie bis 1964 wirkte.

Alles Gründe genug, dieser bedeutenden Chirurgin anlässlich ihres 130. Geburtstages zu gedenken.

Als Zeitzeugin hat die Chirurgin Dr. med. Ingrid Hasselblatt-Diedrich, selbst lange Jahre Chefärztin der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses Sachsenhausen in Frankfurt am Main, Dr. Mahler in den 1960er-Jahren noch persönlich kennengelernt und erinnert sich:

„Ich machte damals mein Krankenpflegepraktikum im Bürgerhospital. Ich bat Frau Dr. Mahler, meine Zeit im OP und der Kinderchirurgie verbringen zu dürfen. Damals gab es noch keine ‚Anästhesisten’. Erfahrene Schwestern machten Äthertropfnarkosen mit Schimmelbuschmasken. Frau Dr. Mahler sagte zu mir: ‚Kindchen, komm mal her’ und drückte mir eine Schimmelbuschmaske mit eingelegtem Mulltuch und eine Flasche Äther in die Hand, zeigte mir, wie ich den Kiefer festhalten musste, und sagte: ‚Kindchen, tropf mal’. Wenn der Säugling eingeschlafen war, nahm ich die Maske ab. Die Chefin desinfizierte und operierte weiter den Säugling an seiner Lippenspalte, bis er wieder aufwachte und unruhig wurde. Dann erfolgte wieder dieselbe Prozedur. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, dass das damals so ging und dass nie etwas passierte. Ich merkte, welchen Respekt die Mitarbeiter vor ihrer Chefin hatten. Die Kinder liebten sie, nannten sie ‚Tante Lotte’ und bald sagte ganz Frankfurt ‚Wir gehen zu Tante Lotte’. Sie hatte eine harte Schale, das war in der damaligen Zeit verständlich, hatte aber immer ein warmes Herz für ihre Patienten. Im Bürgerhospital arbeitete sie rund um die Uhr, aus Angst es könnte ‚etwas passieren’. Sie war streng, forderte viel von sich selbst und anderen, aber es gelang ihr, der Abteilung einen exzellenten Ruf zu erarbeiten. Sie war unverheiratet und lebte nur für die Chirurgie – und züchtete Orchideen. Sie wohnte in einer Wohnung nahe des Bürgerhospitals in der Frauensteinstraße und baute ein Haus in Bad Homburg-Dornholzhausen. Einige Jahre später (1968), ich war damals junge Assistenzärztin bei ihrem Nachfolger Prof. Dr. Günther Vetter, bin ich häufig in den Nachtdiensten zu ihr ins Krankenzimmer gekommen, sie hat mir damals viel erzählt. Im Grunde war sie einsam, lebte zusammen mit ‚Friedchen’, die ihr treu den Haushalt führte. Befreundet war sie mit der langjährigen Stationsschwester Helga Gusovius und der leitenden OP-Schwester Marianne Bruchhaus.“

Charlotte Mahler wurde am 4. November 1894 in Krippehna, einem kleinen Ort mit etwa 500 Einwohnern im damaligen Kreis Delitzsch der preußischen Provinz Sachsen als Tochter eines Pfarrers geboren. Im Alter von vier Jahren verlor sie ihren Vater, dadurch geriet die Familie mit fünf kleinen Kindern in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Trotzdem konnte sie nach dem Abiturientenexamen 1914 studieren, zunächst Physik, Chemie, Mathematik und Medizin, nach vier Semestern dann ausschließlich Medizin, die ganze Zeit an der Universität Halle. Besonders beeindruckt war sie von dem dortigen Chirurgen Prof. Victor Schmieden, bei dem sie auch famulierte. Da die meisten Chirurgen kriegsbedingt „im Felde“ waren, durfte sie auch als Studentin Prof. Schmieden assistieren. „Kriegsassistentin“ nannte man das damals. 1920 erfolgte die Promotion bei Prof. Friedrich Voelcker, seit 1919 als Nachfolger von Victor Schmieden (1875–1945) als Direktor der chirurgischen Universitätsklinik zu Halle. Nach ihrem Staatsexamen (1920) und ihrer Approbation 1921 folgte sie als zunächst unbezahlte Volontärassistentin Prof. Schmieden nach Frankfurt am Main, wo dieser 1919–1945 Direktor der chirurgischen Universitätsklinik war. 1923 erhielt sie dort eine planmäßige Assistentenstelle, 1929 wurde sie Leiterin der Tuberkuloseabteilung dieser Klinik und eine Art „Funktionsoberärztin“ (würde man heute sagen), 1938 erhielt sie dann eine planmäßige Oberarztstelle. Sie besuchte für ihre Fortbildung zahlreiche Kliniken des In- und Auslandes (u. a. Berlin, London, Paris, Chicago).

Nach der Besetzung Frankfurts durch amerikanische Truppen im März 1945 wurde Mahler mit der Leitung der chirurgischen Universitätsklinik betraut, da ihr im Herbst 1944 schwer erkrankter Chef im Alter von 70 Jahren endlich trotz seiner NSDAP-Mitgliedschaft in Ehren emeritiert werden konnte und nicht wie damals üblich entlassen wurde. Seine Emeritierung war kriegsbedingt 1941 bis „nach Kriegsende“ verschoben worden. Alle anderen Oberärzte der Klinik (apl. Prof. Dr. med. Herbert Junghanns, Dozent Dr. med. habil. Heinrich Geißendörfer, Dozent Dr. med. habil. Hans-Heinrich Westermann) waren als NSDAP-Mitglieder im April 1945 entlassen worden. Dr. Mahler war somit jetzt für eine chirurgische Universitätsklinik mit etwa 300 Betten verantwortlich! Sie habe das erste halbe Jahr die Klinik nicht verlassen können, erzählte sie später. Von Mahler wurden als kommissarische Leiterin der chirurgischen Universitätsklinik vom 1. April 1945 bis 4. Februar 1946 persönlich 840 Operationen (von insgesamt 2.398, d. h. 35 %) durchgeführt. Sie beherrschte alle Gebiete des damals noch ungeteilten Faches Chirurgie: Trepanationen, Tumorchirurgie (Magen, Colon, Niere, Blase), Knochenchirurgie (Amputationen, Osteosynthesen: Platten und Marknägel), Eingriffe in der Abdominalhöhle (Appendektomien, Cholecystektomien, Magen- und Darmresektionen), Hernienchirurgie, plastische Chirurgie, Gefäßchirurgie (Embolektomien, Resektion von traumatischen Aneurysmen).

Die meisten Eingriffe gehörten aber zur septischen Chirurgie (Abszesse, Phlegmonen, infizierte Schuss- und Granatsplitterverletzungen). Als Narkoseverfahren wurden Äthernarkosen, Evipannarkosen, Lumbalanästhesien und Lokalanästhesien durchgeführt oder Chloraethyl lokal verwendet. Die Narkosen wurden von jüngeren chirurgischen Assistenten absolviert, spezialisierte Narkoseärzte gab es damals noch nicht.

Im Frühjahr 1946 habilitierte sich Dr. Charlotte Mahler an der Johann Wolfgang Goethe-Universität mit einer bereits 1944 im „Archiv für klinische Chirurgie“ publizierten Arbeit „Über Art und Behandlung von 360 Gesichtsspalten, operiert in den Jahren 1935–1942 in der Chirurgischen Universitätsklinik in Frankfurt am Main“. Die Arbeit hatte sie ihrem zeitlebens hochverehrten Chef Victor Schmieden zum 70. Geburtstag gewidmet.

Diese Erkrankungen wurden damals im Volksmund noch „Hasenscharte“ bzw. „Wolfsrachen “ genannt. Prof. Rudolf Geißendörfer (1902–1976) schrieb damals noch als leitender Oberarzt der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg (und gerade als Nachfolger Schmiedens auf dessen Empfehlung hin von der Frankfurter Fakultät vorgeschlagen) in seinem Habilitationsgutachten (vom 17.03.1946) über Mahler: „Auch hat sie sich unzweideutig dafür eingesetzt, in jedem Falle einen kosmetisch und funktionell so günstig als möglichen Verschluss der Spalten anzustreben, um die Spaltträger im Lebenskampf konkurrenzfähig zu machen, entgegen mancher damals noch herrschenden Zeitströmung, die aus eugenischen Gründen ein solches Bestreben als unerwünscht bezeichnete.“

1947 wurde Dr. Charlotte Mahler dann von der Administration der Dr. Senckenbergischen Stiftung trotz des Protestes zahlreicher niedergelassener Ärzte einstimmig zur Chefärztin der Chirurgischen Abteilung des Bürgerhospitals in Frankfurt am Main gewählt. Als Chefärztin und Ärztliche Direktorin dieses Krankenhauses war sie auch Leiterin der Krankenpflegeschule. Da Mahler nach ihrer Habilitation (1946) nur noch drei kleinere Übersichtsarbeiten in medizinischen Wochenschriften publizierte, wurde ihr von der medizinischen Fakultät der Universität zu ihrem Kummer nicht der Titel eines „außerplanmäßigen Professors“ verliehen. Im Alter von 70 Jahren trat sie 1964 in den Ruhestand und erhielt als Anerkennung für ihr Wirken das „Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland“ und die „Ehrenplakette der Stadt Frankfurt“ verliehen.

Sie starb im Alter von 79 Jahren am 12. Juni 1973 in Frankfurt am Main und wurde auf dem Hauptfriedhof beigesetzt, wo ihr Grab als Ehrengrab von der Stadt gepflegt wird. In der Todesanzeige der Dr. Senckenbergischen Stiftung (FAZ vom 15.06.1973) heißt es: „Ausgestattet mit ungewöhnlich reichen Fähigkeiten und Gaben des Geistes und des Herzens, hat sie sich in den Dienst kranker Menschen gestellt. Sie war Ärztin aus Leidenschaft und Berufung. Ihren Patienten und uns wird sie nie unvergessen bleiben.“

Prof. Dr. med. Michael Sachs, Dr. med. Ingrid Hasselblatt-Diedrich, Dr. Senckenbergisches Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Fachbereich Medizin, Universitätsmedizin, Goethe-Universität Frankfurt am Main, E-Mail via: haebl@laekh.de