Selten standen die Gesundheitsämter so im öffentlichen Fokus wie während der Coronapandemie. Mitarbeitermangel, fehlende Digitalisierung und Kontaktnachverfolgung wurden in allabendlichen Talkshows und Artikeln problematisiert und diskutiert. Über die Lehren der Coronapandemie für die Arbeit im Gesundheitsamt Marburg-Biedenkopf haben wir mit dessen Leiterin Dr. med. Birgit Wollenberg gesprochen. Die Delegierte der Landesärztekammer Hessen (LÄKH) setzt sich auch neben ihrem Beruf für die Gesundheit der Allgemeinheit ein. Seit 2008 begleitet sie das Alkoholpräventionsprojekt „Hackedicht – besser geht’s dir ohne“ der Ärztekammer. Auch bei dem kommenden Cannabisprojekt der LÄKH will sie sich engagieren. Im Gespräch legt sie auch ihre fachliche Sicht auf die Cannabislegalisierungspläne der Bundesregierung und die Rolle der Suchtprävention dar.
Frau Dr. Wollenberg, Corona ist kaum noch Thema im öffentlichen Diskurs. Wie sehr beschäftigt Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen im Gesundheitsamt das Virus noch?
Dr. med. Birgit Wollenberg: In unserem Gesundheitsamt ist der Fachdienst Corona seit dem April 2023 aufgelöst. Am Anfang haben sich fast alle Mitarbeitenden nur noch mit Corona beschäftigt, bis wir das Amt umstrukturiert und einen eigenen Fachdienst aufgebaut haben. Während der Pandemie hatten wir diesen als eigenständiges Aufgabengebiet im Haus. In dieser Zeit hatte der Fachdienst genauso viele Mitarbeitende wie das gesamte restliche Gesundheitsamt zusammen. Dies haben wir dann sukzessive abgebaut. Aktuell haben wir noch vier Mitarbeitende, die sich mit allen Fragen rund um Corona beschäftigen. Wir behandeln Corona jetzt wie viele andere Infektionskrankheiten auch. Auch die Software Sormas, die extra für die Pandemie eingeführt wurde, läuft jetzt aus und wird wieder zurück abgewickelt. Diese konnten wir zunächst kostenlos betreiben, doch für die weitere Nutzung fallen nun Kosten an.
Haben sie denn noch einen eigenen Überblick über das Infektionsgeschehen?
Wollenberg: Die Gesundheitsämter haben einen guten Überblick über alle meldepflichtigen Erkrankungen. Jetzt gibt es richtigerweise weniger PCR-Testungen auf das SARS-CoV-2 Virus. Der Überblick über die Covid-19-Infektionslage speist sich derzeit aus verschiedenen Quellen, unter anderem aus den Labormeldungen, den Arztmeldungen, den Surveillance Daten freiwillig teilnehmender Hausarztpraxen, dem Abwassermonitoring und den Meldungen der Krankenhäusern.
Wie sehen Sie die Gesundheitsämter nun gerüstet für zukünftige Gesundheitskrisen?
Wollenberg: Wir haben sehr viel durch die Pandemie gelernt. Für unser Gesundheitsamt kann ich sagen, dass wir jetzt eine Arbeitsstruktur aufgebaut haben, die in der Praxis erprobt wurde und die wir jederzeit wieder für hohe Fallzahlen reaktivieren können. Dazu zählt auch, dass wir für die Zeit zwischen Pandemien oder Krisen unsere Pläne aktualisieren und üben. Deswegen haben wir jetzt auch eine eigene kleine Abteilung, die sich mit der Vorbereitung auf Gesundheitskrisen beschäftigt.
Wie haben sich denn existierende Pandemiepläne in der Realität geschlagen?
Wollenberg: Der Pandemieplan hat uns wenig geholfen, weil vieles anders war, als es vorhergesagt wurde. Die Pläne sahen vor, dass es eine Welle gibt, danach dann eine Pause und dann eine zweite Welle, die etwas größer ist als die erste.
...und so ist es ja auch gewesen...
Wollenberg: Ja, deswegen haben wir in Deutschland die erste Welle sehr gut bewältigt. Doch dann kam die zweite Welle und die war nicht wie von uns erwartet eineinhalb Mal so groß, sondern zehnmal so groß. Wir haben uns im Sommer 2020 auf die zweite Welle vorbereitet und haben neue Mitarbeitende eingestellt und geschult. Dann hat uns aber die Höhe der zweiten Welle gezeigt, dass das nicht ausreichend war. Da haben wir dann eine Woche gebraucht, um dem Geschehen wieder hinterherzukommen. Ohne genügend flankierende politische Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen konnten die Gesundheitsämter die Infektionsketten aber nicht mehr durchbrechen.
Welche Herausforderungen gibt es darüber hinaus für die Gesundheitsämter? Wie steht es beispielsweise um die Gewinnung von Fachkräften?
Wollenberg: Wir haben einen Mangel an Fachärzten für das öffentliche Gesundheitswesen. Aber das deutschlandweit und regional unterschiedlich. Die hessischen Gesundheitsämter sind gerade in einer Weiterbildungsoffensive. Wir bilden so viel weiter wie wir nur irgendwie können. Wir haben bei den Weiterbildungsermächtigten noch eine relativ gute Dichte, gut zwei Drittel der Ämter bilden weiter. Die Weiterbildung wird uns nun auch erleichtert, da eine Pflichtveranstaltung, die früher ein halbes Jahr lang in Düsseldorf stattfand, nun auch online absolviert werden kann. So können auch beispielsweise Eltern mit kleinen Kindern leichter die Weiterbildung organisieren. Seitdem ist die Bereitschaft, diesen Facharzt zu machen, enorm gestiegen.
Eine aktuelle Herausforderung für viele Gesundheitsämter dürfte auch noch die Wiederaufnahme der Pflichtaufgaben sein, wie zum Beispiel Schuleingangsuntersuchungen. Während der Pandemie sind teilweise einige Fachkräfte abgewandert, weil die Zeit natürlich eine enorme Belastung war und sie nicht ihre eigentliche Aufgabe machen konnten.
Und wie sieht die Perspektive für die nahe Zukunft aus?
Wollenberg: Wie ein Damoklesschwert hängt der Pakt für den ÖGD über uns. Der hat zwar nötige Finanzmittel bereitgestellt, läuft allerdings in 2026 aus. Jetzt ist es unklar, wie es danach weitergeht. Die Idee des Paktes war ja, mehr Dauerstellen im ÖGD einzurichten. Das Auslaufen des Paktes ist einerseits ein Problem für das Jahr 2027, wenn Stellen wegfallen sollten, aber es ist auch jetzt schon ein Problem, weil man kaum kompetente Fachkräfte bekommt, die auch nur bis 2026 bleiben wollen. 2021 konnte man das noch vermitteln, dass es nur einen befristeten Vertrag für fünf Jahre gibt. Doch jetzt sieht das anders aus.
Insgesamt sehe ich die Gesundheitsämter allerdings gut für die Zukunft aufgestellt, da wir viele interessante Aufgaben zu bieten haben. Zu nennen sind beispielsweise die Aufgabenbereiche Prävention und Förderung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung. Auch die Anpassung an den Klimawandel ist ein neues und sehr wichtiges Thema für den ÖGD.
Neben Infektionskrankheiten ist auch die Drogenprävention ein wichtiger Teil der Arbeit. Wie sieht die bei Ihnen im Gesundheitsamt aus?
Wollenberg: Wir haben eine Kinder- und Jugendärztin, die sich besonders für die Suchtprävention engagiert. Wir arbeiten dabei mit der Fachstelle für Suchtprävention des Landkreises im Tandem zusammen. Dabei sitzen bei einem Arbeitskreis verschiedene Akteure von verschiedene Institutionen wie etwa auch Schulpsychologen an einem Tisch. Grundsätzlich liegt der Fokus des Gesundheitsamtes aber nicht darauf, einzelne Projekte zu realisieren, sondern die Vernetzungsarbeit, systematische Datenerhebung, Analyse und die Strategieentwicklung für die Landkreise und Städte stehen im Mittelpunkt.
Die USA kämpfen seit Jahren gegen eine riesige Opioidkrise mit Hunderttausenden von Toten. Welche Rolle spielen verschiedene Drogen in Ihrem täglichen Arbeitsgebiet?
Wollenberg: Opioide spielen in Deutschland zum Glück eine untergeordnete Rolle, auch wenn wir das weiterhin natürlich genau beobachten. Die Hauptaufgabe liegt bei uns bei Alkohol und Tabak. Danach kommt schon Cannabis. Wir haben zwar keine örtliche Daten, aber können aus den BZgA-Daten ablesen, dass der Cannabiskonsum gerade bei Jugendlichen zunimmt.
Sie persönlich engagieren sich auch privat seit 16 Jahren für das Alkoholpräventionsprojekt „Hackedicht“ der Landesärztekammer Hessen und klären in Schulen über die Volksdroge Nummer eins auf. Erzählen Sie uns von Ihren Erfahrungen.
Wollenberg: Die Arbeit macht unheimlich Freude, deswegen bleibe ich auch dabei. Ich merke, dass die Schülerinnen und Schüler viele Fragen haben und neugierig sind, das Thema mal aus der ärztlichen Perspektive zu sehen. Es kann aus meiner Sicht ein wichtiger Baustein der Prävention sein, wenn es als Teil eines Gesamtkonzepts von Kita, Grundschule bis weiterführende Schule eingebettet ist.
Im „Hackedicht“-Projekt kann darüber reflektiert werden, dass der Alkoholkonsum, wie er häufig in Deutschland stattfindet, nicht „normal“ oder gut ist. Wir haben viele Alkoholabhängige und viele, die sich dauerhaft psychisch und körperlich schädigen. Viele Schülerinnen und Schüler sind auch interessiert, sich Strategien gemeinsam zu überlegen, wie sie Abstand von Alkohol nehmen können. Denn die Jugendlichen machen auch ganz genaue Beobachtungen in ihrem eigenen Umfeld, bei Eltern, Verwandten und Freunden. Eine erfolgreiche Taktik ist es zu sagen, man treibe am nächsten Tag noch Sport oder habe ein Turnier. Allerdings wäre es wünschenswert, wenn der Gruppendruck für die Jugendlichen nicht so hoch wäre. Das ist auch eine gesellschaftliche Aufgabe.
Bald startet die Landesärztekammer Hessen auch ein Präventionsprojekt zu Cannabis. Welche Rolle spielt die Droge bei Jugendlichen?
Wollenberg: Wie erwähnt, steigt der Konsum bei Jugendlichen seit Jahren an. Der Bedarf für ein solches Präventionsprojekt ist deshalb auf jeden Fall da. Ich habe schon in Klassen gefragt, wer an Informationen zu Cannabis interessiert wäre und da gehen regelmäßig die Hände von Dreiviertel der Schülerinnen und Schüler hoch. Es ist gut, wenn die Ärzteschaft zu den Ersten gehört, die mit den Jugendlichen über mögliche Risiken, ohne Angst zu machen, spricht und aufklärt.
Wie blicken Sie auf die Pläne zur Cannabislegalisierung der Bundesregierung?
Wollenberg: So wie es geplant ist, ist es natürlich nicht optimal. Ich sehe da mehr Risiken als Chancen. Es ist zu befürchten, dass die Schäden durch den chronischen und übermäßigen Konsum ansteigen. Wenn man die Verfügbarkeit erhöht, erhöht sich auch der Konsum. Wir brauchen mehr Ressourcen für die Suchtprävention. Wirksame Prävention ist personalintensiv und findet vor Ort statt. Es reicht nicht ein paar Plakate an Bushaltestellen und Bahnhöfen festzukleben und dann zu hoffen, dass der Konsum bei Jugendlichen sinkt.
Befürworter der Legalisierung argumentieren, dass die Kontrolle und Qualität des Cannabis verbessert wird. Ist dadurch ein besserer Jugendschutz möglich?
Wollenberg: Wir sehen in den Ländern, in denen das Cannabis legalisiert wurde, dass dort der Konsum für diejenige, für die es legal ist, ansteigt, als auch für diejenigen, für die es weiterhin illegal ist. Das bereitet uns Sorge, denn ich befürchte, dass sich der Konsum unter Jugendlichen erhöht und wir eine steigende Zahl von Menschen mit irreversiblen psychischen und körperlichen Schäden sowie Schulabbrechern bekommen. Die Hoffnung, durch die Legalisierung den Schwarzmarkt trocken zu legen, teile ich nicht.
Das Gespräch führte Lukas Reus
Aufgaben der Gesundheitsämter/Pakt ÖGD
Zu den Hauptaufgaben eines kommunalen Gesundheitsamts gehören die Überwachung der Hygiene in den Einrichtungen der jeweiligen Kommune wie Schulen, Schwimmbäder oder Arztpraxen; die Beratung etwa von Betroffenen über Vorsorgemaßnahmen zu Krankheiten oder den Ablauf eines Schwangerschaftsabbruchs; Information und Datenerhebung bei Epidemien; Präventionsarbeit, beispielsweise in Schulen und Verwaltungsarbeit, z. B. das Ausstellen von Gesundheitszeugnissen für Mitarbeiter in der Gastronomie nach einer entsprechenden Schulung.
Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD): Bund und Länder haben in 2020 den Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst beschlossen. Damit soll der ÖGD in Deutschland mehr Mitarbeiter bekommen, modernisiert und vernetzt werden. Für die Umsetzung stellt der Bund für den Zeitraum vom 1. Januar 2021 bis 31. Dezember 2026 insgesamt vier Milliarden Euro bereit. (Quelle: BMG)