Die Ethikberatung ist ein nunmehr etabliertes, oft aber noch zu wenig genutztes Instrument der Hilfestellung – etwa bei schwierigen Entscheidungen in medizinischen Behandlungen und damit zur Unterstützung der Patientensicherheit. Zwei erfahrene Ethikberater aus Frankfurter Kliniken – Dr. rer. nat. Katja Weiske und Prof. Dr. theol. Kurt W. Schmidt – geben in diesem Interview einen praktischen Einblick in die Rolle der Ethik in der Patientenversorgung und möglicher Vorteile der Ethikberatung für Ärzte, Pflegekräfte, Angehörige und Patienten.
Welche Rolle spielt die Ethik in der Medizin?
Dr. rer. nat. Katja Weiske: Die Ethik in der Medizin befördert den grundsätzlichen Diskurs in Gesellschaft und Politik – z. B. im Hinblick auf das bestmögliche Vorgehen im Fall von Ressourcenknappheit. Außerdem kann sie das konkrete, ethisch gebotene Entscheidungsverhalten im medizinischen Alltag unterstützen. Ethik kann dazu beitragen, eine patientenbezogene und empathiebasierte Medizin anzubieten, die das Patientenwohl und auch die Patientensicherheit fördert.
Prof. Dr. theol. Kurt Schmidt: Ergänzend ist zu sagen, dass die Ethik die Medizin immer schon begleitet hat und ein wesentlicher Bestandteil ärztlichen Handelns ist. Beispiele sind das Konzept der ärztlichen Schweigepflicht seit dem Hippokratischen Eid [1] oder das von Thomas Percival 1803 veröffentlichte Werk „Medical Ethics“ [2]. Weitere wichtige Schritte im Zusammenspiel von Ethik und Medizin sind die Herausforderungen gewesen, die in den 1950er Jahren durch die neu entwickelte Intensivmedizin entstanden sind.
Wie helfen Sie als Ethikberater im klinischen Alltag bei kritischen Entscheidungssituationen?
Schmidt: Im Markus Krankenhaus nehme ich z. B. regelmäßig als Ethikberater an der „normalen“ Visite der Intensivstation teil. Hierbei können ganz niederschwellig ethische Fragen besprochen werden. Dieses Modell hat sich bewährt.
Weiske: In der Universitätsklinik werden wir auf Anfrage tätig und sind niedrigschwellig per E-Mail und Telefon erreichbar. Auf der neurologischen Intensivstation haben wir einen Ethik-Jour fixe etabliert. Hier besprechen wir berufsgruppenübergreifend aktuelle „Fälle“, die ethische Fragen aufwerfen. Auch retrospektiv werden Behandlungsverläufe besprochen, wenn es noch Klärungsbedarf gibt und um daraus für künftige Situationen zu lernen.
Schmidt: Was unsere Modelle zur Einbindung der Ethik in den klinischen Alltag verbindet, ist, dass die Ethikberatung entlastend, begleitend und eine Hilfestellung für die Entscheidungsträger sein soll.
Wie laufen die Ethikfallberatungen ab?
Schmidt: Wir versuchen, in häufig komplexen Zusammenhängen das ethische Problem einzugrenzen, es von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten und es von Fragestellungen zu trennen, die mit einer Supervision oder Konsilen durch andere Fachabteilungen gelöst werden können. Für die Anmeldung einer Ethikberatung haben auch wir eine Telefonnummer mit Anrufbeantworter, die 24 Stunden erreichbar ist.
Weiske: Wir organisieren ein Gespräch mit allen Beteiligten. Hierbei werden zuerst alle Informationen gesammelt, die für den Fall wichtig sind. Dabei bringt sich auch das mitunter interdisziplinäre Behandlungsteam gegenseitig auf den neuen Stand. Dann wird das ethische Problem herausgearbeitet: Wie ist die medizinische Situation, welche Behandlungen sind indiziert, welches Therapieziel kann noch erreicht werden, was möchte der Patient bzw. was sagen die Angehörigen bzw. eventuelle gesetzliche Betreuer zum (mutmaßlichen) Patientenwillen.
Gehören neben Ärztinnen und Ärzten sowie Angehörigen noch weitere Personen zur Zielgruppe von Ethik-Fallberatungen?
Weiske: Pflegende natürlich. Theoretisch jeder und jede an der Patientenversorgung Beteiligte, der das Gefühl hat, dass es eine drängende Frage gibt. Es gibt niemanden, der da auszuschließen wäre.
Schmidt: Wichtig ist es zu klären, wer die Ethikberatung angefordert und Beratungsbedarf hat. Es kann z. B. sein, dass die Anforderung durch eine Pflegekraft erfolgt, aber von ärztlicher Seite gar kein Beratungsbedarf gesehen wird. Die Grundidee ist dabei nicht nur, die Beratung zum Wohle des Patienten durchzuführen, was natürlich im Vordergrund steht, sondern auch den Beratungsbedarf von Mitarbeitenden im Behandlungsteam zu erfüllen.
Es scheint, dass dabei vielfältige Perspektiven zu beachten sind. Welche Herausforderungen können sich in Ethik-Fallberatungen denn ergeben?
Schmidt: Manchmal befinden sich die Beteiligten in einer zwiespältigen Rolle. Beispielsweise eine Ehefrau, die sich nicht vorstellen kann, ohne den erkrankten Ehemann zu leben und möchte, dass alle medizinischen Maßnahmen ausgeschöpft werden, obwohl der Patient selbst keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr wünscht. Einerseits können hierbei Patientenverfügungen helfen, den Willen des Betroffenen umzusetzen – trotzdem kann dies für die Familie schwer sein, da sie sich von einem geliebten Angehörigen verabschieden muss.
Weiske: Trotz Beratung lassen sich moralische Probleme nicht immer lösen. Z.B. im Fall einer Therapiebegrenzung für einen Patienten, die die Beendigung einer Sondenernährung beinhaltete. Ein Mitglied des Behandlungsteams konnte dies mit den eigenen Vorstellungen von Pflege nicht vereinbaren und durfte die weitere Begleitung des Patienten an die Kollegen abgeben. Dadurch wurde der Konflikt zwar nicht aufgelöst, führte aber zur Akzeptanz der Therapiebegrenzung und Umsetzung des Patientenwillens.
Welche Qualifikationen benötigen Ethikbeauftragte?
Schmidt: 2011 wurde die Verpflichtung eines Ethikbeauftragten in das Hessische Krankenhausgesetz aufgenommen [3]. In einer daraufhin gegründeten Arbeitsgruppe haben wir uns z. B. damit auseinandergesetzt, wie ein Ethikbeauftragter qualifiziert sein sollte und mit der „Akademie für Ethik in der Medizin“ ein dreistufiges Curriculum „Ethikberatung im Gesundheitswesen“ [4] entwickelt: Damit sollen die Teilnehmenden befähigt werden, Grundfragen der Medizinethik und ethische Theorien kennenzulernen und eine Fallbesprechung zu moderieren, was aufgrund der komplexen Situationen und unterschiedlichen Erwartungen der Beteiligten sehr herausfordernd sein kann. Danach folgen die Ausbildung zum/zur „Koordinator/in für Ethikberatung und zum/zur Trainer/in für Ethikberatung. Zudem wird darauf geachtet, dass das Ethikkomitee eine repräsentative Gruppe z. B. hinsichtlich des beruflichen Hintergrundes bildet und unterschiedliche Professionen und Geschlechter einbezieht.
Weiske: In unserem Haus teilen wir uns zu dritt die Geschäftsführung des klinischen Ethikkomitees im Institut für Geschichte und Ethik der Medizin auf. Alle besitzen eine Qualifizierung über die „Akademie für Ethik in der Medizin“ und der (Haupt-) Geschäftsführer/die Geschäftsführerin ist zugleich Ethikbeauftragte/r des Universitätsklinikums. Unser Ethikkomitee hat 20 bis maximal 25 Mitglieder aus möglichst verschiedenen Klinikbereichen und Berufsgruppen, wie bspw. Pflege, ärztlicher Dienst, Sozialdienst; Klinikseelsorge sowie, was wir als sehr bereichernd empfinden, eine Psychoonkologin und einen externen Juristen.
Seit wann gibt es Ethikkomitees in Krankenhäusern?
Weiske: Anfang der 1970er-Jahre kam es bei der Patientin Karen Ann Quinlan [5] zu einem Rechtsstreit. Das Gericht empfahl damals, für solche Situationen Gremien einzusetzen, die ethisch herausfordernde Entscheidungsprozesse unterstützen.
Schmidt: Karen Ann Quinlan war dauerhaft bewusstlos und musste künstlich beatmet werden. Ihre Eltern gaben an, dass ihre Tochter nie gewollt hätte, in diesem Zustand weiterzuleben, aber sie hatte dazu vorab keine Festlegungen getroffen. Damals fehlte jegliche Erfahrung damit, ob lebenserhaltende Maßnahmen im Sinne des Patientenwillens beendet werden dürfen. In der Folge etablierten sich in den USA Ethikkomitees, die zwar keine Entscheidungen trafen, aber berieten.
Weiske: In Deutschland war diese Entwicklung verzögert – hier empfahlen die konfessionell getragenen Krankenhäuser ab den 1990er-Jahren, Ethikkomitees zu bilden. Zu dieser Entwicklung hat 1992 maßgeblich der Fall des so genannten „Erlanger Babys“ beigetragen [6], der große Aufmerksamkeit erregte. Hier wurde bei einer hirntoten schwangeren Patientin beschlossen, lebenserhaltende Maßnahmen durchzuführen, um die Schwangerschaft, die sich in einem frühen Stadium befand, trotz schlechter Prognose fortzuführen. Die Art der Entscheidungsfindung, z. B. ohne eine Beratung durch die Ethikkommission, die es zur Prüfung von Forschungsvorhaben damals bereits gab, wurde den behandelnden Ärzten später vorgeworfen.
Wie können niedergelassene Kollegen das Angebot einer Ethikberatung wahrnehmen?
Schmidt: Laut einem Beschluss des Deutschen Ärztetages von 2008 [7] soll auch niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten eine Ethikberatung ermöglicht werden. In der Folge wurde in Hessen durch den früheren Präsidenten der Landesärztekammer Hessen Dr. med. Gottfried von Knoblauch zu Hatzbach eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die ein Ausbildungscurriculum entwickelte. Seitdem gibt es die ambulante Ethikberatung für die Niedergelassenen, die über die Bezirksärztekammern vermittelt werden kann. Beratungsteams existieren derzeit in den Schwerpunktregionen Marburg, Gießen und Frankfurt [8].
Weiske: Ein weiteres Beispiel ist die ambulante Ethikberatung in Einrichtungen der Altenpflege des Frankfurter Ethiknetzwerks e. V. [9]. Damit wurde ein einrichtungs- und trägerübergreifendes Ethikkomitee geschaffen. An diesen Verein können sich zum Beispiel Ärztinnen und Ärzte, Bewohnerinnen und Bewohner oder ihre Angehörigen und auch das Personal aus den Heimen wenden.
Was kann Ethik zur Patientensicherheit beitragen?
Weiske: Eine Antwort hierauf geben z. B. die ethischen Leitsätze des Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. [10] sowie die vier medizinethischen Prinzipien [11], die in der Bearbeitung ethischer Probleme eine große Rolle spielen. Dabei geht es um das Ausrichten des Handelns am Patientenwohl. Immer soll eine Abwägung zwischen Nutzen und Schaden erfolgen und die Autonomie der Patienten gefördert werden. Besonders das medizinethische Prinzip des Nicht-Schadens steht ganz klar für die Patientensicherheit.
Darüber hinaus gibt es Situationen, in denen jede Handlungsoption Schaden für den Patienten bedeutet. Z.B. Zwangsmedikation in der psychiatrischen Behandlung – hier muss abgewogen werden, welcher Schaden der geringere ist – Nichtbehandlung vs. eine mögliche Traumatisierung durch Zwangsbehandlung. Hier waren wir z.B. in die Entwicklung eines Leitfadens einbezogen, auf dessen Grundlage im Rahmen einer Ethik-Fallberatung erörtert wird, ob ein Antrag auf Zwangsmedikation ethisch gerechtfertigt ist. Hier kann die Ethik ganz klar die Patientensicherheit stärken.
Schmidt: Ein Schwerpunkt der Medizinethik liegt in ihrer Ausrichtung auf die Ärzteschaft, Pflegende und Mitarbeitende im Gesundheitswesen. Interessant ist, dass die American Medical Association in ihrem ersten Code of Medical Ethics [12] sowohl die Pflichten der Ärzteschaft gegenüber den Patientinnen und Patienten anspricht als auch die Verpflichtung des Patienten gegenüber den Ärzten. Aus heutiger Sicht können wir darin eine Verbindung zu dem Motto des Welttages der Patientensicherheit 2023 erkennen: „Engaging patients for patient safety“ [13], d. h. die ethische Verpflichtung des Patienten, am Wohl mitzuwirken. Dabei muss natürlich immer bedacht werden, dass der Patient im medizinischen Bereich in der Regel Laie ist und der Aufklärung bedarf, nicht aber Laie ist für seine eigene Wertewelt. Da ist er oder sie „Experte“. Somit ist es meines Erachtens sehr einleuchtend zu denken, dass hier zwei Experten für die Behandlung zusammenkommen: Behandelnder und Patient.
Haben Sie Wünsche für die weitere Entwicklung?
Weiske: Die Implementierung von Ethikberatung stößt an der ein oder anderen Stelle immer noch auf Vorbehalte und Hürden. Da würde ich mir zukünftig noch mehr Offenheit der Behandelnden wünschen. Gerade in einer so großen Klinik wie unserer, können wir nicht überall gleichermaßen präsent sein. Hier möchten wir als Ethikkomitee noch Verbesserungen zum Bekanntheitsgrad unserer Angebote erreichen, damit letztlich ein Ethiktransfer gelingen kann. Neben der Ethikberatung betreiben wir natürlich auch Fortbildungs- und Leitlinienentwicklung. Ethische Aspekte sollten am besten bei allen Neuerungen, Prozessen, Bauvorhaben etc. mitgedacht werden – so etwas wie die Entwicklung einer Ethikkultur, das würde ich mir wünschen.
Schmidt: Neben der individualisierten Ethik im Rahmen einer ethischen Fallbesprechung gibt es die Organisationsethik, die weiterhin eine große Rolle spielen wird und die stärker beachtet werden sollte – hier ist z. B. an das Spannungsfeld Ethik – Ökonomie zu denken, das alle Mitarbeitendengruppen im Krankenhaus betrifft. Außerdem wünsche ich mir, dass das Interesse an ethischen Fragestellungen weitergeht und wächst. Das gilt für die Arbeit im Ethikkomitee für alle Seiten und besonders, dass wir mit der Ethikberatung die Arbeit der Behandelnden stärken und erleichtern können.
Interview: Katrin Israel-Laubinger, Silke Nahlinger
Dr. rer. nat. Katja Weiske (Foto) ist Biologin und Cytogenetikerin.
Nach ihrer Promotion an der Schnittstelle Humangenetik/Medizingeschichte und -ethik qualifizierte sie sich zur Koordinatorin für Ethik im Gesundheitswesen an der Akademie für Ethik in der Medizin in Göttingen. Seit 2011 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dr. Senckenbergischen Institut für Geschichte und Ethik der Medizin. Seitdem arbeitet sie auch in der Geschäftsführung des Klinischen Ethikkomitee am Universitätsklinikum Frankfurt am Main, dessen Leitung sie von 2020 bis 2023 innehatte. Seit Juni 2023 ist sie stellvertretende Leiterin. Sie ist ständiges Mitglied der Ständigen Kommission Reproduktionsmedizin der Landesärztekammer Hessen und engagiert sich beim Bonner Institut „Touchdown 21“ für partizipative Forschungsarbeit von Menschen mit und ohne Down-Syndrom.
Prof. Dr. theol. Kurt Schmidt (Foto) ist evangelischer Theologe und Medizinethiker.
Seit über 25 Jahren leitet er das Zentrum für Ethik in der Medizin am Agaplesion Markus Krankenhaus in Frankfurt am Main, das als Sonderstelle von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau finanziert wird und die Infrastruktur der Klinik nutzt. Schmidt leitet dort das Expertenboard Ethik der Agaplesion gAG und ist Vorsitzender des Ethik-Komitees der Frankfurter Diakonie Kliniken. Außerdem qualifizierte er sich zum Trainer für Ethikberatung an der Akademie für Ethik in der Medizin in Göttingen und ist Honorarprofessor am Fachbereich Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Nebenamtlich diskutiert er als Studienleiter an der Evangelischen Akademie Frankfurt u. a. Fragen zur gesetzlichen Neuregelung des § 217 StGB (Suizidhilfe).
Die Literaturhinweise finden Sie hier.
Ambulante Ethikberatung in Hessen
Die Ambulante Ethikberatung in Hessen e. V. bietet Unterstützung zu Hause oder in Pflegeeinrichtungen. Regionalgruppen gibt es in Frankfurt/Offenbach, Hochtaunuskreis, Marburg/ Biedenkopf und Kassel. Ärzte, Patienten, Angehörige und Mitarbeitende ambulanter Dienste können sich dorthin wenden, wenn z. B. Unsicherheiten bzgl. der richtigen Behandlung auftreten oder eine lebenslimitierende Entscheidung bevorsteht [8]. Informationen: www.ambulante-ethikberatung-hessen.de