Dr. Stanislava Dicheva-Radev, Dr. med. Ursula Köberle, Birgit Vogt, Dr. med. Ole Lindner, Prof. Dr. med. Wolfgang Rascher
Der Artikel ist ein genehmigter Nachdruck aus Arzneiverordnung in der Praxis (AVP) Band 51, Heft 1, April 2024. Abrufbar unter www.akdae.de.
Fallbericht
Der AkdÄ wurde der Fall eines 15-jährigen Patienten berichtet, der zur Behandlung einer Tonsillopharyngitis mit Halsschmerzen, Rhinitis, Husten und Fieber Cefaclor (CEC®) vom Hausarzt verordnet bekommt. Anamnestisch sind keine weiteren Erkrankungen bekannt. Etwa zwei Wochen später stellt sich der Junge erneut vor mit persistierenden Halsschmerzen, Abgeschlagenheit und weiter bestehendem Fieber. Der Test auf Influenza A fällt positiv aus. Es wird eine symptomatische Therapie mit Schmerzmittel, Hustensaft und Vitaminpräparaten (B12, C, D) angesetzt. Nach einer weiteren Woche kommen zum weiterhin hohen Fieber Synkopen, Petechien und Blutblasen enoral bei reduziertem Allgemeinzustand dazu. In der Notfallambulanz wird die Verdachtsdiagnose einer Epstein-Barr-Virus-Infektion gestellt und der Patient mit dem Zielauftrag einer serologischen Diagnosesicherung an den Hausarzt zurücküberwiesen. Zwei Tage später zeigen sich in der vom Hausarzt angesetzten Blutuntersuchung eine ausgeprägte Thrombozytopenie, Leukopenie, Anämie und Neutropenie. Im Krankenhaus erfolgt eine umfangreiche Diagnostik und Therapie, u. a. mit Antibiotika, Virostatika und Antimykotika sowie Immunglobulinen. Zudem werden mehrere Thrombozyten- und Erythrozytenkonzentrate transfundiert. Aufgrund der anhaltenden Trizytopenie und Verdacht auf Leukämie wird eine Knochenmarkpunktion angesetzt, die eine komplette Aplasie des Knochenmarks ergibt. Bei der Befundbesprechung mit der Familie werden mögliche Ursachen der Aplasie angesprochen. Der Vater des Patienten berichtet von der Einnahme von Vitaminen und einem „Antibiotikum“. Er zeigt ein Handyfoto, auf dem das vermeintliche Antibiotikum zu sehen ist: Es handelt sich um Cecenu® mit dem Wirkstoff Lomustin [1].
Medikationsfehler
Es stellt sich also heraus, dass statt Cefaclor (CEC®) fälschlicherweise das Zytostatikum Lomustin (Cecenu®) eingenommen wurde mit der Folge einer ausgeprägten sekundären Knochenmarkaplasie. In der ärztlichen Praxisverwaltungssoftware (PVS) sowie im Warenwirtschaftssystem der Apotheke (z. B. Lauer-Taxe) werden CEC® und Cecenu® aufgrund der alphabetischen Anordnung direkt untereinander dargestellt. Cecenu® wurde versehentlich statt CEC® verordnet und in der Apotheke auch abgegeben. Der Patient nahm wie verordnet 3 x täglich eine Kapsel für sieben Tage ein. Damit ergibt sich eine kumulative Dosierung von 430 mg/m² Körperoberfläche in sieben Tagen, was auch bei korrekter Indikation überdosiert wäre: Die reguläre Dosierung in onkologischen Indikationen beträgt 70–100 mg/m² Körperoberfläche alle sechs Wochen. Bei dem Medikationsfehler erhielt der Junge 800 mg Lomustin in einer Woche, die übliche Dosis wäre bei dem Körpergewicht des Jungen 2 mg/kg entsprechend 144 mg in sechs Wochen gewesen.
Arzneimittel
Lomustin ist ein Alkylanz und führt zu Quervernetzungen zwischen den Einzelsträngen der DNA. Die Replikation wird gehemmt und die DNA- und Proteinbiosynthese gestört. Dadurch kommt es zur Inhibierung des Zellwachstums und zur Apoptose. Lomustin wird in Kombinationstherapie eingesetzt zur Therapie von Hirntumoren und Hirnmetastasen anderer Tumoren, von bösartigen Tumorerkrankungen der Haut (metastasierten, malignen Melanomen), von kleinzelligen Bronchialkarzinomen und bei fortgeschrittenem Morbus Hodgkin. Die Einnahme erfolgt als einzelne orale Dosis (70–100 mg/m² Körperoberfläche = 1,6–2,3 mg/kg Körpergewicht) alle sechs Wochen. Patienten müssen laut Fachinformation ausdrücklich darauf hingewiesen sowie angewiesen werden, keine höheren Dosen als die vom Arzt empfohlene Dosis einzunehmen [2].
„Schweizer-Käse“-Modell
Der englische Psychologe James Reason entwickelte in den 1990er das Swiss Cheese Model of System Accidents [3, 4]. Das „Schweizer-Käse“-Modell beschreibt, dass aus einer Gefahrensituation nur dann ein Unfall oder ein unerwünschtes Ereignis entstehen kann, wenn die dazwischen liegenden Sicherheitsbarrieren (Menschen, technische Vorrichtungen, Kontrollstellen) versagen. Jede Barriere entspricht im Modell einer Käsescheibe. Versagt eine Sicherheitsbarriere, entsteht ein „Loch“ (ähnlich dem Schweizer Käse). Wenn mehrere Barrieren versagen und die einzelnen „Löcher“ dann in einer Achse liegen, ist ein „Durchrutschen“ eines Fehlers möglich – eventuell mit erheblichen Konsequenzen. Die „Löcher“ entstehen durch aktives und latentes Versagen, werden durch beitragende Faktoren beeinflusst und sind außerdem „dynamisch“, d. h. sie öffnen, schließen oder verschieben sich über die Zeit (Abb. 1).
Anhand dieses Modells lassen sich folgende Schritte im Medikationsprozess und Sicherheitsbarrieren feststellen, bei denen Fehler aufgetreten sind, die durch die nachgeschalteten Sicherheitsmechanismen nicht aufgefangen werden konnten:
Verordnung durch den Arzt:
Bei der Verordnung wird versehentlich das falsche Arzneimittel rezeptiert: Cecenu® statt CEC®.
Auswahl des Arzneimittels in der Praxisverwaltungssoftware (PVS):
Im Verordnungsmenü der ärztlichen PVS werden die Arzneimittel alphabetisch gemäß des Fertigarzneimittelnamens und nicht nach Wirkstoffbezeichnung an erster Stelle aufgeführt. Der enthaltene Wirkstoff wird nicht automatisch auf der obersten Bedienungsoberfläche angezeigt.
Abgabe in der Apotheke:
In der Apotheke erfolgt die Abgabe des verordneten Cecenu®. Die Angabe der Diagnose auf dem Rezept ist bis auf wenige derzeit geltende Ausnahmen nicht verpflichtend, dies erschwert aber die kritische Prüfung der Plausibilität der Verordnung seitens der Apotheke. Aus diesem Grund ist es anzunehmen, dass die offensichtlich falsche Dosierung (1–1–1) nicht bemerkt bzw. nicht hinterfragt wird.
Patient: Vulnerable Patientengruppe (Kinder und Jugendliche, Menschen mit Migrationsgeschichte) [5]
Beim jugendlichen Patienten und seiner Familie besteht eine Sprachbarriere, die die Kommunikation erschwert. Dies ist möglicherweise auch der Grund, warum die Gebrauchsinformation des Arzneimittels den Patienten bzw. die Eltern nicht „alarmiert“.
Notfallambulanz:
Bei der erstmaligen Vorstellung in der Notfallambulanz fällt die Einnahme von Lomustin als vermeintliches Antibiotikum nicht auf, obwohl sie von den Eltern angegeben wird. Es erfolgt zudem keine Blutbilduntersuchung trotz bereits bestehender Petechien und Blutblasen enoral und hohem Fieber.
Fazit
Schwerwiegende Medikationsfehler werden wie im vorliegenden Fall häufig von einer ungünstigen Aneinanderreihung mehrerer ursächlicher Handlungen und Faktoren bedingt.
Um Verwechslungen bei der Verordnung zu vermeiden, könnten zukünftig automatische Sicherheitskontrollen in die ärztliche PVS integriert werden, die bei ausgewählten, kritischen Arzneimitteln auf fehlende Plausibilität der Verordnung hinweisen. Zudem wäre es sinnvoll, vermehrt Wirkstoffverordnungen auszustellen, um Verwechslungen mit sogenannten „Sound-alikes“ vorzubeugen.
Apothekerinnen und Apotheker müssen die Plausibilität jeder Verordnung vor Abgabe aktiv überprüfen [6]. Bei Verständigungsproblemen wie z. B. Sprachbarriere sollten Hilfsmittel in die Beratung einbezogen werden (Übersetzungsprogramme, Informationen in anderen Sprachen, bebilderte, auf Patientenverständlichkeit geprüfte Einnahmeanleitungen).
Orale Tumortherapeutika, wie Lomustin-haltige Arzneimittel, kommen immer häufiger zur Anwendung in onkologischen Indikationen und ermöglichen die Therapie zu Hause. Bei Oralia besteht aber je nach verfügbarer Packungsgröße und Primärverpackung (z. B. Plastikdose versus Blister) durchaus ein Risiko einer akzidentellen Überdosierung mit schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen [7–9]. Zudem ist die besondere Therapierichtung nicht immer auf Anhieb auf der äußeren Umhüllung der Arzneimittel erkennbar.
In der EudraVigilance-Datenbank gemeldeter Verdachtsfälle von Arzneimittelnebenwirkungen finden sich einige Meldungen zu Medikationsfehlern unter Lomustin wieder (Stand: 12.03.2024): 23 Meldungen zu Überdosierung, 6 Meldungen zu falschem Dosierintervall/Einnahmeschema sowie zwei Meldungen zur Verabreichung einer inkorrekten Dosis (www.adrreports.eu). Die Anzahl von Verdachtsfallmeldungen erlaubt zwar keinen direkten Rückschluss auf die tatsächliche Häufigkeit von Medikationsfehlern, weist aber darauf hin, dass bei der Anwendung Probleme auftreten können. Daher sollten auch bei Lomustin zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen erwogen werden, um die potenziellen Risiken zu verringern. Denkbar wären die Anpassung des Packungsdesigns (z. B. Aufschrift „Zytostatikum“, Verblisterung statt Plastikbehälter mit Schraubverschluss) sowie die Reduktion der Packungsgröße oder die Einführung von Schulungsmaterial für Patienten. Auch sollte bei der Benennung von Fertigarzneimitteln zukünftig verstärkt auf sogenannte „Sound-alikes“ und „Look-alikes“ geachtet werden, um Verwechslungen vorzubeugen.
Von besonderer Relevanz erscheint, Medikationsfehler offen zu diskutieren und im Sinne einer konstruktiven Fehlerkultur darüber zu berichten, um die Arzneimitteltherapiesicherheit und dadurch die Patientensicherheit zu erhöhen. Verdachtsfälle von Medikationsfehlern und Nebenwirkungen sollten der AkdÄ mitgeteilt werden.
Dr. P.H. Stanislava Dicheva-Radev, E-Mail: stanislava.dicheva-radev@baek.de
Dr. med. Ursula Köberle, MPH
Dipl.-Pharm. Birgit Vogt, MSc
Dr. med. Ole Lindner
Prof. Dr. med. Wolfgang Rascher
PS: Sofern die Autoren wissen, konnte sich der Junge nach einer langwierigen Behandlung erholen. Es gibt allerdings ein Risiko für Spätmalignome bzw. für eine Beeinträchtigung der Zeugungsfähigkeit, das derzeit nicht abzuschätzen ist. Alle hoffen, dass keine Spätfolgen auftreten.
Interessenkonflikte: keine.
Die Literaturangaben finden Sie hier.