Dr. agr. Dr. med. Rahim Schmidt
Nachdruck aus dem Ärzteblatt Rheinland Pfalz, 10/2024, S. 17–19. Weiterer Beitrag „Interkulturelle Aspekte bei Patient:innen mit Migrationsbezug“ siehe HÄBL 06/2022.
In unserer kulturell vielfältigen Gesellschaft erfordert die medizinische Versorgung nicht nur sprachliche und kommunikative Fähigkeiten, sondern auch ein tiefes Verständnis für die soziokulturellen und religiösen Vorstellungen von Migrantinnen und Migranten. Strukturelle Veränderungen, ein effizienterer Ressourceneinsatz sowie die stärkere Einbindung von Ärztinnen und Ärzten mit Migrationshintergrund sind notwendig, um transkulturelle Kompetenzen auf allen Ebenen des Gesundheitswesens zu etablieren. Eine geschulte und kultursensible Kommunikation in der Migrantenmedizin kann die Autonomie der Patientinnen und Patienten fördern, Fehler reduzieren und Kosten senken.
Menschen mit Migrationshintergrund bringen häufig ein anderes Verständnis von Krankheit mit, haben andere Erwartungen an die behandelnden Ärztinnen und Ärzte und benötigen teilweise unterschiedliche Dosierungen von Medikamenten. Hinzu kommen häufige Antibiotika-Resistenzen und eine andere regionale Verbreitung von Erkrankungen. Diese Faktoren im Hinterkopf zu behalten, kann „Überdiagnostik“ und „Übertherapie“ minimieren und somit Zeit und Ressourcen schonen. Dabei sollte jedoch stets berücksichtigt werden, dass es nicht „die eine Kultur“ gibt; jede Patientin und jeder Patient muss als individuelle Person mit eigenen Besonderheiten behandelt werden. Die genannten Beispiele sollen als Denkanstöße für ein differenziertes ärztliches Handeln dienen. Eine kultursensible Sprache und Kommunikation in der Arzt-Patienten-Beziehung verleihen uns die Sicherheit, Menschen fachlich kompetent zu helfen.
Gesundheitssysteme sind unterschiedlich
Flüchtlinge und Menschen mit Migrationshintergrund hatten in ihren Herkunftsländern oft nur eingeschränkten Zugang zu Gesundheitssystemen, insbesondere in der Unterschicht und der unteren Mittelschicht. Präventive Maßnahmen waren meist kaum verfügbar. Wenn es überhaupt zu einem Kontakt mit dem Gesundheitssystem kam, war dieser häufig von kurzer Dauer und konzentrierte sich auf das Wesentliche – Vorschriften, Medikamente und Infusionen. Aufklärung, Nachsorge, ambulante und stationäre Terminorganisation sowie Erfahrung im Umgang mit chronischen Erkrankungen wie Bluthochdruck und Diabetes mellitus waren oft nicht vorhanden. Einige Menschen aus abgelegenen Regionen sehen in Deutschland möglicherweise zum ersten Mal in ihrem Leben einen Arzt.
Diese Umstände führen oft zu einem hohen Respekt vor Ärztinnen und Ärzten, verbunden mit einem teilweise passiven Verhalten der Patientinnen und Patienten. Eine vorausgehende Patientenschulung durch die Krankenkassen wäre hier sinnvoll und könnte langfristig Kosten sparen. Unterschiedliche Erwartungen und ein anderes Krankheitsverständnis verursachen zusätzliche Kosten, wenn sie in der medizinischen Versorgung nicht richtig berücksichtigt werden.
„Alles tut weh“: Ein anderes Verständnis von Krankheit
Menschen mit Migrationshintergrund haben oft ein anderes Verständnis von Krankheit und suchen deshalb häufiger die Notfallmedizin auf, da sie akuten Schmerz als Bedrohung wahrnehmen. Zudem neigen sie bei psychischer Belastung oft zu somatischen Beschwerden. In verschiedenen Kulturen werden sozialpsychologische Konflikte und Belastungen in unter-schiedlichen Organen verortet, was die Diagnostik erschweren kann. So ist im Iran die Leber das Organ, das bei Stress, Trauer oder Verlust „brennt“. Die amerikanische Medizinjournalistin Lynn Payer stellte fest, dass Deutsche im Vergleich zu Briten und Franzosen vier- bis sechsmal häufiger Herzmedikamente verschrieben bekommen, da sie ihre Trauer im Herzen tragen – dem Ort der Liebe. Freud und Leid, Trauer, Partnerverlust und Einsamkeit können Angina pectoris-ähnliche Beschwerden hervorrufen. Hier ist weitere kulturübergreifende Forschung notwendig.
In kollektivistischen Familiengesellschaften betrachten Menschen ihren Körper ganzheitlich („alles tut weh“), was die Kommunikation in der Arzt-Patienten-Beziehung erschwert. Sie fühlen sich krank und erwarten Zuwendung und Fürsorge von der Familie und den Ärztinnen und Ärzten. Nicht selten werden Infusionen, Schmerzmittel und Antibiotika erwartet, selbst bei leichten Erkältungen. Nach einer Untersuchung und einem aufklärenden Gespräch fragen sie häufig nach Medikamenten. Ärztinnen und Ärzte sollten deshalb stets untersuchen und beruhigen: „Ihre Vitalparameter, Herz und Lungen sind gesund. Ein Medikament würde Ihnen in dieser Situation eher schaden. Lieber inhalieren und einen Kräutertee mit Honig trinken, um Nebenwirkungen zu vermeiden.“ Nach einem empathischen Gespräch ist die Erwartungshaltung oft geringer.
Während der Krankheitsphase wird der Patient oder die Patientin oft von Familienmitgliedern und Freunden besucht. In der deutschen Kultur zieht man sich als Kranker eher zurück, um Ruhe zu finden. Die Betonung auf das Leiden ist auch der Wunsch, ernstgenommen zu werden und Unterstützung zu erhalten, da in den Herkunftsländern oft die Versorgungsstrukturen und finanziellen Mittel fehlen. Deshalb sollte jede Patientin und jeder Patient ernstgenommen, untersucht und die positiven Befunde sowie vorhandenen Ressourcen wie Nichtrauchen oder wenig Alkoholkonsum positiv kommuniziert werden.
Regionale Häufigkeiten von Erkrankungen
Das Wissen über regionale Häufigkeiten von Erkrankungen kann helfen, schneller zu einer Diagnose zu gelangen. Beispielsweise kann Laktoseintoleranz, die bei jüngeren Menschen aus dem Mittelmeerraum häufiger vorkommt (70 Prozent im Vergleich zu 13–14 Prozent in Deutschland), typische Beschwerden verursachen, die zu Überdiagnostik wie einer Gastroskopie führen können. Weitere Beispiele sind Mittelmeerfieber, Thalassämie minor in Asien und Zentralafrika, Glaukom in Zentralafrika oder Hüftdysplasien bei Kindern aus der Türkei aufgrund bestimmter Wickeltechniken. Bei beschnittenen Frauen können Spätfolgen wie wiederkehrende Harnwegsinfektionen und Schmerzen auftreten.
Muslime in der Versorgung
Bei muslimischen Patientinnen und Patienten, die nach den „fünf Säulen“ des Islams leben, ist das jährliche Fasten zu beachten. Besondere Vorsicht ist bei bestimmten Erkrankungen und Situationen geboten, wie bei Gastritis, Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Schwangerschaft, Reisenden, älteren Menschen und Kindern. Gemäß ihrem Glauben dürfen sie weder sich selbst noch anderen schaden, ähnlich wie beim Verzicht auf Alkohol und Drogen.
Manchmal äußern muslimische Patientinnen und Patienten den Wunsch, nur von einem Mann oder einer Frau behandelt zu werden. Dies lässt sich oft durch ein kurzes Gespräch klären, etwa mit dem Hinweis, dass das Personal knapp bemessen ist.
Beziehungsaufbau als Grundlage für kultursensible Kommunikation
Für ein erfolgreiches Arzt-Patienten-Gespräch ist eine vertrauensvolle Beziehungsebene entscheidend. Ein Beispiel aus der Praxis: Begrüßen Sie den Patienten freundlich und bitten Sie ihn, Platz zu nehmen (zwei Worte in der Muttersprache des Patienten können die Atmosphäre auflockern und Vertrauen schaffen). Stellen Sie Blickkontakt her und stellen Sie eine geschlossene Frage, wie zum Beispiel: „Geht es der Familie gut?“ Zeigen Sie Verständnis und Mitgefühl; es geht zunächst nicht um Pathologie oder Medizin, sondern um die Wahrnehmung des Menschen. Auf dieser positiven Beziehungsebene kann das Gespräch auf die Sachebene übergehen. Fragen Sie den Patienten: „Was ist heute Ihr Hauptanliegen?“ Lassen Sie den Patienten drei Minuten lang erzählen und zeigen Sie Verständnis. Erfassen Sie, worum es geht: Körper, Psyche, beides, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder etwas anderes? Geben Sie dann den Ablauf der Sitzung vor, untersuchen Sie den Patienten je nach Verdachtsdiagnose kurz und erläutern Sie den nächsten Schritt. Verabschieden Sie sich verbal freundlich. Studien haben gezeigt, dass eine empathische Sprache nicht nur die Motivation, das Vertrauen und die Compliance fördert, sondern auch Fehler und Kosten senken kann.
Kommunikationsschwierigkeiten überwinden
Unzureichende Kommunikation sowie zunehmende Sprachbarrieren (auch bei Hygienepersonal im Krankenhaus) gefährden die Patientensicherheit. Patientenkommunikation und Patientensicherheit sind eng miteinander verknüpft und bilden das Fundament für Qualitätsmanagement und Arzneimittelsicherheit in der medizinischen Versorgung. Nicht nur die Kommunikation zwischen Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen und Patienten, sondern auch die Kommunikation inner-halb des Teams ist wichtig. Häufige Fehler treten oft bei Übergängen auf, wie zum Beispiel bei Entlassungen, die sich auf die anschließende ambulante Medikation und die weitere Versorgung auswirken.
Kommunikation in der Migrantenmedizin ist eine Übersetzungsarbeit, die Zeit und Geduld erfordert – eine Herausforderung, der sich unsere Kolleginnen und Kollegen sowie das medizinische Personal jeden Tag mit großer Leidenschaft und Engagement stellen. Gespräche und menschliche Beziehungen können wie Medizin wirken und sind ein Dialog zwischen unterschiedlichen kulturellen Perspektiven.
Die Sprache ist oft zweideutig, indirekt, verallgemeinernd und in Form von Anekdoten, was die Anamnese erschweren kann. Damit möchte der Patient eine direkte Ablehnung vermeiden. Auch unter ärztlichen Kollegen mit Migrationshintergrund ist eine direkte Kritik Tabu. Für eine erfolgreiche Weiterentwicklung sollte an erster Stelle eine beziehungsfördernde Intervention stehen, dann die Kritik unter vier Augen.
Bei Sprachbarrieren, die über das kulturelle Verständnis hinausgehen (wenn der Patient weder Deutsch noch Englisch spricht), ist der Einsatz eines Dolmetschers zu empfehlen. Sprachbarrieren sind eine tägliche Herausforderung in der medizinischen Versorgung, insbesondere bei Anamnese und Aufklärung (es gibt jedoch Formulare in verschiedenen Sprachen). Diese Herausforderungen betreffen die Sicherheit, rechtliche und ethische Aspekte sowie den Datenschutz. Unterstützung bieten Angehörige, ein mehrsprachiges Team, professionelle Dolmetscher und technische Hilfsmittel. Im Verein Armut und Gesundheit in Deutschland arbeiten wir mit dem Anbieter Triaphon zusammen.
Was kann uns praktisch entlasten und was brauchen wir?
Neben strukturellen Veränderungen, wie der Einrichtung eines Instituts für Migrantenmedizin, sollten flächendeckende Patientenschulungen durch Krankenkassen, Gesundheitsbildung, Informationen über die Funktion von Versorgungssystemen sowie Flyer in Praxen, Krankenhäusern und Notaufnahmen gefördert werden. Diese Materialien sollten Hinweise geben wie: Geduld haben, Respekt zeigen, nur einen Übersetzer mitbringen, sich auf Dringlichkeit einstellen, auf Rückfragen verzichten, Bescheid geben, wenn der falsche Name aufgerufen wird, Händehygiene beachten und die Entlassung organisieren. Patientinnen und Patienten sollten sich auf das Arztgespräch vorbereiten und Befunde mitbringen.
Dr. agr. Dr. med. Rahim Schmidt, Zweiter Vorsitzender des Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland“, Botschafter der Stiftung „Lebensspur“, E-Mail: rahim.schmidt@gmx.de
Literatur beim Autor. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz.
Biografisches
Im Jahr 1978 verließ Dr. agr. Dr. med. Rahim Schmidt den Iran, um in Deutschland zu studieren. Seit 2020 arbeitet er als Facharzt für Allgemeinmedizin und Stellv. Leiter der Allgemeinarztpraxis am Campus im Universitätsklinikum Mainz. Er lehrt als Dozent an der Universitätsklinik in Marburg. Auch politisch war Schmidt aktiv: Zwischen 2011 und 2016 war er Mitglied des rheinland-pfälzischen Landtags – als erster Landtagsabgeordneter mit Migrationshintergrund in Rheinland-Pfalz. Dort war er u. a. Initiator der Gründung einer Pflegekammer in Rheinland-Pfalz als erstes Bundesland in Deutschland. In seinem Buch „Interkulturelle Medizin, Kommunikation und Transkulturelle Kompetenz“ (siehe Buchtipp) regt er zum Nachdenken über Vorurteile und Werte an und zeigt auf, wie Sprache und Kommunikation bei Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund professionell eingesetzt werden können.
Buchtipp
Dr. agr. Dr. med. Rahim Schmidt
Interkulturelle Medizin und Kommunikation – Transkulturelle Kompetenz und Resilienz fördern die Integration, © 2017 BoD Books on Demand, ISBN 9783743123373, 15.90 €, auch als E-Book