Der gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat sie vor knapp einem Jahr zur kurzfristigen Bekämpfung der Praxisüberlastung etabliert, nun fordern der Bundesärztekammerpräsident Klaus Reinhardt1 und die Bundesvorsitzende des Hausärzteverbandes Nicola Buhlinger-Göpfarth1, dass sie für immer bleiben soll: die telefonische Krankmeldung.

Da bleibt doch der gesund Menschenverständige mit offenem Mund sitzen und möchte rufen: willkommen im Phantasialand. In diesem idealen Land schaut niemand zunächst auf seine eigenen Interessen, sondern alle Menschen haben das gesellschaftliche Gesamtgelingen und die Interessen der Schicksalsgenossinnen und -genossen im Auge. Man meldet sich nur krank, wenn eine Aufnahme der Arbeit objektiv nicht möglich ist, kann folgerichtig selber täglich morgens über seine Arbeitsfähigkeit entscheiden, am besten auch seinen Grad der Behinderung beim Versorgungsamt angeben und sein Renteneintrittsalter nach ehrlicher Selbsteinschätzung der Belastbarkeit selbstbestimmt festlegen. Alle arbeiten gerne, sind kollegial und zufrieden, die Wirtschaft prosperiert und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben die glücklichen Bewohner dieses Landes noch heute.

Auch in der realen Welt hatten wir ein über Jahrzehnte gut funktionierendes Solidarsystem, dessen Wert gar nicht hoch genug geschätzt werden kann. Es wurde durch die Agenda 2010 nachgeschärft, was zu einer über Jahrzehnte prosperierenden Wirtschaft führte. In dieser Wohlstandsphase haben sich allerdings interne und externe Normen verändert – und auch das Verhalten der Menschen.

In der realen Welt des Jahres 2024 sitzen im Gegensatz zum Phantasialand in den Arztpraxen nicht nur Behandlungsbedürftige, beim VdK nicht nur Berentungspflichtige, morgens rufen nicht nur Kranke beim Arbeitgeber und beim Hausarzt an, um sich abzumelden. Die Krankenstände steigen landesweit massiv an und sind unterdessen doppelt so hoch wie in Schweden2. Diese Entwicklung ist nicht allein durch die Coronapandemie und andere Viruserkrankungen erklärbar, sondern durch eine ganz andere Epidemie: nämlich die der Krankmeldung aus Frustration oder Bequemlichkeit.

Auf den Punkt gebracht hat es der Vorstand der Innovationskasse IK Lübeck, Ralf Hermes2: „Es hat sich in unserer Gesellschaft normalisiert, sich anlasslos krankzumelden.“

Das Phänomen bewirkt nicht nur zahlreiche Ausfälle, es führt in ganzen Teams, die feststellen, dass die notorischen Arbeitsvermeider sanktionsfrei davonkommen dazu, dass sich auch die anderen im Team fragen, warum sie sich eigentlich nicht auch gelegentlich eine bezahlte Auszeit gönnen – schon ist der Dominoeffekt da. Ich würde den Verantwortlichen im BMG, der Bundesärztekammer und des Hausärzteverbandes empfehlen, ihr Menschenbild einmal upzudaten und sich klarzumachen, dass das Verfolgen eigener Interessen ein elementarer Bestandteil des menschlichen Wesens ist, der in der Vergangenheit nur durch soziale und formale Kontrolle eingehegt wurde.

Eine Solidargemeinschaft funktioniert nur so lange wie die Mitglieder aus freien Stücken oder durch die entsprechenden Kontrollinstitutionen dazu bewegt werden, ihren Aufgaben nachzukommen. Wenn es diese Instanzen nicht mehr gibt, kollabiert das System. An diesem Punkt sind wir bereits. Das Phänomen trägt dazu bei, dass immer weniger zu verteilen ist, was am Ende zu Lasten der wirklich Bedürftigen gehen wird. Da sollten wir als Ärzte unserer Verantwortung auch gerecht werden, Arbeitsfähigkeit objektiv zu beurteilen und nicht auf Zuruf zu bestätigen. Je leichter es den Arbeitnehmern gemacht wird, sich der Arbeit zu entziehen, umso mehr werden sie es statistisch tun.

Schlecht sind nicht die Menschen. Sie sind so, wie sie schon immer waren. Schlecht ist ein politisches System, das von einem falschen Menschenbild ausgeht und schlecht ist vor allem die Leistung der Verantwortlichen, die das nicht realisieren möchten. Den Kontext zwischen barrierefreier telefonischer Krankmeldung und Arbeitsunfähigkeitsquote zu negieren, ist genauso naiv wie zu bestreiten, dass die Unterbringung und Alimentierungssituation im Zielland keine Pull-Effekte für die illegale Migration bewirken. Aber das ist eine andere Geschichte ...

  Dr. med. Ulrich Groh, Bad Nauheim

1 ARD – Tagesschau vom 28.10.2024, 2 Pioneer Briefing vom 26.10.2024