Im Februar 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das 2015 beschlossene Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für unzulässig erklärt und betont, dass die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, von Staat und Gesellschaft zu respektieren sei. Dieses Recht umfasse auch die Freiheit, die Unterstützung Dritter in Anspruch zu nehmen. Beim 163. Bad Nauheimer Gespräch in den Räumlichkeiten der Landesärztekammer Hessen referierten und diskutierten Juristen, Theologen, Mediziner und Philosophen über die Implikationen dieser folgenreichen Entscheidung in diesem vielschichtigen und komplexen Themenfeld sowie über die wichtige Rolle der Suizidprävention.
Grundrecht auf Selbsttötung
Nach einer thematischen Einführung durch Moderatorin Prof. Dr. med. Ursel Heudorf referierte der erste Experte über die juristischen Grundlagen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Prof. Dr. jur. Volker Lipp von der Georg-August-Universität Göttingen und bis Mitte 2024 Stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats sagte, dass die Rechtslage vielschichtig sei. Die zentrale Aussage des Urteils des Bundesverfassungsgerichts sei, dass das Grundgesetz ein Grundrecht auf freiverantwortliche Selbsttötung kenne. Dies beinhalte auch das Recht, die Hilfe Dritter dafür in Anspruch zu nehmen. Dieses Grundrecht der Selbstbestimmung sei nicht abhängig von materiellen Bedingungen, wie etwa einer schweren, unheilbaren Krankheit. Damit sei § 217 StGB aufgehoben, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung untersagte. Mit der Entkoppelung von materiellen Bedingungen sei Deutschland an die „Spitze der Suizidautonomie“ katapultiert; kein anderes Land habe aktuell eine vergleichbare Rechtslage oder Gerichtsentscheidung.
Das BVerfG habe den Gesetzgeber allerdings nicht mit der Pflicht beauftragt, ein alternatives Gesetz zu verabschieden. Dennoch entwickelten zwei interfraktionelle Gruppen im Bundestag Gesetzesentwürfe, die jedoch beide im Bundestag scheiterten. Lediglich ein Gesetz zur Suizidprävention wurde angenommen.
Laut Lipp müssen freiverantwortliche Suizide weder von Bürgern noch von Ärzten im Speziellen verhindert werden. Eine Hilfspflicht greife nicht. Eine Unterstützung zur Selbsttötung sei ebenfalls nicht strafbar, solange die Selbsttötung freiverantwortlich und durch die eigene Hand des Suizidwilligen geschehe. Wenn Mittel durch Dritte verabreicht werden, könne dies ebenfalls straffrei sein, sofern der Betroffene nicht in der Lage sei, dies selbst zu tun, und ein ausdrücklicher Sterbewunsch vorliege. Für Ärzte sei es nur möglich, Mittel zur Selbsttötung zu verschreiben, die nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fallen; andernfalls würden sie Strafen riskieren.
Möglichkeiten der Palliativmedizin
Dr. med. Thomas Sitte, Palliativmediziner und Vorstandsvorsitzender der Deutschen PalliativStiftung (DPS), berichtete anschließend über seine Erfahrungen mit schwerst- und terminal erkrankten Menschen. Viele Menschen wollten nicht sterben, sondern lediglich nicht mehr leiden, so Sitte. Es gebe noch zu wenig Leidenslinderung aufgrund von mangelndem Wissen, Zeit und Verfügbarkeit. Sitte plädierte für eine Art „Hausapotheke“ in Pflegeeinrichtungen, damit Hilfe schnell zur Verfügung stehe. Die frühzeitige Einbindung palliativmedizinischer Standards, beispielsweise bei Chemotherapien, sei Teil der Lösung.
Suizidprävention
Prof. Dr. theol. Kurt W. Schmidt, evangelischer Theologe und Medizinethiker, Leiter des Zentrums für Ethik in der Medizin am Agaplesion Markus Krankenhaus in Frankfurt und Vorsitzender des dortigen Ethik-Komitees, referierte über ethische Aspekte der Suizidprävention. Die absolute Zahl der Selbsttötungen habe sich seit den 1980er-Jahren von über 18.000 auf rund 10.000 pro Jahr fast halbiert. Suizidprävention lohne sich also, so Schmidt, der auf gut 70 Organisationen allein im Frankfurter Raum hinwies. Im Jahr 2023 seien knapp die Hälfte der Menschen, die Suizid begingen, 65 Jahre oder älter; insbesondere Männer seien betroffen. Die überwiegende Anzahl der Selbsttötungen sei nicht aufgrund von Freiverantwortlichkeit geschehen, sondern aufgrund von Einsamkeit, Depression oder Verzweiflung. Schmidt kritisierte die Entscheidung des BVerfG, da sie die Patientenautonomie zu stark idealisiere und betone. Da aus der Berufsordnung das Verbot der Hilfe zur Selbsttötung für Ärztinnen und Ärzte aufgehoben wurde, müsse sich nun jeder Arzt positionieren und eine eigene Haltung entwickeln.
Historische und gesellschaftliche Kontexte
Der vierte Referent war Prof. Dr. theol. Jean-Pierre Wils, Hochschullehrer an der Radboud-Universität Nijmegen, Philosoph, Medizinethiker, Theologe und Autor. Er beleuchtete die Historie des antiken Griechenlands und Roms, des Christentums, des Humanismus und des Liberalismus und stellte im modernen Ländervergleich dar, wie Suizid in gesellschaftlichen und sozialen Praktiken gestattet, moralisiert oder sanktioniert werde. In der Gegenwart befinde man sich in einem Prozess der Normalisierung, in dem der Suizid auch teils emanzipatorisch verstanden werde. Die Niederlande haben bereits 2002 ein liberales Gesetz zum assistierten Suizid erlassen. Während der entscheidende Passus mit dem „unerträglichen Leiden“ zunächst medizinisch angewandt wurde, sei man in der jüngeren Vergangenheit zu einer ganzheitlicheren Auffassung gelangt. Das entscheidende Argument für eine Rechtslage ohne materielle Kriterien sei, dass man Menschen sowohl biologisch als auch biografisch betrachten könne. So könne ein Mensch aufgrund des medizinischen Fortschritts lebensverlängernde Maßnahmen erhalten (biologisch), sich aber dennoch biografisch am Ende seines Lebens sehen. Dieser Konflikt führe zu Selbsttötungswünschen. Eine Assistenz sei notwendig, um selbstbestimmt in die eigene Biografie eingreifen zu können.
Diskussion
In der anschließenden Diskussion stellte Lipp auf Nachfrage noch einmal klar: Das deutsche Recht gehe davon aus, dass jeder Bürger freiverantwortlich sei und erst das Gegenteil bewiesen werden müsse – es sei also nicht nötig, die Freiverantwortlichkeit im Vorfeld eines Suizids jedes Mal zu überprüfen. Schmidt verwies darauf, dass viele Menschen, die im US-Bundesstaat Oregon einen assistierten Suizid wünschten, weil sie kaum Abhängigkeit in ihrem Leben kannten und sich nicht vorstellen konnten, gepflegt zu werden. Dies gehöre aber durchaus zum Leben dazu, ohne diese Einstellung moralisch bewerten zu wollen. Sitte betonte, dass Suizidassistenz für ihn keine ärztliche Aufgabe sei. Für die palliativen Patienten wünsche er sich, dass über die hospiz-palliativen Möglichkeiten aufgeklärt werde und Menschen nicht wegen körperlichen Leidens in den Suizid getrieben würden. Einigkeit bestand bei den Referenten darin, dass Suizidwünsche enttabuisiert und die Suizidprävention gestärkt werden müsse.
Lukas Reus
Die vollständige Aufzeichnung des 163. Bad Nauheimer Gesprächs findet sich unter „Aktuelles“ vom 28.10.2024 auf der Website der Landesärztekammer Hessen.
Siehe auch „Interview zur palliativen Versorgung“, HÄBL 09/2024, S. 480.