Patienten können heute so umfangreich über ihren Gesundheitszustand informiert werden wie nie zuvor. Doch häufig werden auch Befunde erhoben, die außerhalb des Behandlungsauftrags liegen – sog. Zufalls(be)funde. Zur Bezeichung von Zufallsfunden werden in der Literatur unterschiedliche Termini verwendet. So werden sie auch als Zusatz(be)funde, sekundäre Befunde oder international als „incidental findings“ bezeichnet und weisen drei Merkmale auf: Sie haben eine potentielle Bedeutung für Gesundheit oder Fortpflanzung des Betroffenen, sie sind vom Untersuchungszweck nicht beabsichtigt und sie sind im Allgemeinen nicht vorhersehbar. Die Anzahl der Zufallsbefunde hat in jüngerer Zeit aufgrund der breiteren Anwendung moderner bildgebender Verfahren deutlich zugenommen So kann beispielsweise die Beschreibung eines unerwarteten radiologischen Befundes Anlass zu einer weiteren Diagnostik und Therapie geben. Mit dieser Thematik hat sich aktuell das OLG Dresden [1] auseinandergesetzt und entschieden, dass ein Radiologe vor einem sichtbaren Nebenbefund nicht die Augen verschließen darf. Auch wenn er in medizinischer Hinsicht nicht selbst verpflichtet ist, diesen Zufallsbefund abzuklären, muss er den Befund im Arztbrief an den überweisenden Kollegen aufnehmen Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Sachverhalt
Wegen ständig wiederkehrender Kopfschmerzen hatte ein Patient seinen Hausarzt aufgesucht, der ihn an einen Radiologen zum MRT überwies. Dieser ließ „zur Abklärung der Kopfschmerzen“ im Mai 2014 das MRT des Schädels erstellen und bewertete den Befund als altersentsprechend und unauffällig. Wie der Gerichtssachverständige später feststellte, war auf dem MRT aber in der linken Felsenbeinspitze sowie im linken Mastoid eine diskrete Signalalteration erkennbar, die weite Teile des Innenohres einschließlich der Cochlea und der Bogengänge betraf.
Wegen Schwindels, Kopfschmerzen und Ohrendruck suchte der Patient im September 2015 eine HNO-Ärztin auf, die ein CT fertigte, das eine Perlgeschwulst des Ohres (Cholesteatom) zeigte. Nach deren operativer Entfernung litt der Patient unter Lähmungen im Gesicht. Er warf dem Radiologen vor, die auf dem MRT ersichtliche Läsion nicht erkannt zu haben. Wäre das CT bereits im Frühjahr 2014 eingeholt worden, wäre eine frühere Behandlung der Cholesteatombildung möglich gewesen. Die eingetretene Facialisparese wäre dann vermeidbar gewesen.
Der Dresdner Senat attestiert dem Radiologen einen Behandlungsfehler, weil dieser die auf den Bildern zu sehende Läsion nicht als Nebenbefund beschrieben hat. Ein Radiologe, dem ein Patient mit einer bestimmten Fragestellung zur weiteren Untersuchung überwiesen wird, könne sich nicht auf den Auftragsumfang beschränken, so der Senat. Aufgrund der ihm gegenüber dem Patienten obliegenden Fürsorgepflicht – das OLG Jena [2] spricht vom ärztlichen Selbstverständnis und dem Schutzinteresse des Patienten – hat er für die Auswertung eines Befundes alle Auffälligkeiten zur Kenntnis und zum Anlass für gebotene Maßnahmen zu nehmen, die er aus fachlicher Sicht seines Fachbereichs unter Berücksichtigung der in seinem Fachbereich vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der Behandlungs- situation feststellen muss. Ärzte müssen bei der Auswertung von Röntgenaufnahmen mithin alle Auffälligkeiten beachten. Sie müssen auch Zufallsbefunde berücksichtigen, selbst wenn diese über die eigene Disziplin hinausgehen. Vor in diesem Sinne erkennbaren „Zufallsbefunden“ dürfen sie nicht die Augen verschließen. Der Dresdner Senat vertieft mit diesem Urteil die früheren Vorgaben des Bundesgerichtshofs [3].
Fazit
Ärzte und Ärztinnen sind im Rahmen ihrer beruflichen Sorgfalt verpflichtet, auch Befunde, die nicht zur medizinischen Fragestellung ihrer beauftragten Untersuchung gehören, an den bzw. die überweisende(n) Kollegen bzw. Kollegin weiterzuleiten. Der für die Auswertung des Befunds medizinisch verantwortliche Arzt hat hierbei alle Auffälligkeiten zu beachten, in den Arztbrief aufzunehmen und weiterzuleiten, die er aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs unter Berücksichtigung der in seinem Fachbereich vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der Behandlungssituation feststellen muss.
Dr. jur. Thomas K. Heinz, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, E-Mail: dr.heinz@freenet.de
[1] OLG Dresden, Urteil vom 10.10.2023, Az. 4 U 634/23 = GesR 2024, 14
[2] OLG Jena, NJOZ 2008, 260, 267
[3] BGH, Urteil vom 21.12.2010, Az. VI ZR 284/09, Rn. 12 – juris = NJW 2011, 1672; BGH, Urteil vom 26.05.2020, Az. VI ZR 213/19