Kommentar und Ergänzungen zum Symposium des Landes Hessen am 10. Juli 2023
Die beiden durch die Corona-Pandemie bekannt gewordenen Virologen Prof. Dr. med. Sandra Ciesek (Universitätsklinikum Frankfurt/Main) und Prof. Dr. med. Christian Drosten (Charité Berlin) waren Gäste eines auch sonst „hochkarätig“ besetzten Symposiums, zu dem das Hessische Ministerium für Soziales und Integration (HMSI) unter Minister Kai Klose (Bündnis 90/Die Grünen) eingeladen hatte. Unter dem Titel „SARS-CoV-2: Herausforderungen und Lehren aus der Pandemie“ diskutierten Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Gesundheit und Politik am 10. Juli im Universitätsklinikum in Frankfurt am Main die Lehren und Schlussfolgerungen aus der Corona-Pandemie. Ein Bericht über das Symposium ist auf der Website des HMSI abrufbar über das Pressearchiv. [1] Prof. Dr. med. Ursel Heudorf, ehemalige stellv. Leiterin des Gesundheitsamtes Frankfurt/Main, hat im Publikum die Veranstaltung verfolgt. Unter der Rubrik „Ansichten und Einsichten“ kommentiert sie hier die Ergebnisse des Symposiums.
Die Pressemitteilung des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration [1] hat die meisten Punkte dargestellt, einige wichtige Kritikpunkte jedoch nicht erwähnt.
So sei der größte Fehler in der Pandemie gewesen, dass der Fokus nur auf das Virus gerichtet gewesen sei und nicht in Systemen gedacht worden sei (Prof. Volker Mosbrugger). Statt auf Containment hätte man mehr auf die Vulnerablen schauen müssen, habe dafür aber nicht die politische Rückendeckung erhalten (Dr. Jürgen Krahn, Leiter Gesundheitsamt Darmstadt und Vorsitzender LV ÖGD in Hessen).
Die Verletzung fachlicher, ethischer und rechtlicher Standards bei der Isolierung pflegebedürftiger Menschen [2–4], die Missachtung der Selbstbestimmung der Patienten und die Abkehr von der evidenzbasierten Medizin [5–8] wurden nicht angesprochen. Zuwendung durch Angehörige oder Besucher wurde reglementiert oder untersagt, Behandlungen verschoben und aufwendige Tests vorgenommen, ohne Prüfung der Evidenz und ohne Einbeziehung der Patienten. Der Impfung wurde ein Bärendienst erwiesen, als sie anfangs mit erkennbar falschen Versprechungen und später mit Zwängen durchgesetzt werden sollte – statt die Menschen über Nutzen und Risiken ehrlich aufzuklären und die Impfung ihrer freien Entscheidung zu überlassen [9].
Auch wenn sich ein Großteil der Bevölkerung nicht mehr mit der Pandemie befassen möchte, tut eine umfassende Aufarbeitung Not [s. auch 8], um Fehler in Zukunft zu vermeiden. Bereits im April dieses Jahres wurde hierzu ein von 40 Wissenschaftlern initiierter und inzwischen mehrhundertfach unterzeichneter Offener Brief veröffentlicht: die Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitssystem, das Bildungssystem und die Wirtschaft sowie die sozialen Kollateralschäden sind zu untersuchen [10]. In einem zweiten Brief wurden zentrale Brüche in der Gesundheitsversorgung angesprochen, insbesondere zur wissenschaftlichen Evidenz, zur Rolle der Patientenautonomie und zur Beteiligung von Gruppen/Verbänden in der Gestaltung des Gesundheitswesens [7].
Drosten: „Trugschlüsse“, „falsche Methoden“, „falsche Aussagen“, „eitle Selbstdarsteller“
Die Berichterstattung in den Medien über die Veranstaltung [z. B. 11–17] konzentrierte sich auf den Beitrag Christian Drostens, der „rückblickend auf die Irrtümer in der Rezeption der Pandemie“ hinzuweisen versuchte [1]. „Sein Vortrag ,Wellen und Varianten’ hatte stellenweise etwas von Rechtfertigung und Abrechnung. Drosten arbeitete sich ab an ,vielen Trugschlüssen’, an ,eitlen Selbstdarstellern’ (...), an Falschaussagen aus seiner Sicht“ [15]. Drosten, vom Moderator als „Erklärer der Pandemie“ eingeführt, sah sich veranlasst, Dinge aus seiner Sicht richtig zu stellen. Diese „Richtigstellungen“ wurden von den Medien meist ungeprüft weitergegeben. Es lohnt sich daher, einige der genannten Punkte aufzugreifen.
Wie war das mit den Lockdowns ...
Obwohl es Publikationen aus Deutschland und England gibt, die – unter Berücksichtigung des Meldeverzugs – zeigen, dass der Wendepunkt der Pandemie schon vor dem ersten Lockdown erreicht war [18–20], betonte Drosten, dass der rasche Lockdown in Deutschland im März 2020 60.000 Menschenleben gerettet habe. „Unselige Debatten“ im Herbst 2020 und die damals gesäten „Wissenschaftszweifel“ hätten in der zweiten Welle zu einer hohen Sterblichkeit geführt. Evidenz zu seiner Behauptung blieb Drosten jedoch schuldig.
... den Schulschließungen ...
Zur Aussage, dass Deutschland die Schulen länger als andere Länder geschlossen habe, zeigte Drosten eine Abbildung aus dem OECD-Bericht zur Situation der Bildung in 31 Ländern [21, S. 11], ohne zu erwähnen, dass die Reihung lediglich die Schließungen in der Sekundarstufe 2 umfasste. Die in der Abbildung nur schwer erkennbaren Marker für Schließungen im Vorschul- oder Primarbereich zeigen ein etwas anderes Bild. Um aus den Fehlern der Pandemie zu lernen, erscheint es sinnvoll, vergleichbare europäische Länder zu betrachten, die ihren Kindern weniger Einschränkungen auferlegt haben (u. a. Schweden, Schweiz, Finnland, Frankreich, Belgien, Spanien, Niederlande) [siehe auch 22].
... dem Unterschied zwischen Kindern als Teil oder Treiber der Pandemie ...
Besteht bei Drosten überhaupt die Bereitschaft, im Hinblick auf die Kinder etwas aus der Pandemie zu lernen? Den deutschen Schulstudien unterstellte er weiterhin „falsche Aussagen“ und „falsche Methoden“ [s. auch 23]. Fachleute und -gesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie und die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene haben aber nie die Beteiligung der Kinder am Infektionsgeschehen negiert, sondern immer darauf hingewiesen, dass Kinder Teil, aber keine Treiber des Pandemiegeschehens seien [Lit. in 23]. Auch der von Drosten geäußerte Satz „... sind sie [Kinder] infiziert, dann übertragen sie“, ist in dieser Pauschalisierung nicht zu belegen. Die Erfahrung von Kinderärzten und Ärzten des Öffentlichen Gesundheitsdienstes und viele epidemiologische Studien zeigen stattdessen, dass Kinder mit Atemwegsinfektionen in der Regel weniger infektiös als Erwachsene sind.
... und zwischen infizierten Schulkindern und in der Schule infizierten Kindern ...
Unter der Annahme „infiziertes Kind im Schulalter = in der Schule infiziertes Kind“ zitierte Drosten Daten der britischen Statistikbehörde ONS mit hohen Infektionszahlen bei Kindern im Schulalter. Dem widersprechen nicht nur zahlreiche Schulstudien, sondern auch verschiedene Untersuchungen, die die höchsten „Inzidenzen“ bei Schulkindern unmittelbar nach den Ferien fanden. Unerwähnt ließ Drosten den 6. „School Infection Survey“ des ONS, wonach die Positivraten bei in der Schule untersuchten Schülern durchweg niedriger als bei Kindern in der Umgebungsbevölkerung lagen. Das ONS führt dies u. a. auf Präventionsmaßnahmen und Testungen zurück [Lit. in 23].
Weiter argumentierte Drosten, man habe nur durch Schulschließungen das Homeoffice zum Schutz der älteren Bevölkerung durchsetzen können. Diese Begründung für gravierende Einschränkungen von Grundrechten für Kinder und die Inkaufnahme der Beeinträchtigung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten sowie von schweren Folgeschäden für die psychische und physische Gesundheit von Kindern stellen eine fremdnützige Instrumentalisierung von Kindern dar, die mit dem Kindeswohl sicherlich nicht in Einklang zu bringen ist.
... sowie der Pathogenität der Omikron-Variante?
Auch sei Omikron nicht „mild“ gewesen: „Dass die Krankheitslast bei Omikron gesunken ist, lag alleine an der Impfung“, so Drosten wörtlich [1]. Vermutlich bezog er sich dabei auf die kürzlich erschienene Studie von Wong et al. [24], ohne die Studien und Reviews zur Kenntnis zu nehmen, nach denen von Omikron ein signifikant geringeres Risiko für Krankenhauseinweisungen und andere Endpunkte als bei früheren Varianten ausgeht, und zwar meist unabhängig vom Impfstatus [z. B. 25–30]. Warum er entgegen guter wissenschaftlicher Praxis die überwältigende Datenlage unerwähnt ließ, bleibt unklar.
Denken in Systemen und bessere Kommunikation sind gefragt
Sicher haben in der Pandemie viele ihr Bestes gegeben, aber es wurden eben auch viele Fehler gemacht, besonders in der Kommunikation. Leider waren auf dieser Veranstaltung Fragen der Zuhörer nicht vorgesehen, eine echte Kommunikation nicht möglich. Aber wenn diese Veranstaltung als ein erster Auftakt zu einer Aufarbeitung gesehen werden kann, die dem Gedanken von Prof. Mosbrugger zum systemischem Denken, zum konstruktiven Hinterfragen wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie der Forderungen nach besserer und offener Kommunikation folgt, dann kann es [7, 10] gelingen.
Prof. Dr. med. Ursel Heudorf, ehemalige stellv. Leiterin des Gesundheitsamtes Frankfurt/Main
Die Beiträge in der Rubrik „Ansichten & Einsichten“ geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Die Literaturhinweise finden Sie am Ende dieser Seite unter „Artikel herunterladen“ in der PDF-Version dieses Artikels.
1 Vgl. auch Bad Nauheimer Gespräche (BNG) vom 29.06.2023: „Kinder und Alte – die Vergessenen der Pandemie. Bericht in dieser Ausgabe auf S. 500 sowie Video-Mitschnitt abrufbar über die Website der BNG www.bad-nauheimer-gespraeche.de