1. Fachtagung zur Ethik-Fallberatung

Ethikberatung im Gesundheitswesen gehört spätestens seit einer Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer im Jahr 20061 als „praxisrelevanter Beitrag zur Versorgung von Patienten“ zur guten medizinischen Praxis. In Hessen ist durch das Krankenhausgesetz aus dem Jahr 2011 in allen Kliniken ein*e Ethikbeauftragte*r sogar verpflichtend. Ethikberatung umfasst neben der Konzeption und Durchführung von Fortbildungsmaßnahmen und der Entwicklung von Ethik-Leitlinien die konkrete Einzelfallberatung. Diese erfolgt in der Regel durch eine moderierte ethische Fallbesprechung mit den verschiedenen Beteiligten vor Ort. Ethik-Fallberatungen sollen helfen, die verschiedenen Behandlungsoptionen ethisch zu bewerten und so die bestmögliche Entscheidung zu treffen.

Fallbeispiel

Herr B. kann sich eines Abends, beim Abendessen mit seiner Familie, plötzlich nicht mehr artikulieren und rutscht von seinem Stuhl. Wenig später trübt er rasch ein. In der Klinik stellt sich schnell heraus, dass B. einen ausgedehnten Mediainfarkt auf der linken Seite erlitten hat. Der Versuch einer Thrombektomie ist nicht erfolgreich und bei begleitendem Hirnödem wird in Einverständnis mit der Familie eine Hemikraniektomie durchgeführt. Der weitere intensivmedizinische Aufenthalt gestaltet sich zwar ohne Komplikationen. Der Patient ist dabei aber weiterhin nicht kontaktfähig und beatmungspflichtig. Als eine Tracheotomie erforderlich wird, äußert sich die Familie, als sie um Zustimmung gebeten wird, gegenüber der behandelnden Oberärztin sehr zurückhaltend. Herr B. war vor dem Schlaganfall leidenschaftlicher Sportler: Bewegung und Selbstbestimmung sind ihm sehr wichtig, argumentiert die Ehefrau. Die Familie ist daher unsicher, ob B. einer Fortführung der Intensivtherapie, die im ungünstigen Fall eine „Bettlägerigkeit“ und erhebliche Pflegebedürftigkeit zur Folge hätte, überhaupt zustimmen würde. Nach längerer Diskussion votieren sie daher für eine Therapiezieländerung hin zu einem rein palliativmedizinischen Konzept. Die Oberärztin ist unsicher, wie sie weiter vorgehen soll, da die Prognose aus neurologischer Sicht – zumindest für den Moment – keineswegs infaust ist. Sie bittet daher um eine Ethik-Fallberatung.

Konkrete Einzelfallberatung

In der Ethik-Fallberatung könnten nun mehrere Dinge geklärt werden: Auch wenn die behandelnde Ärztin zum Zeitpunkt der Anfrage der Meinung ist, dass der Patient noch „Perspektiven“ hat, kann das Therapieziel auf seine Sinnhaftigkeit hin reflektiert werden. Zum anderen kann thematisiert werden, wie der von der Ehefrau übermittelte mutmaßliche Wille zu bewerten ist. Je nach methodischer Orientierung folgt das Verfahren einem bestimmten Ablauf. Nach einer einleitenden Phase, in der sich die beratenden Personen vorstellen und den Ablauf des Gesprächs vorbereiten, folgt eine Informationserhebung.

Dann sollten Handlungsoptionen formuliert werden, die dann im Rahmen einer ethischen Güterabwägung reflektiert und bewertet werden, so dass es im Idealfall zu einem ethisch fundierten Konsens im Hinblick auf das weitere Vorgehen kommt.

Ein solcher Beratungsprozess dauert üblicherweise nicht länger als maximal 60 Minuten. Die beratende Person fungiert dabei als kompetent*r Begleiter*in, die sowohl den Prozess steuert als auch eine inhaltliche Expertise einbringt. Die Verantwortung für die Entscheidung verbleibt dabei jedoch bei der Ärztin. Sollte sich der mutmaßliche Wille im Rahmen der Ethik-Fallberatung so herausarbeiten lassen, dass er auf die Situation zutrifft, besteht keine Einwilligung zur Fortsetzung der Therapie. Diese muss dann unterbleiben, auch wenn sie – zumindest für den Moment – als effektiv und sinnvoll erachtet wird.

Kompetenzerwerb für Berater, Umfrage

Ethik-Fallberatung kann ein sinnvolles, aber durchaus ein komplexes Unterfangen sein. Doch über welche Kompetenzen muss eine beratende Person verfügen und wie können diese erworben werden? Dafür fand im Dezember 2022 in der Goethe-Universität Frankfurt am Main die erste Fachtagung zur Didaktik der Ausbildung von Ethikberater*innen im Gesundheitswesen statt. Initiiert vom Frankfurter Dr. Senckenbergischen Institut für Geschichte und Ethik der Medizin und der AG Ethik in der Medizin der Philipps-Universität Marburg, wurde die Tagung in Zusammenarbeit mit der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) und dem Universitätsspital Zürich durchgeführt.

Die Ausbildung wird von verschiedenen Bildungsträgern, auch der Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung der Landesärztekammer Hessen, angeboten. Sie folgt einem spezifischen Curriculum der AEM und ist im Rahmen der von der AEM seit 2014 angebotenen Zertifizierung für Ethikberatung als Schulung anerkannt. Neben der Lehre von theoretischen Grundlagenkenntnissen sind simulierte Ethik-Fallberatungen Kernstück der praktischen Ausbildung. Anders als für die Vermittlung theoretischer Kenntnisse gibt es für den Kompetenzerwerb in der praktischen Beratungstätigkeit keine hinreichende Harmonisierung didaktischer Konzepte. Dies war Gegenstand der Tagung.

Rund 40 teilnehmende Ausbilder*innen für Ethikberatende aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wurden im Vorfeld zu ihren aktuellen Ausbildungsstrategien befragt. Dabei zeigte sich eine große Vielfalt von didaktischen Ansätzen mit einem breiten Spektrum an gelehrten Modellen für Ethik-Fallberatungen.

Weitgehende Einigkeit bestand darin, dass insbesondere der Praxistransfer in der Ausbildung eine besondere Herausforderung darstellt und dass die bisherige Ausbildungszeit dem nicht hinreichend genügt. Regelhaft werden Simulationen in der praktischen Ausbildung eingesetzt.

Vorträge und Workshops

Die Psychologin und Privatdozentin Michaela Kolbe vom Simulationszentrum am Universitätsspital Zürich widmete sich in einem Vortrag dem Thema „Feedback“. Es ist für die praktische Ausbildung im Zusammenhang mit der Auswertung von simulierten Einzelfallberatungen von besonderer Bedeutung. Wie muss das Feedback vorgebracht werden, damit Adressat*innen das Optimum für die Entwicklung der (Beratungs-) Fähigkeiten daraus ziehen können? Viele bisher üblichen Feedbacktechniken wie die sogenannte „Sandwichtechnik“ seien als kontraproduktiv erkannt worden. Charakteristisch für ein sinnvolles und effektives Feedback sei: eine spezifische Haltung der feedbackgebenden Person und ein Feedback innerhalb eines kommunikativen Prozesses. Dann könne sich die feedbackempfangende Person zu eben diesem Feedback verhalten. Gründe für die jeweils gezeigte Kommunikationssequenz würden so transparent angesprochen und wertschätzend hinterfragt werden.

In zwei Workshops wurde über die Konzeption und Durchführung von Simulationen in der praktischen Ausbildung für Ethikberatende diskutiert. Dabei wurde zwischen Peer-to-Peer-Simulationen und Simulationen mit Simulationspersonen (SP) unterschieden.

Bei Peer-to-Peer-Simulationen übernehmen Teilnehmer*innen der Kurse vorab konzipierte Rollen, so dass eine Ethik-Fallberatung realitätsnah simuliert wird. Sie eignen sich für das Erlernen prozessualer Aspekte und Fertigkeiten, sind leicht zu realisieren, unterliegen aber einer starken Situationsabhängigkeit. Peer-to-Peer-­Simulationen sind aktuell der Standard der praktischen Ausbildung.

Bei Simulationen mit Simulationspersonen (SP) werden ausgebildete Schauspieler*innen für vorab konzipierte Rollen eingesetzt. Schauspieler*innen sind die Übernahme von Rollen gewohnt und werden zudem intensiv auf ihre Rollen vorbereiten. So können die Simulationen standardisiert durchgeführt werden, sind wiederholbar lernzielorientiert variierbar und deutlich realitätsnaher. SP werden in der Ausbildung von Ethikberatern in einem Pilotprojekt mit dem Marburger Skills Lab Maris eingesetzt.

Fazit der Diskussion

Die Teilnehmenden sahen insgesamt ein hohes Potenzial im zukünftigen Einsatz von SP bei der Ausbildung zur Ethikberatung. Limitierend seien der höhere logistischen Aufwand und die mangelnde Verfügbarkeit von ausgebildeten Schauspielpersonen. Dennoch hätte der Einsatz von Schauspielpersonen gegenüber Peer-Simulationen Vorteile. Inhalt und Methode könnten besser aufeinander abgestimmt werden und nicht nur kognitive, sondern auch emotionale Aspekte bei der Ethik-Fallmoderation gezielter trainiert werden. Auch wäre ein standardisiertes, professionelles Feedback gewährleistet. Die Möglichkeit einer verbesserten Praxisvorbereitung von Ethikberatenden, insbesondere in den späten Phasen der Ausbildung, wurde hervorgehoben.

Ausblick

Es gibt eine große Diversität hinsichtlich möglicher Ausbildungsstrategien. Die Ausbilder*innen wünschen sich auch deshalb eine Plattform für weiteren Austausch. Von den Organisator*innen wurde beschlossen, die Tagung jährlich wiederkehrend auszurichten, die nächste voraussichtlich im Februar 2024.

Dr. rer. med. Timo Sauer, Goethe-Universität Frankfurt, Dr. Senckenbergisches Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Paul-Ehrlich-Str. 20–22, 60590 Frankfurt/M.

Prof. Dr. phil. Alfred Simon, Akademie für Ethik in der Medizin, Humboldtallee 5, 37073 Göttingen

Prof. Dr. med. Tanja Krones, Dipl.-Soz., Universitätsspital Zürich/Universität Zürich, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Zürich, Schweiz

Prof. Dr. med. Carola Seifart, Philipps-Universität Marburg, FB Medizin, Arbeitsgruppe Ethik in der Medizin, Baldingerstraße, 35043 Marburg

1 https://www.zentrale-ethikkommission.de/stellungnahmen/ethikberatung-in-der-klinischen-medizin; https://www.zentrale-ethikkommission.de/stellungnahmen/ausserklinische-ethikberatung-2019