Serie Teil 21: Patientensicherheit – Start- und Zielpunkt in der Qualitätssicherung
Dr. med. Kyra Schneider, Prof. Dr. med. Jürgen Graf, Prof. Dr. med. Wolf O. Bechstein, Dr. med. Michael Heise, Dr. med. Hanan El Youzouri
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Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen (MMK) tragen mit der berufsgruppenübergreifenden strukturierten Analyse und Aufarbeitung besonderer Fälle in der Klinik dazu bei, die Patientensicherheit nachhaltig zu verbessern. Der aktuelle Stand der Implementierung im Universitätsklinikum Frankfurt am Main wurde mittels mehrerer Befragungen evaluiert. Für eine suffiziente Durchführung von MMK ist die geschulte und sensible Moderation der Konferenzen besonders wichtig – hierzu bietet die Akademie für ärztliche Fort- und Weiterbildung der Landesärztekammer Hessen eine Fortbildungsreihe an.
Über 100 Jahre nach der Einführung von MMK in der Harvard Medical School durch E. A. Codman (siehe Kasten) werden diese laut der aktuellen Krankenhausstudie KHaSiMiR 21 in den allermeisten Kliniken in Deutschland umgesetzt. [1] Dabei gibt es jedoch einiges Potenzial zur Weiterentwicklung. So sind MMK in knapp 25 % der Kliniken nicht strukturiert und nur in ca. 76 % fach- bzw. ungefähr 66 % berufsgruppenübergreifend umgesetzt.
Die Verpflichtung zur Durchführung von MMK ergibt sich für die Krankenhäuser aus der Qualitätsmanagement-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses. Auch diverse Fachzertifizierungen fordern die Durchführung von MMK, die ggf. auch im Stellungnahmeverfahren der externen Qualitätssicherung nachzuweisen sind.
Seit 2016 liegt der Methodische Leitfaden „Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen“ der Bundesärztekammer (BÄK) vor, seit 2019 der Leitfaden der Stiftung Patientensicherheit Schweiz. [2, 3] Dieser hat die systemische Analyse und die Rollen im Rahmen von MMK noch weiter ausgearbeitet.
Entwicklung eines Rahmenkonzepts zur Umsetzung von MMK im Universitätsklinikum Frankfurt
MMK sind am Universitätsklinikum Frankfurt lange etabliert. 2017 wurden erstmals die ärztlichen Leitungen zur Umsetzung von MMK in ihren Einrichtungen strukturiert befragt. Auf dieser Grundlage und dem Leitfaden der BÄK wurde in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe unter der Leitung der Stabsstelle Qualitäts- und klinisches Risikomanagement (QM/kRM) mit Beteiligung eines Einrichtungsleiters ein klinikumsweit geltendes Rahmenkonzept für die Durchführung von MMK erstellt. Hierfür wurden auch Vorlagen für die Vorbereitung, Präsentation und Dokumentation erstellt und in der Dokumentenlenkung hinterlegt. Basis des Dokumentationsbogens ist der des Methodischen Leitfadens MMK der BÄK.
Da nur in 54 % der Einrichtungen eine Maßnahmenverfolgung etabliert war, wurde diese Verantwortung den Qualitätsmanagementbeauftragten der jeweiligen Einrichtungen übertragen. Die von der BÄK geforderte regelmäßige Evaluation wurde jährlich mit pandemiebedingter Unterbrechung durchgeführt.
Über das bestehende Qualitätsmanagementsystem wird in einem jährlichen Risikoassessment der Einrichtungen die systematische Umsetzung von strukturierten MMK abgefragt. In den Inhouse-Schulungen der Qualitäts- und Risikomanagementbeauftragten (QMB/RMB) wird das Instrument der MMK detaillierter vorgestellt. Parallel dazu gibt es das Angebot der Begleitung von MMK durch die Stabsstelle QM/kRM (nun Stabsstelle Patientensicherheit & Qualität). 2022 wurden erstmals die Fallanalysierenden in einem neu konzeptionierten Kurs geschult und eine Fortbildung für die Moderatoren von MMK entwickelt.
Die Evaluation zeigt eine positive Entwicklung der Etablierung von MMK
Die Evaluation erfolgte über zwei Ebenen, die der Einrichtungsleitungen und die der Teilnehmenden. Die Einrichtungsleitungen wurden 2017, 2019 und 2021 befragt. In dieser Zeit wurde die regelmäßige Umsetzung von MMK in 82 % der Einrichtungen auf 90 % gesteigert. Ursprünglich fanden diese in 46 % der Einrichtungen wöchentlich statt, 2021 lag die Präferenz dann mit 56 % bei einer quartalsweisen Durchführung. Die Nachhaltigkeit von MMK, die in der ersten Befragung mit durchschnittlich 7,5 (bei einer Skala von 1 für „sehr schlecht“ bis 10 für „sehr gut“) bewertet wurde, konnte nach den oben beschriebenen Interventionen auf 8,6 gesteigert werden, fiel allerdings im Rahmen der Pandemie auf 8,1 zurück. Der Anteil der MMK mit moderierender Leitung blieb im Verlauf der Jahre nahezu unverändert bei 45 %. Der Anteil der Oberärztinnen und Oberärzte, die die Moderation einer MMK übernommen haben, konnte von 48 % auf 68 % gesteigert werden.
Im Rahmen der Befragung wurden folgende positive Erfahrungen von MMK genannt:
- Entlastung für einzelne Personen und das gesamte Team,
- Formulierung von Lernbotschaften, die konkret umgesetzt werden können/ müssen,
- Kultur der konstruktiven Selbstkritik,
- Identifizierung von Schwächen in der Organisationsstruktur,
- Offene, kollegiale Kommunikation,
- Konstruktive, zielführende Diskussionen und
- Verbesserung von Strukturen und Dokumentation.
Die Befragung der Teilnehmenden wird über die zentrale Stabsstelle Patientensicherheit & Qualität in Zusammenarbeit mit den QMB der Einrichtungen organisiert. Grundlage der Evaluation ist der Befragungsbogen des Leitfadens MMK der Stiftung Patientensicherheit Schweiz. Die Anzahl der Rückläufer liegt bei 97, 125 bzw. 120 Bögen in den Jahren 2019, 2021, 2022/2023. Die größten positiven Verbesserungen gab es bzgl. der „Klarheit über Schiefgelaufenes“ (Anstieg von 59 % auf 76 %). Das „Lernen aus dem Fall“ wurde von ursprünglich 59 % nun von 78 % bejaht (vgl. Abb. 1). 81–84 % der Teilnehmenden gaben an, selbst offen zu reden. Ähnliche Rückmeldungen gab es zum offenen Reden der anderen. In 82–84 % wurden auch fehlerbegünstigende Faktoren besprochen.
Identifizierte Erfolgsfaktoren
Diverse Arbeiten konnten die Reduktion sowohl der Komplikationsrate als auch der Gesamtmortalität durch MMK nachweisen. [4–7] MMK können sich positiv auf die Sicherheitskultur auswirken, wenn sich die Teilnehmenden psychologisch sicher fühlen und ein Bloßstellen der Beteiligten unterbleibt. [8]
Damit MMK erfolgreich sein können, müssen die Rollen Leitung, Moderation und präsentierende Person klar und die Fallauswahl transparent sein. Die Moderation von MMK ist eine besondere Herausforderung, da z. B. Schuldzuweisungen kontraproduktiv auf offenes Reden über Fehler wirken. Moderatoren und Fallpräsentierende sollten spezifisch qualifiziert und auch die Leitungen von MMK sollten gezielt auf die Zielsetzung, den Ablauf und die besonderen Herausforderungen für ihre Rolle vorbereitet werden. Beispielsweise werden in der Klinik für Allgemein-, Viszeral-, und Transplantationschirurgie alle postoperativen Todesfälle in einer strukturierten MMK besprochen und protokolliert. Indikation, intraoperatives Vorgehen und postoperative Behandlung werden kritisch hinterfragt ohne Suche nach persönlichem Versagen („no blame and shame“), sondern im Hinblick auf strukturelle Verbesserungsmöglichkeiten. Hilfreich ist auch die Einordnung des Vorgangs in den aktuellen Stand des medizinischen Wissens, welches ggf. auch umfangreichere Literaturrecherche erfordert.
Gemeinsames Lernen
Die präsentierten Ergebnisse des Universitätsklinikum Frankfurt zeigen, dass es mit einem entsprechend angepassten Konzept möglich ist, die Effekte von MMK positiv weiterzuentwickeln und die Nachhaltigkeit zu steigern. Wenn es gelingt, eine offene Atmosphäre des gemeinsamen Lernens ohne Schuldzuschreibungen zu schaffen, sind MMK ein wirksames Instrument sowohl für das individuelle als auch das organisationale Lernen (vgl. Abb. 2). Klarheit der Rollen und Struktur unterstützen die erfolgreiche und gewinnbringende Umsetzung von MMK.
Dr. med. Kyra Schneider, Prof. Dr. med. Jürgen Graf, Prof. Dr. med. Wolf O. Bechstein, Dr. med. Michael Heise, Dr. med. Hanan El Youzouri
Dr. med. Kyra Schneider leitet seit 2015 die Stabsstelle Patientensicherheit & Qualität des Universitätsklinikum Frankfurt am Main und ist dort die Patientensicherheitsbeauftragte. Die Anästhesiologin, Intensiv- und Notfallmedizinerin hat neben langjähriger klinischer Erfahrung diverse Qualifikationen im Qualitäts- und Risikomanagement erworben und ist seit langem leitend in diesem Bereich tätig. Zudem arbeitet Schneider als Dozentin für die Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung der Landesärztekammer Hessen und in verschiedenen weiteren Institutionen mit.
Weitere Autoren des Artikels sind:
- Prof. Dr. med. Jürgen Graf, (Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender Universitätsklinikum Frankfurt)
- Prof. Dr. med. Wolf O. Bechstein, (Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Transplantations- und Thoraxchirurgie, Universitätsklinikum Frankfurt)
- Dr. med. Michael Heise (Oberarzt Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Transplantations- und Thoraxchirurgie, Universitätsklinikum Frankfurt)
- Dr. med. Hanan El Youzouri (Oberärztin Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Transplantations- und Thoraxchirurgie, Universitätsklinikum Frankfurt)
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MMK am Universitätsklinikum Frankfurt am Main
Konkret werden für eine MMK geeignete Fälle durch den verantwortlichen Oberarzt identifiziert. Dies können postoperative Todesfälle oder auch Fälle sein, bei denen es mit weiteren behandelnden Disziplinen zu Abstimmungsproblemen kam. Üblicherweise werden die Fälle durch eine/n Assistenzärztin bzw. Assistenzarzt in fortgeschrittener Weiterbildung (d. h. keine Berufsanfänger) vorbereitet, indem der Fall chronologisch im klinikeigenen Template dargestellt und aufgearbeitet wird. Relevante Befunde (z. B. des Labors oder der Bildgebung) werden ebenfalls in die Präsentation aufgenommen.
Es folgt eine Prüfung, ob interne Standards eingehalten wurden. Die Literatur zu diesem Fall wird gesichtet und für die Kolleginnen und Kollegen mit wenigen Folien aufbereitet. Dieser Prozess der Fallanalyse wird oberärztlich begleitet.
Die MMK finden monatlich zu einem festen Termin während der Arbeitszeit statt. Die Patientensicherheitsbeauftragte des Universitätsklinikums nimmt ebenfalls teil. Sofern es behandlungsrelevante beteiligte Disziplinen bzw. weitere Berufsgruppen gibt, werden diese zur MMK frühzeitig mit eingeladen. In den Zentren sind diese von Beginn an interdisziplinär geplant. Nach der Begrüßung und dem Hinweis auf die Verschwiegenheitsverpflichtung durch die Einrichtungsleitung übernimmt der für die MMK verantwortliche Oberarzt die Moderation. Ggf. wird zu diesem Zeitpunkt das Kriterium für die Aufnahme des Falles in die MMK benannt. Danach erfolgt die Fallpräsentation durch die Assistenzärztin/den Assistenzarzt inklusive der Vorstellung der Literaturhinweise. Diese wird durch die Einrichtungsleitung noch in den weiteren Kontext eingeordnet.
Ggf. werden noch weitere Informationen zum Fall durch die anwesenden Kolleginnen und Kollegen (Viszeralchirurgie) ergänzt. In der nachfolgenden gemeinsamen Reflexion werden kritische Entscheidungen diskutiert – immer unter dem Aspekt: Würden wir mit dem Wissen von heute eine Entscheidung zur Diagnostik oder Therapie anders fällen?
In dieser Phase der MMK ist die Moderation zum Teil herausfordernd, um bei Schuldgefühlen zu entlasten bzw. mögliche Schuldzuweisungen zu unterbinden. Dies gelingt durch den Fokus auf die übergeordnete Aufgabe des gemeinsamen Lernens aus diesem Fall. Eine weitere Aufgabe der Moderation ist die Begleitung zur Ausarbeitung von Lernbotschaften und Präventionsmaßnahmen. Diese werden protokolliert und in die Maßnahmenverfolgung durch die Qualitätsmanagementbeauftragten mit aufgenommen. Der Abschluss und die Gesamteinordnung des Falls wiederum ist Aufgabe der Einrichtungsleitung.
Dr. med. Kyra Schneider
„Codman wollte ein Pionier sein, dennoch war sein Ziel ein weitaus größeres: Er wollte die Medizin und die Art und Weise, wie sie im 20. Jahrhundert praktiziert wurde, reformieren. Sein Hauptinteresse in der Medizin galt dem, was er „Endergebnis-Idee“ nannte. Eine wirklich einfache Idee, die nur aus der Vorstellung bestand, dass Ärztinnen und Ärzte ihre Patientinnen und Patienten lange genug begleiten sollten, um dann eine Aussage darüber treffen zu können, ob die Ergebnisse ihrer Behandlungen funktionierten.“
„Codman wanted to be a pioneer, but his goal was far greater; he wished to reform medicine and how it was practiced in the 20th century. His primary interest in medicine was what he called the End Result Idea. A simple idea, really, it consisted only of the notion that doctors should follow all their patients long enough to tell if the results of their treatment worked.“
W. J. Mallon: Ernest Amory Codman: The End Result of a Life in Medicine. WB Saunders, Philadelphia 2000. Übersetzung: Katja Kölsch