Bei den Bad Nauheimer Gesprächen berichten Experten vom Leiden der Kinder und Alten durch Maßnahmen gegen die SARS-CoV-2-Pandemie
Eine der umstrittensten politischen Verordnungen während der Covid-19-Pandemie waren die Kita- und Schulschließungen. Aus Angst vor der Ausbreitung des Virus und einer erhöhten Krankenlast wurden Betreuungs- und Bildungseinrichtungen teils monatelang geschlossen. Schon damals warnten manche Experten wie Kinderärzte vor den Folgen. Hintergrund der Schließungen war, eine andere vulnerable Gruppe, vornehmlich sehr alte Menschen, vor der Ansteckung mit dem Virus zu schützen. Doch gerade diese sollen ebenso wie die sehr jungen Mitglieder der Gesellschaft unter den Folgen der verschiedenen Pandemiemaßnahmen der Politik besonders gelitten haben. Das ist das Resümee von Experten beim Bad Nauheimer Gespräch am 29. Juni in den Räumlichkeiten der Landesärztekammer Hessen. Daraus folgt für die Expertenrunde vor allem eines: Aufarbeitung der Pandemiepolitik tut Not.
Benachteiligte Kinder litten besonders stark
Schon mehrmals in den vergangenen Jahren waren die Covid-19-Pandemie und vor allem die verordneten Maßnahmen Gegenstand von Diskussionen bei den Bad Nauheimer Gesprächen, moderiert von Prof. Dr. med. Ursel Heudorf (siehe Ausgabe 9/2022). Diesmal standen die Auswirkungen der Pandemiemaßnahmen auf Kinder, Jugendliche sowie Alte im Fokus der Runde. Geladene Experten waren die Kinderärztin Barbara Mühlfeld, der Jurist Dr. Axel Koch, der Geriater und Gerontopsychiater Prof. Dr. Johannes Pantel sowie die Geschäftsführerin der Agaplesion Markus Diakonie gGmbH Hannelore Rexroth. Den Einstieg mit Kurzvorträgen machte Barbara Mühlfeld. Die Kinderärztin berichtete, dass die Maßnahmen, die unter der Prämisse standen, die vulnerablen Gruppen der Gesellschaft zu schützen, erheblichen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern genommen hätten. Zunächst hätten viele Kinder und Jugendlichen die Maßnahmen sehr ernst genommen und mitgetragen. Auch, um ihre Angehörigen zu schützen. Bald aber sei diese Bereitschaft in Enttäuschung umgeschlagen, weil Kinder und Jugendliche nicht gehört wurden und die Schutzmaßnahmen für besonders Vulnerable in Alten- und Pflegeeinrichtungen nicht gut genug waren, so Mühlfeld.
Die Maßnahmen träfen auch nicht alle Kinder und Jugendliche gleich schwer. Risikofaktoren für Benachteiligungen waren unter anderem Armut, mangelnde Deutschkenntnisse oder psychische Erkrankungen. Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch besser gestellten Verhältnissen hatten Möglichkeiten, die Nachteile besser zu kompensieren. „Man kann sagen: Wer schon vor der Pandemie zu den Benachteiligten gehörte, den haben die Maßnahmen besonders getroffen und die Unterschiede weiter vergrößert“, sagte Mühlfeld.
Folgen, die einerseits in Studien belegt seien und die sie auch in ihrer Praxis beobachte, seien massive Gewichtszunahme innerhalb kurzer Zeiträume, psychische Erkrankungen wie beispielsweise Mutismus oder verzögerter Spracherwerb, was vor allem für diejenigen Kinder und Jugendliche dramatisch schlecht sei, die Deutsch als Zweitsprache lernen, so Mühlfeld.
Diese Verzögerungen und Lücken seien nicht nur nachteilig für das Individuum, sondern auch für die gesamte Gesellschaft. „Deswegen würde ich mir wünschen, dass wir diesem Thema eine ähnliche Öffentlichkeit geben wie Wärmepumpen“, sagte Mühlfeld zum Abschluss und sorgte für Schmuzeln und Beifall im Publikum.
Online kann Schule als Ort der Sozialisation nicht ersetzen
Der Unternehmensanwalt Dr. Axel Koch berichtete anschließend von seinen Erfahrungen vor Gerichten während der Pandemie und kritisierte die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. Insgesamt sechs Verfassungsbeschwerden habe er während der Pandemie gegen die Schulschließungen und die Ausdehnung der Maßnahmen auf Kinder eingereicht. Seine Argumentation habe sich darauf gestützt, dass Kinder nicht entscheidend zur Weiterverbreitung des Virus beitragen. Selbst wenn sie in einem ähnlichen Maß das Virus verbreiten, seien die Maßnahmen ungerechtfertigt, da es die Kinder in einer empfindlichen Entwicklungsphase treffe, so der Anwalt. „Immer wieder war dann die Begründung: Das sei alles gar nicht so schlimm“, sagte Koch. Doch selbst als sich die Erkenntnisse verdichteten, dass bereits Schäden bei Kindern entstanden seien, habe dies nicht zum Umdenken geführt. Neben der Vermittlung von Wissen sei die Schule eben auch ein Ort der Sozialisation, an dem Kinder Sichtweisen und Lebensrealitäten außerhalb der Familie kennenlernten. Diese Möglichkeit der Entwicklung sei nicht durch Online-Unterricht zu ersetzen, so Koch. Nun sei er vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gezogen, um gegen die Schulschließungen der Vergangenheit zu klagen. Er bedauere, dass er soweit gehen müsse, um die Rechte von Kindern zu erstreiten.
Die Brücke zu der anderen vulnerablen Gruppe, den Alten, sei doch auch: Hätte die Regierung diese besonders gefährdete Gruppe Menschen besser und gezielter geschützt, hätten Kinder weniger gelitten. Damit meine er aber nicht, die Alten wegzusperren, vielmehr hätten beispielsweise verpflichtende Tests in Alten- und Pflegeheimen früher eingesetzt werden müssen.
„Bärendienst für die Generationensolidarität“
Senioren standen dann im Kurzvortrag von Prof. Dr. med. Johannes Pantel, Leiter des Arbeitsbereichs Altersmedizin mit Schwerpunkt Psychogeriatrie und klinische Gerontologie an der Universität Frankfurt, im Fokus. Der Lockdown habe die Menschen zu einer erzwungenen Solidarität gedrängt, obwohl bereits vorher schon eine hohe Sensibilität für die Lage älterer Menschen vorhanden gewesen sei. Die Lockdowns seien ein „Bärendienst für die Generationensolidarität“ gewesen, so Pantel. Senioren seien verbal angegriffen worden, wenn sie aus dem Haus gegangen seien, genauso wie junge Menschen, wenn sie Gesellschaft mit Gleichaltrigen suchten. Ein weiteres Problem seien die ausgefallenen Vorsorgeuntersuchungen, die gerade bei älteren Menschen zu unnötigen Todesfällen führten, weil Erkrankungen nicht rechtzeitig diagnostiziert und therapiert wurden. Heime seien zu einer Art Gefängnis für ihre Bewohner geworden, obwohl man mit gezielteren Maßnahmen, wie beispielsweise PCR-Tests, einen liberaleren Umgang mit Gesellschaft schon früher hätte ermöglichen können. Pantel berichtete daraufhin von einem Fall vor Gericht in Baden-Württemberg, der die irrationale Gesellschaftsdynamik verdeutliche, bei dem er als Sachverständiger Stellung bezogen hatte. In diesem Heim seien die Bewohner vereinsamt und verwahrlost und das Pflegepersonal fürchtete um eine erhöhte Suizidgefahr unter den Bewohnern. Die durchgeimpften Bewohner wollten endlich wieder Kontakt zu anderen aufnehmen. Das Gericht erlaubte dies zwar schlussendlich, beschränkte es aber nur auf diesen Einzelfall und nicht auf andere Heime im Land.
Pflegeheime in schwieriger Lage
Den letzten Bericht lieferte Hannelore Rexroth, die verantwortlich für drei stationäre Pflegeheime in Frankfurt mit 500 Bewohnern ist. Zu Beginn sei sie über die ordnungsrechtlichen Maßnahmen der Politik froh gewesen, da diese ihr und den Mitarbeitern einen festen Rahmen in der unsicheren Zeit ermöglichten. Das Unternehmen Agaplesion habe bereits vor den Lockdowns im zentralen Logistikzentrum Hygienematerial für ein Jahr eingelagert. „Das war dann aber bereits nach nur zwei Monaten aufgebraucht“, berichtete Rexroth. Die zunächst positive Situation mit den Regelungen sei dann im Verlauf der Pandemie negativ umgeschlagen. So sollten beispielsweise demente Patienten isoliert werden, was allerdings ohne ständige Bewachung gar nicht möglich sei.
Geholfen habe das Netzwerk in Frankfurt mit anderen Pflegeeinrichtungen, diese hätte sich gegenseitig unterstützt, so Rexroth. Die Impfpflicht für medizinisches Personal sei für die Geschäftsführerin „nur Aktionismus“ gewesen, da die Impfung zwar vor schweren Verläufen schütze, aber nicht vor der Verbreitung des Virus.
Abschließende Diskussionsrunde
In der anschließenden Diskussionsrunde mit dem Publikum wurde unter anderem von Prof. Heudorf kritisiert, dass viele Professionen nicht gehört wurden. „Vieles war nicht nur sinnlos, sondern kontraproduktiv.“ Nach den Gründen gefragt, warum es teilweise während der Pandemie so weit kommen konnte, war die Meinung der Experten, dass vor allem Virologen und Modellierer in der öffentlichen Wahrnehmung gesehen wurden, die häufig unterkomplexe Modelle lieferten. „Wenn man sich fragt, warum das so gekommen ist, braucht man gar keine Verschwörungstheorie oder Agenda“, sagte Pantel: „Wenn Sie in politischer Verantwortung sind und es liegt ein solch dramatisches Modell auf dem Tisch: Machen Sie keinen Lockdown und die Zahlen aus dem Modell treten ein – dann rollt Ihr Kopf. Wenn Sie einen Lockdown machen, aber es kommt doch nicht so schlimm, können Sie sagen: Das war wegen meiner Maßnahmen.“ Heudorf stellte zudem die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass diese massiven Grundrechtseingriffe toleriert wurden. „Ich war ja Gesundheitsamtsleiterin und wenn da jemand nicht seinen Pass zeigen wollte, konnte man nichts machen. Aber während der Pandemie haben wir jedem Kneipier unsere Daten, inklusive medizinischer Daten, überlassen.“ Monika Buchalik aus dem Publikum machte den Vorschlag, dass in Zukunft die Fachwelt lauter werden und in der Medienwahrnehmung nicht nur reagieren, sondern auch agieren müsse. Pantel forderte daraufhin auch eine vollumfängliche öffentliche Aufarbeitung beispielsweise durch eine Enquete-Kommission. Koch sah die Gefahr, dass dies in naher Zukunft nicht passieren werde, weil es für die verantwortlichen Akteure noch zu nah dran sei.
Michael Andor aus dem Publikum kritisierte, dass durch die Isolation der Kinder deren natürlicher Austausch mit Krankheitserregern aus ihrem Umfeld verhindert worden sei. Barbara Mühlfeld unterstützte dies und berichtete von Fällen in einem Hamburger Kinderkrankenhaus, die mit einer Krankheitslast von Erregern, beispielsweise von Streptokokken-Stämmen, konfrontiert gewesen seien, wie es vorher noch nicht in so kurzer Zeit aufgetreten sei. „Und da ist natürlich eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass dies mit den politischen Maßnahmen zusammenhängt.“
Lukas Reus