Am 1. Oktober feiert der Allgemeinmediziner Dr. med. Hans-Peter Marsch sein 50. Praxisjubiläum. Die Praxis Marsch in Herleshausen im nordhessischen Werra-Meißner-Kreis besteht in dritter Generation seit 128 Jahren. Und seit 54 Jahren arbeitet dort Birgit Lehmann als Arzthelferin – heutige Berufsbezeichnung Medizinische Fachangestellte.

Privatmuseum im Aufbau

Diese lange Familientradition seit 1895 lässt der heute 80-Jährige, der täglich noch zu Privatsprechstunden Patienten empfängt, sogar in einem eigenen Museum lebendig werden: Dort hat er alles gesammelt, was im Laufe der über hundert Jahre erhalten blieb. Die Möbel aus der historischen Praxis seines Großvaters, Sanitätsrat Dr. med. Emil Marsch, beispielsweise, und viele weitere historische Stücke. Ein ganzes Haus hat sich so gefüllt, das einmal im Monat der Öffentlichkeit zugänglich ist.

Erstes Auto, erste Radfahrerin

Die Praxis Dr. Marsch wurde am 20. Januar 1895 in Herleshausen durch Dr. Emil Marsch gegründet (* 22.11.1869). Er studierte Medizin in Marburg und Berlin und legte 1894 sein Staatsexamen ab, die Promotion folgte 1897. Am 20.01.1945 erlebte er sein Goldenes Praxisjubiläum und verstarb kurz darauf im Alter von 75 Jahren.

Im Gedächtnis des heute 2.900-Einwohner-Städtchens blieb, dass der Arzt 1905 den Führerschein machte und und das erste Auto – einen Dixie – in der Region fuhr. Auch seine Ehefrau Bertha Marsch geb. Staubesand brachte ein Stück Moderne in die Grenzregion zu Thüringen: Sie stammte aus Marburg und war die erste Frau, die in Herleshausen Fahrrad fuhr. Gründungsvorsitzende des Ortsverbandes des Deutschen Roten Kreuzes wurde sie auch, das war 1910. Wenn Großvater Marsch chirurgisch tätig werden musste, auch das musste ein Landarzt damals können, war seine Frau für die Äthernarkose zuständig. Einmal passierte es, dass einem Bauern ein Bein amputiert werden musste, weil ihn ein Pferdewagen überrollt hatte. Diese Amputation erfolgte auf dem Küchentisch, so erzählt es Hans-Peter Marsch.

Großvater Marsch versorgte auch Menschen jenseits der Werra im Eisenacher Bereich medizinisch. Vor dem Automobil reiste er zu Hausbesuchen mit einem Kutscher oder ritt auf seinem Pferd „Max“. Mit Pferdefuhrwerken – Leiterwagen mit Stroh gepolstert – wurden auch die Krankentransporte ins nächste Krankenhaus nach Eisenach organisiert.

Sein Praxisschild zeigt, dass Emil Marsch sogar sonntags zwei Stunden für die Patienten erreichbar war. Nachts kam es vor, dass er wegen eines Notfalls von Angehörigen geweckt wurde, die mit einer Stalllaterne vor seinem Bett standen, wenn er im Schlaf die Türglocke nicht hörte. Haustüren wurden nicht abgeschlossen, elektrisches Licht oder Telefon gab es nicht.

In Herleshausen steht auch das Schloss der landgräflichen Familie von Hessen-Philippsthal-Barchfeld. Manchmal wurde der Landarzt zum Schloss gerufen, dafür musste er sich extra umziehen. „Dort herrschte Frackzwang – den Frack habe ich noch“, berichtet Marsch, der wegen freundschaftlicher Verbindungen zu den heutigen Schlossbewohnern schon mehrmals dort feiern durfte. Überliefert ist außerdem, dass sein Großvater schwächliche und rekonvaleszente Kinder mit Solebädern und Liegekuren therapierte – später wurden die Kinder zu Kuren an die See geschickt. Erwachsene und Kinder, die an Diphtherie erkrankt waren, mussten früher sogar mit Urin gurgeln.

Kriegsheimkehrer

Die erste Erinnerung an seinen Vater kann Hans-Peter Marsch genau datieren: Am 10. Januar 1950 um 15 Uhr hielt ein Zug im Bahnhof Herleshausen, er brachte Dr. med. Erich Marsch aus russischer Kriegsgefangenschaft in die Heimat zu seiner Ehefrau und vier Kindern zurück. „Nach sechs Jahren habe ich meinen Vater das erste Mal gesehen. Weil meine Mutter immer so viel Gutes von ihm erzählt hat, war er für uns kein Fremder.“

Geboren am 16.01.1903 in Herleshausen, studierte Vater Erich zunächst in Clausthal-Zellerfeld und legte dort sein Bergingenieur-Examen (Diplom) ab. Anschließend studierte er Medizin in Leipzig und Hamburg und promovierte über Krankheiten im Bergbau. 1933 heiratete er Ilse Frölich. Hans-Peter, geboren am 21.02.1943, ist der jüngste Sohn des Ehepaars. Im Sommer 1950 übernahm Erich Marsch die väterliche Praxis und praktizierte bis September 1973. Seine Schwerpunkte waren Hausgeburten und die Betreuung von Patienten in Alten- und Pflegeheimen. Auch Impfungen wurden in seiner Zeit hausärztliche Routine, beispielsweise gegen Wundstarrkrampf („dreimal mit je einem Serum von Rind, Schwein und Pferd“).

Die Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg und in russischer Kriegsgefangenschaft seit 1944 haben seinen Vater wohl nie ganz losgelassen, als Vorsitzender des Heimkehrerverbandes setzte er sich für die Interessen der Veteranen an.

5.000 Nachtdienste in 35 Jahren

Sohn Hans-Peter übernahm am 1.10.1973 in dritter Generation die väterliche Praxis. Er studierte in Göttingen, Innsbruck und Wien Medizin, legte 1971 in Göttingen sein Staatsexamen ab und promovierte dort im gleichen Jahr. „16 Medizinstudentinnen und -studenten famulierten in meiner Praxis, Assistenzärztinnen und -ärzte sammelten ihre Erfahrungen in einer Landarztpraxis mit ,Dienst rund um die Uhr’“. Hans-Peter Marsch zählte während seiner kassenärztlichen Tätigkeit über 5.000 Nachtdienste in 35 Jahren, mit Hausgeburten und vielen Notfällen. Am 29.02.2008 beendete er seine Kassenpraxis und ist seitdem privatärztlich tätig, mit den Schwerpunkten Allgemeinmedizin und Akupunktur. 1995 konnte er das 100-jährige Praxisjubiläum feiern und 2021 sein goldenes Staatsexamen und die goldene Promotion.

„Bis ich es nicht mehr schaffe“

Zahlreiche Medizinische Fachangestellte bildete er auch aus. Von der ersten Stunde mit dabei ist Birgit Lehmann. „Sie hat am 01.08.1969 in der Praxis meines Vaters ihre berufliche Tätigkeit als Arzthelferin begonnen, nachdem sie in der Praxis Dr. Knüller in Eschwege ihre Ausbildung absolviert hatte. Am 01.10.1973 übernahm ich sie als Arzthelferin in meine Praxis.“ Bis heute betreue sie nicht nur in vorbildlicher Weise die Patienten, sondern habe zusätzlich viele Arzthelferinnen und Schulpraktikanten ausgebildet, 16 Medizinstudierende und viele junge Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung bereitete sie auf den Praxisalltag vor. Im kommenden Jahr wird sie ihr 55. Praxisjubiläum begehen. „Ihr Umgang mit den Patienten ist vorbildlich, immer hilfsbereit und gut gelaunt. Sie erfreut sich großer Beliebtheit bei ihren Patienten und ist die gute Seele der Praxis“, lobt ihr Chef. Birgit Lehmann feiert im November ihren 73. Geburtstag. „Ich werde so lange weiterarbeiten, bis ich es gesundheitlich nicht mehr schaffe, da bin ich auf einer Linie mit Dr. Marsch“, sagt sie. Und räumt ein, dass das Arbeitspensum in der nun kleinen Privatpraxis, wo alle viel Zeit für jeden Patienten haben, nicht vergleichbar sei mit dem Arbeitsaufkommen und der Patientenzahl einer regulären Hausarztpraxis.

Sicher ist, dass Dr. Marsch das 55-jährige Dienstjubiläum seiner Arzthelferin ebenfalls feiern wird, vielleicht nicht ganz so groß wie dieses Jahr. Denn für Ende September erwartet er für die große Feier zum 50. Praxisjubiläum an zwei Tagen jeweils 100 geladene Gäste. 

Isolde Asbeck