Neue Ombudsstelle bei Konflikten in der ärztlichen Entscheidungsfreiheit
„Beratungsstelle bei Konflikten in der ärztlichen Entscheidungsfreiheit“: So heißt die neue Ombudsstelle der Landesärztekammer Hessen. Ihre „Aufgabe ist die Beratung und Unterstützung von Ärztinnen und Ärzten in abhängigen Arbeitsverhältnissen bei der Abwehr von nicht mit der Berufsordnung zu vereinbarenden Einflussnahmen der Arbeitgeber auf medizinische Entscheidungen“. In einem Gespräch mit dem Hessischen Ärzteblatt berichten die beiden Ombudspersonen Dr. med. Ursula Stüwe und Prof. Dr. med. Ulrich Finke über die Ziele der neu geschaffenen Stelle.
Warum ist die Ombudsstelle eingerichtet worden und an wen richtet sie sich?
Dr. med. Ursula Stüwe: Zielgruppe sind Ärztinnen und Ärzte im Abhängigkeitsverhältnis, also in erster Linie angestellte Ärztinnen und Ärzte – vor allem Kolleginnen und Kollegen im Krankenhaus, aber auch in Medizinischen Versorgungszentren, die in leitender Funktion tätig sind und auf deren medizinische Entscheidungen der Arbeitgeber versucht, Einfluss zu nehmen. Etwas, das nicht in Einklang mit dem ärztlichen Berufsethos und der ärztlichen Berufsordnung steht. Wenn diese Kollegen in eine Konfliktsituation geraten, in der sie sich entweder für den Patienten oder für die Vorgaben ihres Arbeitgebers entscheiden müssen, bietet ihnen die Ombudsstelle Beratung über Pflichten aus der Berufsordnung und Beratung zum konkreten Vorgehen im Konfliktfall an.
Nennen Sie bitte Beispiele für Situationen, in den Ärzte sich an Sie wenden können.
Prof. Dr. med. Ulrich Finke: Viele Arbeitgeber schieben finanzielle Probleme vor und wollen Kolleginnen und Kollegen dazu verpflichten, diese zu Lasten ihrer Patienten zu lösen. Selbstverständlich lautet eine Prämisse bei medizinischen Behandlungen, verantwortungsvoll mit den Geldern umzugehen. Andererseits scheinen die Patienten im Laufe der letzten Jahre immer kränker geworden zu sein – zumindest wenn man nach den Verschlüsselungen der Abrechnungen im Fallpauschalensystem geht.
Tendenziell werden Patienten dort kränker eingestuft, als sie sind, weil sich die Zuschläge für die Krankenhäuser nach den Schweregraden richten. So können dann etwa bei einem einfachen Beinbruch ein problemloser Diabetes und ein eigentlich gut eingestellter Hypertonus als Diagnosen hinzukommen. Man könnte hier nach der Sinnhaftigkeit fragen. Aber es wird von den Ärzten verlangt, weil es dem Krankenhaus mehr Geld bringt als die Patientenbehandlung.
Stüwe: Ein großes Problem sind die DRGs und in diesem Zusammenhang die Zeitschiene für Krankenhausaufenthalte. Die untere Grenzverweildauer (uGVD) soll – aus rein finanziellen Gründen – nach Möglichkeit nicht überschritten werden, danach bekommt das Krankenhaus dasselbe Geld bis zum Erreichen der oberen Grenzverweildauer. Wenn Patienten weitere Tage nach der uGVD im Krankenhaus liegen, weil sie z. B. zu Hause nicht versorgt sind/alleine leben, erhöhen sich die Erlöse für das Krankenhaus nicht. Das kann zu Diskussionen mit Geschäftsführungen führen.
Ein weiteres Beispiel sind die Mindestmengen, die man pro und contra sehen kann. So muss ein Chirurg im Jahr 50 Knieendoprothesen, kurz Knie-TEP, machen, da er sonst seine Zulassung für den Eingriff verliert. Was aber ist, wenn er am 1. Dezember erst 48 TEP vorweisen kann? Dann kommt ein Patient mit Kniebeschwerden, der Arzt schaut sich das Röntgenbild an und hat im Hinterkopf den Gedanken, dass er noch zwei Knie-TEP in dem Jahr machen muss, um sein Soll zu erfüllen, und dass das Risiko für diesen Patienten überschaubar ist. Wie soll er ihn beraten? Soll er ihm zunächst eine konservative Behandlung empfehlen – Physiotherapie, Muskelaufbau, Fango etc. – oder eine Knieendoprothese? Auch hieraus entsteht ein Konflikt.
Finke: Bei diesem Beispiel sehe ich den Konflikt auch. Dagegen würde ich die Notwendigkeit von Mindestmengen z. B. bei ausgedehnten Bauchspeicheldrüsenoperationen sofort unterschreiben.
Stüwe: Da machen Mindestmengen natürlich Sinn. Für solche Eingriffe ist ein großes Umfeld in einem Krankenhaus, auch zur Vor- und Nachbehandlung, notwendig. Um erfolgreich operieren und behandeln zu können, braucht man hier Mindestmengen. Aber es gibt Situationen, wie bei dem Beispiel mit den Knieprothesen, wo es einfach keinen Sinn ergibt, zu operieren, nur weil gegen Jahresende die Mindestmengen noch nicht vollständig erreicht sind.
Gibt es heute noch Chefarztverträge mit Klauseln zu der Zahl operativer Eingriffe?
Finke: Diese Art von Verträgen sind weniger geworden, auch werden Vorgaben nicht mehr hart, sondern eher unscharf oder weich formuliert. Etwa in der Art, dass Chefärzte die Bereitschaft haben sollen, sich für das wirtschaftliche Wohlergehen eines Krankenhauses zu engagieren. Mit einer sogenannten Entwicklungsklausel behalten sich die Krankenhausleitungen vor, die jeweiligen Abteilungen nach ihrer Vorstellung umzugestalten, auch ohne den jeweiligen Leiter einzubeziehen. In der ursprünglichen Form sind diese aber nicht mehr juristisch haltbar.
Die Verschiebung zur Ökonomie hat auch etwas mit mangelnder Wertschätzung zu tun. Nicht nur von Chefärztinnen und Chefärzten, sondern von der ärztlichen Leistung insgesamt. Anders als von der Bevölkerung wird die ärztliche Leistung von vielen Krankenhausleitungen heute nicht mehr wertgeschätzt, sondern vorwiegend als Kostenfaktor angesehen.
Wie bewerten Sie den Einfluss der Ökonomie auf die Medizin? Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie gemacht?
Stüwe: Es ist eine absurde Entwicklung im Denken, das durch die Ökonomen in die Köpfe der Ärzte hereingetragen wurde. Angefangen hat es mit dem sogenannten Branding von Kliniken. Plötzlich sagte man nicht mehr „Ich gehe zu Dr. Hinterhuber“ oder „Ich gehe zu Dr. Vorderhuber“, sondern „Ich gehe zu Helios“ oder einem anderen Krankenhauskonzern.
Chefärzte erhalten die ökonomische Verantwortung für ihr Personal. Und wenn nicht genügend Geld hereinkommt, heißt es: Dann sparen wir eben am Personal. Auf diese Weise können Stellen nicht besetzt werden und die Qualität leidet. Völlig hirnrissig, dieses Denken. Inzwischen wird jedoch der Druck gegen die reine Ökonomisierung immer stärker.
Wie weit die Ökonomisierung gehen kann, habe ich selbst im Krankenhaus erlebt. Damals steigerte eine Blasenentzündung den Schweregrad bei einer Fallpauschaleneinstufung deutlich, egal, um welche Diagnose es sich handelte. Das ging dann so weit, dass die Kassen verlangten, dass zur Abrechnung einer Blasenentzündung eine Blasenspiegelung gemacht sein müsse. Daraufhin habe ich den Krankenkassenleuten erklärt, dass es keine Indikation für eine Blasenspiegelung bei jeder Blasenentzündung gebe, diese mithin als routinemäßiger Eingriff Körperverletzung sei. So sehen die Kämpfe aus zwischen der Krankenkasse, die Geld einsparen will und dem Krankenhaus, das Geld verdienen möchte.
Finke: Noch augenfälliger ist es bei der Intensivbehandlung. Da heißt es etwa: 100 Tage Beatmung ergeben eine höhere Eingruppierung und damit Vergütung für das Krankenhaus. Wenn der Patient nun eigentlich nach 97 oder 98 Tagen schon entwöhnt werden könnte, stellen sich Überlegungen ein, wie man den Patienten nicht noch doch noch zwei oder drei Tage weiter beatmen könnte. Das ist von der Einstellung her natürlich nicht patientengerecht. Ich habe immer der Verwaltung gesagt: Ich kann meinen Ärztinnen und Ärzten eher ein ökonomisches Denken beibringen als den Mitarbeitern der Krankenhausverwaltungen ein medizinisches Verständnis.
Das Traurige ist: Die jungen Kolleginnen und Kollegen werden, ich will nicht sagen, dressiert, aber durch den ökonomischen Druck auf den Punkt gebracht. Auf den Staatsexamensfeiern sehe ich immer, was für tolle junge Leute aus dem Studium herauskommen. Sie machen einen hervorragenden Eindruck, haben studiert, weil sie Ärztin/Arzt werden und Menschen helfen wollen. Dann aber werden sie, ich sage es ganz deutlich, vom System verbogen. Häufig führt das dazu, dass sie die Freude an ihrem Beruf verlieren. Und das ist schlimm!
Wie eingangs gesagt, richtet sich die Ombudsstelle an leitende Ärztinnen und Ärzte. Können sich darüber hinaus auch junge Kolleginnen und Kollegen, die in Konfliktsituation geraten oder diese beobachten, an Sie wenden?
Finke: Zunächst einmal richten sich Verträge der Krankenhausverwaltung an die Chefärztin oder den Chefarzt. Wir haben nicht wenige Fälle von Chefärztinnen/Chefärzten auch hier im Rhein-Main-Gebiet, die von jungen Betriebswirten einfach auf die Straße gesetzt wurden, weil sie angeblich irgendwelche Zahlen nicht erfüllt hätten. Das ist das eine. Wenn es ein guter Chef ist, versucht er den Druck, den ihm die Verwaltung macht, möglichst von seinen Leuten fernzuhalten. Darum habe ich mich bemüht und notfalls die Watschen eingesteckt.
Meinen jungen Kolleginnen und Kollegen haben ich immer gesagt: Lernt eine ordentliche Medizin, saubere Diagnosestellung und eine korrekte, evidenzbasierte Behandlung. Die Abrechnungssysteme ändern sich laufend. Und wenn man noch böser sein will: Die Leitungen der Krankenhausverwaltungen wechseln oft schneller als manches andere. So habe ich in der 20-jährigen Tätigkeit an meiner letzten Klinik insgesamt mehr als acht verschiedene Krankenhausleitungen erlebt. Diese ökonomische Kurzlebigkeit, die ja auch dahinter steht, passt nicht zur Medizin. Medizin kann viel und lernt auch viel. Aber man kann nicht fordern, dass sich alles rechnen muss.
Stüwe: Richtig. Dann hat die Medizin verloren, wenn es danach geht.
Welche Unterstützung kann die Ombudsstelle bei möglichen Anfragen leisten?
Stüwe: Wir Ärzte haben die Berufsordnung, das ist den Kolleginnen und Kollegen zu wenig bekannt. Die ärztliche Berufsordnung ist verpflichtend für den freien Arztberuf, sie ist Fundament und Richtschnur für ärztliches Handeln. Das soll bei der Beratung in den Vordergrund gestellt und vermittelt werden. Es geht darum, als Arzt das für den Patienten Notwendige zu tun. Dies bedeutet beispielsweise, nicht aufgrund eines Röntgenbildes zu operieren, sondern auf den Patienten zuzugehen und zu schauen, wie er sich fühlt. Geht es ihm gut, operiert man eben nicht. Es ist immer eine individuelle Entscheidung, bei der der Patient im Mittelpunkt steht.
Bieten Sie als Ombudsstelle auch an, sich in Konfliktfällen mit dem Arbeitgeber in Verbindung zu setzen, sofern von dem oder der Beratungssuchenden gewünscht?
Finke: Das kommt auf den Einzelfall an. Unsere Rolle sehen wir mehr in der Beratung. Wenn sich der leitende Arzt gegen die Krankenhausverwaltung stellt, birgt das natürlich ein großes Konfliktpotenzial. Da wird eher der Arzt entlassen als umgedacht. In solchen Fällen ist es besser, wenn sich mehrere leitende Ärzte eines Hauses zusammenschließen und gemeinsam mit dem Arbeitgeber sprechen.
Damit kann sich die Chance auf ein Überdenken der Situation verbinden, denn tatsächlich geht es den Kliniken ja auch um ihren Ruf. Sie möchten gute Leute gewinnen. Und heute lassen sich die jungen Ärztinnen und Ärzte nicht mehr alles gefallen.
Was ich mir vorstellen kann, ist, dass die Ombudsstelle einer ganzen Abteilung oder mehreren leitenden Ärztinnen und Ärzten eine Fortbildung über die Berufsordnung anbietet.
Die Ombudsstelle soll auch politische Organe bei der Bearbeitung dieses Konfliktfeldes unterstützen. Wie ist das vorgesehen?
Stüwe: Noch stehen wir ganz am Anfang und müssen abwarten, was an uns herangetragen wird. Die gemeldeten Konfliktfälle sollen gesammelt und ausgewertet werden, um auf dieser Grundlage möglicherweise auch politische Maßnahmen unterstützen zu können.
Interview: Katja Möhrle