„Ihre Hände werden Sie nicht mehr bewegen können“: Mit Worten „so scharf wie Rasierklingen“ zerstört die Schweizer Physiotherapeutin Kielo alle Hoffnungen ihres Patienten, seine Hände wieder gebrauchen zu können. „Ich fühle mich meines einzigen Lebenssinns beraubt, des einzigen, den ich im Moment erkennen kann“, schreibt Lorenzo Amurri in seinem autobiografischen, 2022 in deutscher Übersetzung im nonsolo Verlag, Freiburg, erschienenen Roman „Bis ich wieder atmen konnte“. Trotz jenes emotionalen Tiefpunktes – und das ist bezeichnend für Amurris berührendes, aufwühlendes, schonungslos offenes und humorvolles Buch – endet auch dieses Kapitel des seit einem Unfall querschnittgelähmten Autors mit dem Wort „Hoffnung“.
Gemeinsam mit der Deutsch-Italienischen Vereinigung (DIV) hatten die Bad Nauheimer Gespräche (BNG) am 5. Oktober zu einem außergewöhnlichen Abend in die Landesärztekammer eingeladen. Eingerahmt von Musik des 2016 verstorbenen ehemaligen Gitarristen Amurri, Filmsequenzen mit ihm, einem Interview mit seiner Schwester sowie dem Videogespräch mit Verlegerin Alessandra Ballesi-Hansen und Übersetzerin Dr. Ruth Mader-Koltay las Brigitta Assheuer Passagen aus dem Roman. Ebenso einfühlsam wie eindringlich verlieh die Sprecherin Amurris Sätzen Lebendigkeit und spürte virtuos ihrer Musikalität nach. Moderierend verknüpften Prof. Dr. Ursel Heudorf, 1. Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der BNG, und PD Dr. Caroline Lüderssen, Vorsitzende des Vorstands der DIV, die Elemente der Lesung zu einer vielfarbigen und -schichtigen Komposition.
„Gedankenfreiheit ist Bewegungsfreiheit“
Sex, Drugs und Rock’n’Roll – das war das Motto des jungen Amurri. Seine Gitarrenleidenschaft, Auslandsaufenthalte, Bandgründungen und der Wunsch nach Unabhängigkeit bestimmten das Leben des Italieners bis zu jenem kalten Januarmorgen 1997, als seine Träume an dem Pfeiler einer Seilbahn zerschellten: Mit 26 Jahren verletzt er sich beim Skifahren an der Wirbelsäule und ist fortan von der Brust abwärts querschnittgelähmt – ein Tetraplegiker. Nach langen, schmerzhaften Monaten in einer Reha-Klinik, kleinen Fortschritten, tiefen Abstürzen, widerstreitenden Emotionen und Suizidgedanken kämpft sich Amurri zurück ins Leben. Für ihn, den passionierten Musiker, der kein Instrument mehr zu spielen vermag, liegt der Schlüssel zu neuer Energie im Schreiben. Dabei wechseln sich Erinnerungen, Begegnungen mit Familie, Freunden, Ärzten und Pflegenden mit minutiösen Beschreibungen der eigenen körperlichen Verfassung und medizinischen Details ab.
„Gedankenfreiheit ist Bewegungsfreiheit“ – der erste Satz, den Amurri zu Papier brachte, sei unvermittelt aus ihm herausgedrängt, wie ein Fluss mit Hochwasser: „Denn es ist die Fantasie, die mich noch am Leben hält. Die Möglichkeit, das zu sein, was ich will, wo ich will und vor allem, wie ich will.“ Eine Fantasiewelt, die sich auf einer fortwährenden Suche nach der verlorenen Freiheit gründet. Und die auch immer wieder an die Grenzen der Wirklichkeit stößt und von Zweifeln und Ängsten überschwemmt zu werden droht.
Mit wohlklingender, sanfter Stimme lässt Assheuer lesend Traum und Realität miteinander verschmelzen, etwa wenn die Belastungen für die Liebesbeziehung zu groß werden und der Ich-Erzähler seiner Freundin nach der Trennung hinterher rennt, um ihr zu sagen, dass alles lediglich ein böser Traum gewesen sei. „Aber natürlich träume ich das alles nur mit offenen Augen, …“
Oder die ebenso intensive wie beklemmende Passage, in der Amurri erzählt, wie er sich mit seinem Rollstuhl in ein Schwimmbecken stürzt, spürt, wie das Wasser in ihn eindringt und er ertrinkt – vielmehr zu ertrinken scheint, denn die Schilderung erweist sich als Tagtraum, aus dem Amurri mit neuem Lebensmut erwacht. Wie nach einem langen Tauchgang kann er wieder Luft holen: „Ich schäme mich nicht mehr anders zu sein. Ich habe Lust zu leben, zu schauen, zu berühren, zu hören …“ „Apnea“ lautet der Titel des italienischen Originals, das sich unter den Finalisten des Premio Strega 2013 befand und mit dem Literaturpreis der Europäischen Union 2015 ausgezeichnet wurde. Sie höre ihrer Figur zu, damit ihre Sprache authentisch klinge, sagte Übersetzerin Mader-Koltay. Atmen sei der rote Faden, der sich durch das Buch ziehe und stehe als Metapher für das Leben. Daher habe sie für die deutsche Ausgabe den Titel „Bis ich wieder atmen konnte“ gewählt.
Katja Möhrle