In den 1980er-Jahren distanzierte sich der jüngst verstorbene Sexualforscher Volkmar Sigusch (siehe S. 308) mit Nachdruck von dem Sexualwissenschaftler und -reformer Magnus Hirschfeld (1868–1935). Dieser hatte sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts für die Rechte von Homosexuellen eingesetzt und 1896 das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee mitgegründet, das die Abschaffung jenes § 175 forderte, der „die widernatürliche Unzucht“ zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte.

Hirschfeld fungierte als Gutachter in Sexualstrafprozessen und gründete 1919 in Berlin das Institut für Sexualwissenschaft. Als jüdischer, homosexueller und sozialdemokratischer Sexualwissenschaftler war er kontinuierlich Anfeindungen aus dem rechtsextremen Lager ausgesetzt und wurde 1920 fast zu Tode geprügelt. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde sein Institut geplündert und zerstört. Hirschfeld befand sich zu dieser Zeit auf einer Weltreise. Er starb 1935 im Exil in Nizza [1].

Sigusch würdigte Hirschfeld durchaus als humanitären Kämpfer für sexuelle Befreiung, charakterisierte ihn 1985 in einem Spiegel-Essay jedoch als eine Art ‚Vordenker der Vernichtung‘, der wissenschaftlich und ethisch begründet habe, warum bestimmte Menschen ‚minderwertig‘ und ‚lebensunwert‘ seien. Zehn Jahre später korrigierte Sigusch, dass er in Hirschfeld nicht den „geistigen Vorläufer des Faschismus“ sehe, um aber sofort zu ergänzen, dass dieser jedoch in einem „biologistisch-somatologisch-eugenischen Diskurs“ mitgeschwommen habe. Diese vehement vorgetragene Ablehnung, mit der Sigusch zugleich deutlich machte, dass er Hirschfeld in keiner Weise als seinen Vorgänger verstehe, ist durchaus erklärungsbedürftig [2].

Eine biologische Ordnung der sexuellen Vielfalt

Als ‚unnatürlich‘ wurden im 19. Jahrhundert alle sexuellen Akte bezeichnet, die nicht der Fortpflanzung dienten. Ein Leitmotiv der frühen Sexualwissenschaft war es hingegen, zwischen Fortpflanzung und Sexualtrieb zu unterscheiden. Mittels des biologischen Triebbegriffs konnten auf die Homosexualität angewandte pathologisierende Theorien der moralischen Schwäche und des Erworbenseins (etwa durch Masturbation oder Verführung) widerlegt werden. Wenn der Trieb angeboren ist, dann kann Homosexualität kein Verbrechen sein, lautete das zentrale Argument Hirschfelds. Homosexualität sei weder Krankheit noch Entartung, sondern stelle ein Stück der Naturordnung dar [3].

Hirschfeld postulierte, dass jeder Mensch zunächst männliche und weibliche Anlagen in sich trage, die sich nur idealtypisch zum vollkommen weiblichen oder männlichen Typus entwickelten. Jedes Individuum sei eine Mischung männlicher und weiblicher Anteile. Der Grad der Mischung bestimme die spezifische geschlechtliche Varietät. Hirschfeld bezeichnete dies als Theorie sexueller Zwischenstufen. Sie diente ihm vor allem dazu, Hermaphroditismus – heute wäre der Begriff Intersexualität angebracht – und Homosexualität zu erklären.

Als in den 1910er-Jahren der Wiener Physiologie Eugen Steinach Aufsehen erregend verkündete, mittels Transplantationen von Ovarien und Hoden bei Nagetieren Effekte der ‚Verweiblichung‘, ‚Vermännlichung‘ und ‚Hermaphrodisierung‘ hervorgerufen zu haben, sah Hirschfeld seine ‚Zwischenstufenlehre‘ bestätigt [4]. Steinachs Experimente, die von großer Bedeutung für die frühe Sexualhormonforschung waren, stützten Hirschfelds spekulative Theorie. Danach seien Geschlecht und Sexualität angeboren, würden aber durch Hormone reguliert und ließen sich in der Körpergestalt konstitutionsbiologsch identifizieren. Die Zwischenstufentheorie ermöglichte eine biologische Ordnung der Diversität von Geschlecht und Sexualität. Aber ebenso erschien es auch möglich, Homosexualität ‚zu heilen‘.

Hirschfeld selbst war 1920 daran beteiligt, dass einem homosexuellen Mann, der sich dazu freiwillig gemeldet hatte, nach Kastration der Hoden eines als heterosexuell identifizierten Mannes eingepflanzt wurde. Er distanzierte sich Jahre später von diesem zum Scheitern verurteilten Menschenversuch. Nachdem um 1930 Sexualhormone isoliert worden waren, gingen einige Endokrinologen – wie Günter Dörner noch in den 1970er-Jahren an der Charité – davon aus, dass Homosexualität hormontherapeutisch ‚behandelbar‘ sei [5].

Hirschfelds Wahlspruch lautete per scientiam ad iustitiam. Er bezog sich dabei, neben der hochmodernen Hormonforschung, auch auf Wissensbestände des 19. Jahrhunderts. Dies umfasste die ‚Degenerationslehre‘, gemäß der in Gemeinschaften, deren natürliche Selektion geschwächt sei, die Vererbung negativer Eigenschaften zum Niedergang der Art führen würde. Es sei deshalb die konzertierte Aufgabe einer als ‚hygienisch‘ verstandenen Sozialpolitik, mit eugenischen Maßnahmen gegenzusteuern. Hirschfeld befürwortete dabei keineswegs eine rassenhygienische Selektion. Eugenik, so verkündete er eine zeitgenössisch verbreitete Utopie, bezwecke durch die Hervorbringung besserer und glücklicherer Menschen die Entstehung einer besseren und glücklicheren Menschheit [6].

Ein vergessener, umstrittener und wiederentdeckter Sexualwissenschaftler

Nach 1945 war Hirschfeld in beiden deutschen Staaten fast vergessen. Da von seinen zahlreichen Schriften ausgerechnet eine Monografie zur Sexualpathologie neu publiziert wurde, galt er zunächst vor allem als ein Sammler sexueller Abweichungen. Der berühmte amerikanische Sexologe Alfred C. Kinsey zitierte zwar Hirschfelds Arbeiten, erinnerte aber nicht an die deutsche Sexualwissenschaft vor 1933. Stattdessen grenzte sich Mitte der 1950er-Jahre in Westdeutschland eine Sexualanthropologie explizit von der „Epoche des kasuistischen Beschreibens“ ab, die auch mit Hirschfeld assoziiert wurde. Ebenso wurde in einzelnen psychoanalytischen Publikationen Hirschfelds Konzept eines ‚Dritten Geschlechts‘ ausdrücklich abgelehnt. Zugleich begann sich seit 1949 in Frankfurt und Hamburg sukzessive wieder eine Sexualforschung zu institutionalisieren, die in den späten 1960er-Jahren eine sozialpsychologische Orientierung erhielt [7].

In den frühen 1970er-Jahren setzte in den USA eine Geschichtsaufarbeitung des Kampfes für die Emanzipation von Homosexuellen ein. So wurde dann auch daran erinnert, dass Hirschfeld im vornazistischen Deutschland eine ähnliche Bewegung initiiert habe, wie dies nun in den USA der Fall sei. Während Hirschfeld also als Ahnherr der Schwulenbewegung entdeckt wurde, wurde in den 1980er-Jahren die frühe Sexualwissenschaft selbst – namentlich durch die Studien Michel Foucaults – kritisch betrachtet. Insbesondere Hirschfelds konstitutionsbiologische Definition der Homosexualität wurde abgelehnt. Foucault selbst deutete Hirschfelds Rolle eher vorsichtig. Dessen Kategorien hätten zwar zu einer Pathologisierung der Homosexualität geführt, aber zugleich auch einen gewissen Schutz bedeutet, „da man auf ihrer Grundlage Rechte einfordern konnte“ [8]. Grundsätzlich passte jedoch Hirschfelds biologische Argumentation nicht zu einer psychoanalytisch und sozialpsychologisch orientierten Sexualwissenschaft.

In Westdeutschland traf die Kritik des ‚Biologismus‘ auf eine Debatte über die nationalsozialistische Vergangenheit in der Medizin. Dies betraf gerade jene eugenischen Vorstellungen, die zumindest implizit weiterhin in Anthropologie, Reproduktionsmedizin und Bevölkerungswissenschaft vertreten wurden. Hier schlossen Sigusch und andere Vertreter einer neuen Sexualforschung an. Hirschfelds Gleichsetzung von naturwissenschaftlichem mit moralisch-politischem Fortschritt habe konsequent zu der Faszination durch die Eugenik geführt [9]. Tatsächlich ließ sich anhand seiner Veröffentlichungen problemlos nachweisen, dass Hirschfeld ein Befürworter von eugenisch indizierten Sterilisierungen war, solange dies freiwillig geschah. Zwangssterilisierungen sollten nur in besonders schweren Fällen erlaubt sein. Die zu Beginn der 1980er-Jahre vorgebrachte Kritik war also in der Sache durchaus angemessen, konstruierte aber sofort eine Verbindung zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Historische Studien zum differenzierten Feld der Eugenik, die auch deren sexualreformerische Richtung berücksichtigten, wurden erst seit Mitte der 1980er-Jahre veröffentlicht [10].

Zugleich gab es in Westberlin Versuche, Hirschfeld endlich als Vorkämpfer der Homosexuellenbewegung zu inaugurieren. So kam es 1982 zur Gründung der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, die sich – veranlasst gerade auch durch Siguschs Verdikt – seitdem intensiv um die geschichtswissenschaftliche Forschung zu Hirschfeld bemüht. Alle diese Veröffentlichungen konzentrierten sich zunehmend auf Hirschfeld als Aktivisten, Netzwerker und Reformer. Der Streit um den Degenerationstheoretiker und Eugeniker Hirschfeld trat deutlich in den Hintergrund. Im Jahr 2018, anlässlich dessen 150. Geburtstag, sah auch Sigusch von Hirschfelds Biologismus ab, denn dazu habe er genug gesagt. Was dann blieb, war der von den Nazis verfolgte Menschenrechtler [11].

Aber Hirschfeld hat gerade in jüngerer Zeit eine erstaunliche Renaissance erfahren. So wird er zunehmend als jemand wahrgenommen, der, insbesondere durch eine Weltreise, die Sexualforschung auch in außereuropäischen Ländern beeinflusst hat. Zugleich prägte er auch früh eine für Geschlechteridentitäten maßgebliche Nomenklatura. Insbesondere seine Theorie sexueller Zwischenstufen entspricht aktuellen Konzepten zur sexuellen und geschlechtlichen Diversität [12]. Hirschfeld wird entsprechend auch als ein bedeutsamer Zeuge vielfältiger sexueller Identitäten aufgerufen, wie sie in den 1920er-Jahren am Berliner Institut für Sexualwissenschaft geradezu behütet wurden [13].

Wenn Siguschs Intervention auch dem Wirken Hirschfelds in seiner Zeit nicht ganz gerecht wurde, so stand sie doch am Beginn einer intensiven Auseinandersetzung mit einem der interessantesten Sexualwissenschaftler des frühen 20. Jahrhunderts, der auf widersprüchliche Weise bereits jene Geschlechterfragen stellte, die auch noch hundert Jahre später wissenschaftlich und öffentlich diskutiert werden.

Prof. Dr. phil. Heiko Stoff, Institut für Ethik, Geschichte und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover, Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover, E-Mail: stoff.heiko@mh-hannover.de

Die Literaturhinweise finden Sie am Ende dieser Seite unter „Artikel herunterladen“ in der PDF-Version dieses Artikels.