Volkmar Sigusch wurde am 11. Juni 1940 in Bad Freienwalde (Oder) geboren. Sein Vater, Revisor bei einer lokalen Sparkasse [1], starb während des Zweiten Weltkrieges. Er wuchs in der späteren DDR bei seiner Mutter, der Großmutter und dem älteren Bruder auf. Nach dem Abitur, das er mit Auszeichnung ablegte, begann er ein Medizinstudium an der Humboldt-Universität Berlin. Als ihm eine Anklage wegen Gründung einer „Widerstandsgruppe“ drohte, die u. a. heimlich in der DDR verbotene philosophische Frühschriften von Karl Marx las, floh er im Jahr des Mauerbaus als 21-Jähriger in die BRD [2].
Er setzte sein Medizinstudium in Frankfurt und Hamburg fort, studierte außerdem Philosophie und Soziologie bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Die Methoden der Frankfurter Schule wendete er später auch in der Sexualwissenschaft an. 1963 wechselte Sigusch nach Hamburg zu Hans Bürger-Prinz und Hans Giese, dem Direktor des neu gegründeten Instituts für Sexualforschung. Er promovierte hier 1966 mit einer Studie über die Genese von Vorurteilen. Nach seiner psychiatrischen Weiterbildung wurde Volkmar Sigusch 1972 an der Universität Hamburg in dem neuen Fach Sexualwissenschaft habilitiert [3].
Das Hamburger Institut für Sexualforschung war der Versuch eines Neuanfangs nach der Nazidiktatur. Das von Magnus Hirschfeld 1919 in Berlin gegründete Institut für Sexualwissenschaft war am 6. Mai 1933 von Anhängern des NS-Studentenbundes zerstört worden. Von dem Schlag, den der Nationalsozialismus der Sexualwissenschaft versetzte, hat sie sich bis heute nicht wirklich erholt. Siehe weiterer Artikel über Hirschfeld S. 310.
Das Sexualwissenschaftliche Institut Frankfurt 1973–2006
Sigusch wurde 1973 als Professor für Sexualwissenschaft an die Medizinische Fakultät in Frankfurt am Main und gleichzeitig für Spezielle Soziologie (Soziologie der Sexualität) an den Fachbereich Gesellschaftswissenschaften berufen. Von 1973 bis zu seiner Emeritierung 2006 war er Direktor der neu gegründeten „Abteilung“, ab 1996 „Institut“ für Sexualwissenschaft im Klinikum der J. W. Goethe-Universität Frankfurt/M. [4].
Sigusch wurde bei der Gründung besonders von den Psychoanalytikern Alexander Mitscherlich und Tobias Brocher unterstützt [3]. Der damalige Kultusminister Ludwig von Friedeburg (Amtszeit von 1969–1974) hatte einen wesentlichen Anteil an der Neugründung des eigenständigen Instituts für Sexualwissenschaft, unabhängig von der Psychiatrie.
Das Institut bestand anfangs nur aus drei Personen: Prof. Sigusch, dem wissenschaftlichen Assistenten Reimut Reiche und der Sekretärin Gudrun Völker, geb. Amler. Später kamen noch zwei wissenschaftliche Stellen, eine Dokumentationsassistentin (Agnes Katzenbach) und eine halbe Stelle für eine Verwaltungsangestellte dazu. Dennoch erlangte das Institut bald internationales Renommee – durch empirische Forschungen, theoretische Beiträge und gesellschaftspolitische Stellungnahmen, wie zum Beispiel zum § 175 StGB (Strafbarkeit von Homosexualität), zu den homophoben Anti-AIDS-Kampagnen, zur Transsexualität.
Als Vorläufer kann das von Hirschfeld mitgegründete Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (1897–1933) gelten sowie die Weltliga für Sexualreform (1928–1935), die für eine Reform des Sexualstrafrechts eintrat: Nur der „wirkliche Eingriff in die Geschlechtsfreiheit einer zweiten Person“ sollte strafbar sein und „nicht Geschlechtshandlungen, welche auf den übereinstimmenden Geschlechtswillen erwachsener Menschen beruhen“ [5].
International bekannt wurde Sigusch als Mitbegründer der International Academy of Sex Research. 1988 gründete er die Zeitschrift für Sexualforschung [2a]. Neben Sigusch als Begründer der Kritischen Sexualwissenschaft erlangte der außerplanmäßige Professor Martin Dannecker einen Ruf als international beachteter Theoretiker der männlichen Homosexualität und der psychosozialen AIDS-Forschung. PD Reimut Reiches Arbeiten befassten sich mit dem Mann-Frau-Verhältnis („Geschlechterspannung“) sowie der psychischen Struktur von Perversionen. Dr. phil. Sophinette Becker (1950–2019) leitete die Sexualmedizinische Ambulanz des Instituts und galt als Expertin auf dem Gebiet der Geschlechtsidentitätsstörungen und der weiblichen Perversionen.
Das Institut war an der Erarbeitung von „Standards der Behandlung und Begutachtung Transsexueller“ wie auch an den „Leitlinien der Diagnostik und Therapie sexueller und geschlechtlicher Störungen“ beteiligt.
Organisiert von Agnes Katzenbach und mit finanzieller Unterstützung durch die Stiftung von Jan Philipp Reemtsma konnte es die nach dem Kinsey-Institut umfangreichste Fachbibliothek aufbauen. Diese ist nach der Auflösung größtenteils an die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft in Berlin vermittelt worden.
Auflösung des Instituts für Sexualwissenschaft
Sigusch hatte explizit gewarnt, dass die „Komplexität der vielfältigen sexuellen Probleme und sexuellen Störungen“ nicht durch Fächer wie „Urologie, Gynäkologie und Endokrinologie noch durch die Psychiatrie gewährleistet“ sei [3a].
Vergeblich. Der Dekan und eine Kommission des Fachbereichs Medizin beabsichtigten, das Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft nach dem Ausscheiden von Sigusch zu schließen. Und so ist es trotz eines Aufrufs, den mehr als 3.000 Wissenschaftler*innen unterschrieben haben, dann gekommen. „Der 30. September 2006 ist ein schwarzer, ein schlimmer Tag für aufgeklärtes, aufklärendes Denken und Handeln in Deutschland. An diesem Tag wird das Institut für Sexualwissenschaft in Frankfurt, bislang angesiedelt im Klinikum der Universität, abgewickelt, geschlossen, also beseitigt“ [7]. Nach dem Institut für Sexualwissenschaft wurde wenig später das Zentrum für Psychosoziale Grundlagen der Medizin durch den medizinischen Fachbereich der Goethe-Universität abgewickelt und die verbliebenen personellen und finanziellen Mittel einer biologistisch ausgerichteten Psychiatrie zugeschlagen [8].
Mit der Schließung verkümmerte der Fachbereich Medizin in Frankfurt am Main. Denn fast zeitgleich verlor die Psychosomatische Medizin ihre selbstständige Professur und wurde als kleine Spezialeinheit der Psychiatrie zugeschlagen und die Psychoanalyse aus der Frankfurter Universität verbannt.
Volkmar Sigusch hatte es zwar geschafft, Sexualmedizin und Sexualwissenschaft zum Wahlpflichtfach in der ärztlichen Approbationsordnung zu verankern. Aber erst Jahre nach seiner Emeritierung wurde auf dem Deutschen Ärztetag 2018 die „Sexualmedizin“ als Zusatzbezeichnung in die Musterweiterbildungsordnung aufgenommen. Seit 2020 ist sie auch in der Weiterbildungsordnung der Landesärztekammer Hessen implementiert.
In einem Interview 2011 in seiner Praxisklinik Vitalicum in Frankfurt, in der er als Emeritus Patienten behandelte, sagte Sigusch: „Für die Zukunft der Sexualmedizin wünsche ich mir, dass sie von den Universitäten endlich allgemein anerkannt wird, in der Lehre und in der Forschung. Das ist ja bisher nicht der Fall.“ [9]
Korrespondierender Autor: Dr. med. Hermann J. Berberich, Facharzt für Urologie, Andrologie, Psychotherapie & Sexualmedizin, Breckenheimer Straße 1, Hofheim a. T., E-Mail: hermann.berberich@gmx.de
Pierre E. Frevert, Facharzt für Psychosomatische Medizin & Psychotherapie sowie für Psychiatrie & Psychotherapie/Psychoanalyse, Oederweg 9, 60318 Frankfurt, E-Mail: info@pierre-frevert.de
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Kritische Sexualwissenschaft
Volkmar Sigusch beschreibt die Kritische Sexualwissenschaft wie folgt:
„… Kritische Sexualwissenschaft denkt vom Widerspruch her, versucht, den Prozess der Aufklärung dialektisch zu begreifen, geht beidem nach, Licht und Schatten, auch in sich selber. Fortschrittliche Sexualwissenschaft denkt von der Veränderung als solcher her, ist betörend direkt wie ein Reformhauskatalog. Affirmative Sexualwissenschaft denkt gar nicht, das heißt als System. Für fortschrittlich-affirmative Sexualwissenschaft ist sexuell, im Zweifelsfall sogar sexuell befreit, wer von dem Augenblick an, in dem er technisch dazu in der Lage ist, Beischlaf, nein: man muss sagen Koitus oder dergleichen praktiziert (…) Kritische Sexualwissenschaft weiß, dass die sexuelle Frage, nur ein Teil der sozialen, immer mehr meinte und auch heute meint, als die jeweils technologisch beste Fortpflanzungsverhinderung und irgendein vom Zeitgeist thematisierter Waffenstillstand zwischen den Geschlechtern. Die sexuelle Frage stand immer für die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach Glück und Leidenschaft, nach erregter Harmonie, nach dem Verhältnis von Mensch zu Mensch als einem menschlichen …“ [6].
Persönliche Erinnerungen
Zehn Jahre nach Gründung des Instituts für Sexualwissenschaft in Frankfurt war ich von 1983 bis 1985 studentischer Tutor für die „Psychosozialen Grundlagen in der Medizin“ an Prof. Siguschs Institut und nahm auch an seinen interdisziplinären Seminaren zur „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer teil. Ich lernte dabei Siguschs breiten medizinischen wie geisteswissenschaftlichen, aber auch bemerkenswerten literarischen Hintergrund kennen und seine Lust, den Diskurs am Widerspruch zu schärfen.
Zu dieser Zeit hat er mir eine Dissertation zur „Geschichte der Sexualforschung in Italien“ angeboten, die mich durch Bibliotheken und Institute in Italien führen sollte. Trotz Materialfülle und wichtigen Entdeckungen beendete ich meine Doktorarbeit leider nie. Sigusch forderte in einer fast pedantischen Genauigkeit, Belege für die Überprüfung von Quellenangaben vorzubringen. Jahre später, 2009, bot er mir an, über einige der italienischen Vorläufer der Sexualwissenschaft, über die ich geforscht hatte, darunter Paolo Mantegazza, in seinem Personenlexikon der Sexualforschung [10] zu schreiben.
Seither bin ich als Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung Abonnent der Zeitschrift für Sexualforschung, die mein Wissen als Arzt und Psychoanalytiker mitgeprägt hat. Nicht zuletzt hat sein Einfluss wie auch der der ihm teils auch kritisch gegenüberstehenden Sexualwissenschaftlerin Dr. phil. Sophinette Becker, die in ihren letzten Lebensjahren meine Praxiskollegin wurde, mich dazu bewogen, zusammen mit meinem Co-Autor Dr. med. Hermann Berberich von der Deutschen Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft und anderen engagierten ärztlichen Kolleg*innen für die Akademie der Landesärztekammer Hessen das erste Modul für die neue Zusatzbezeichnung Sexualmedizin zu entwerfen und durchzuführen und an den weiteren zu arbeiten.
Pierre E. Frevert