In den vergangenen Monaten und Jahren stelle ich eine deutliche Veränderung im öffentlichen Diskurs fest. Es fing in den Vereinigten Staaten und in den sozialen Netzwerken an, dass die jeweiligen Vertreter der absoluten Wahrheit auf alle einschlugen, die diese Wahrheit nicht teilten. Hatte jemand in gewissen Bereichen andere Ansichten, war er nicht mehr diskursfähig und wurde gecancelt.

„Die Kammer repräsentiert die Gesamtheit der hessischen Ärztinnen und Ärzte“

Anfangs habe ich diese „Mode“ amüsiert betrachtet, doch dann tauchten auch bei uns entsprechende Tendenzen auf. Es gab „Querdenker“, „Klimaleugner“, „Coronaleugner“ oder eben „Nazis“, mit denen man sich nicht auseinandersetzen sollte. Hierzu kamen noch die Genderaktivisten, die darauf bestehen, dass es kein biologisches Geschlecht gibt und man sich seine sexuelle Zuordnung selbst aussuchen kann. Wer diese Ansicht hinterfragt, ist nicht diskursfähig und darf auch nicht gehört werden …

Merkwürdigerweise gilt diese Wahlfreiheit nicht bei der behaupteten „kulturellen Appropriation“: Politikerinnen, die berichten als Kind für Pippi Langstrumpf und den „Negerkönig“ geschwärmt zu haben, gefährden so ihren Job, eine Rapperin wird gecancelt, weil sie weiß ist und Rastalocken trägt, Kinder werden im Kindergarten gemaßregelt, weil sie im Fasching als „Indianer“ gehen. Es ist dann schon erstaunlich, dass bei Umfragen ein erheblicher Teil der Interviewten angibt, sie würden öfter nicht mehr äußern, was sie so denken.

Aus meiner Sicht ist dies eine Entwicklung, die Meinungsfreiheit und Demokratie gefährdet, da diese davon lebt, in kontroverser Diskussion verschiedene Meinungen – auch scheinbar abwegige – zu ertragen. Wenn kontroverse oder nicht Mainstream gemäße Ansichten nicht geäußert werden, weil öffentliche Sanktionierung bis Ächtung droht, stauen sich Wut und Ärger auf, die dann vielleicht in Formen auftreten, die wir nicht wünschen.

Was bedeutet das für unser Hessisches Ärzteblatt?

Wir bemühen uns um Meinungsvielfalt und den Widerstreit verschiedener Ansichten, respektieren diese und nehmen sie ernst, soweit sie Andersdenkende nicht verunglimpfen oder herabwürdigen. Gerade in der Medizin müssen wir – meiner Meinung nach – darauf achten, mit allen Bevölkerungsgruppen, mit den verschiedensten Meinungen und Perspektiven im Dialog zu bleiben. Die Kammer als öffentlich-rechtliche Institution repräsentiert die Gesamtheit der hessischen Ärzte und bietet ihnen ein offenes Forum.

Dr. med. Peter Zürner, Verantwortlicher Redakteur des Hessischen Ärzteblattes, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen, E-Mail: haebl@laekh.de