Iris Natanzon, Nina Walter

Vermehrt wird in den Medien über eine erhöhte Aggressivität sowie Gewalt innerhalb der Gesellschaft berichtet. Insbesondere gegenüber öffentlichen Institutionen und deren Vertretern sowie Mitarbeitenden fallen vermehrte Aggressionen und Gewalttaten auf [1]. Auch im Gesundheitswesen beobachtet man eine zunehmende Aggressivität seitens der Patienten sowie deren Angehörigen gegenüber der Ärzteschaft. Laut einer Studie des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) gaben 75 % der befragten Krankenhäuser an, dass es in ihren Notfallambulanzen zu gewalttätigen Übergriffen kam [2].

Vor dem Hintergrund dieser ansteigenden Übergriffe gab es im Jahr 2017 eine Neuregelung des § 113 Strafgesetzbuch (StGB) „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“. § 113 des StGB ermöglichte die Bestrafung bei Gewalt gegenüber Feuerwehr, Katastrophenschutz oder Rettungsdienst bei tätlichen Angriffen. Ärzte wurden dabei nicht berücksichtigt [3]. Um mehr Schutz für Notfallärzte zu erreichen, plante die Bundesregierung eine Reform des strafrechtlichen Schutzes.

Im April 2021 wurde eine Strafrechtsverschärfung umgesetzt: Hilfeleistende eines ärztlichen Notdienstes oder einer Notaufnahme wurden im Paragrafenteil des Strafgesetzbuches integriert. Somit wurde der geforderte Schutz des Strafgesetzbuches auf das medizinische Personal von ärztlichen Notdiensten und Notfallambulanzen in den Krankenhäusern ausgeweitet. Das ist natürlich noch nicht ausreichend. Unabhängig vom Tätigkeitsort und Einsatzgebiet müssen alle Ärztinnen und Ärzte stets dem Schutz dieses Gesetzes unterliegen.

Einrichtung der Meldestelle „Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte“

Um Forderungen gegenüber dem Gesetzgeber, die gesamte Ärzteschaft im Paragrafenteil des Strafgesetzbuches zukünftig mit einzuschließen, zu bekräftigen, hat die Landesärztekammer Hessen im Frühjahr 2019 die Meldestelle „Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte“ eingerichtet [4]. Im Hessischen Ärzteblatt 9/2021 wurde erstmalig darüber berichtet [5]. Die Ärzteschaft hat seitdem die Möglichkeit, in anonymisierter Form ihre Gewalterfahrungen der Ärztekammer zu melden.

Im ersten Teil wird gefragt, in welchem Bereich der Arzt tätig ist und ob definierte Formen von Aggressionen in den letzten zwei Monaten oder davor erlebt wurden. Seit Dezember 2020 wird im zweiten Teil abgefragt, durch wen aggressives Verhalten ausgeübt wurde und gegen wen sich dieses Verhalten richtete (z. B. gegen sich selbst oder gegen Mitarbeiter). Im dritten Teil werden die Ärzte gebeten, konkretere Angaben zum benannten Vorfall zu machen, unter Wahrung ihrer ärztlichen Schweigepflicht und in anonymisierter Form. Seit Dezember 2020 wurde der Meldebogen auch um weitere Fragen in einem vierten Teil ergänzt: Hier wird untersucht, ob die Ärzte nach dem Vorfall aktiv wurden und falls ja, in welcher Form (z. B. Erstattung einer Strafanzeige). Im Meldebogen wird darauf hingewiesen, dass die Landesärztekammer Hessen Betroffenen die Möglichkeit bietet, sich an die Ombudsstelle für Fälle von Missbrauch in ärztlichen Behandlungen oder an die Rechtsabteilung der Landesärztekammer Hessen zu wenden.

Bis Januar 2023 sind 93 Meldebögen bei der Landesärztekammer Hessen eingegangen. 92 % der Meldungen erfolgten per Fax und waren somit nicht anonym.

Aggressives Verhalten gegen Ärzteschaft und Praxisteams

In den meisten Fällen sind die Melder im ambulanten Bereich tätig (n=63), gefolgt vom stationären Bereich (n=12) sowie den sonstigen Bereichen in drei Fällen. Aggressives Verhalten richtet sich gegen Ärzte (n=27) oder gegen ihre Mitarbeiter (n=11). Dabei wird insbesondere aggressives Verhalten gegenüber dem Praxisteam beschrieben.

Formen aggressiven Verhaltens

Die Ärzte hatten die Möglichkeit, die Aggressionsformen, die sie im Rahmen eines Vorfalls erlebt haben, anzugeben. Mehrfachnennungen pro Vorfall waren möglich. Die Abbildung verdeutlicht, dass die Mehrheit der gemeldeten Fälle mittlere Formen aggressiven Verhaltens betrifft (n=104), gefolgt von 101 Fällen von leichteren Formen wie Beleidigung oder Beschimpfung. Mehrfachnennungen waren möglich. In 13 Fällen wurde über schwere Formen aggressiven Verhaltens wie u. a. sexueller Missbrauch berichtet. Betrachtet man konkret die Formen aggressiven Verhaltens, so wird deutlich, dass die Mehrheit der Ärzte über Beleidigung oder Beschimpfung berichtet (n=76) sowie über Bedrohung oder Einschüchterung (n=74). In 20 Fällen wurde über Rufschädigung in Form von Falschaussagen auf Ärzteportalen im Internet berichtet. Anhand einer offenen Frage haben Betroffene die Möglichkeit, konkretere Angaben zum benannten Vorfall zu machen.

Beleidigungen und Bedrohungen sind Spitzenreiter

Durch die Freitextangaben kristallisierte sich heraus, dass vorwiegend aggressives Verhalten gegenüber dem Praxisteam ausgeübt wurde:

„Mehrfaches aggressives Verhalten gegenüber MFAs und mir. Möchte lediglich krankschreiben, Praxis würde ihn noch kränker machen, lehnt Therapie ab, Beschimpfungen als Schlampe u. a. Fäkalausdrücke.“ (FB 30)

Uneinsichtiges Verhalten seitens des Patienten bezüglich einer Medikamentenverschreibung eines Vertretungsarztes führte zu Beschimpfungen:

„Vertretungspatient, war uneinsichtig, da in Vertretung nur kleine Packung des Medikaments aufgeschrieben werden darf, hat uns als unfreundlich und unkooperativ bezeichnet, hat in der Praxis Aufstand gemacht.“ (FB 23)

Auch Bedrohungen und Einschüchterungen gegenüber Arzt sowie Praxisteam wurden oft genannt. Eine Patientin informierte während ihrer Wartezeit in einer Praxis ihre Eltern über die subjektiv empfundene längere Wartezeit. Die Eltern reagierten darauf uneinsichtig und sprachen gegenüber dem Praxisteam eine Drohung aus:

„Tochter müsse wohl länger als 2 Stunden warten, Kontakt per WhatsApp. Eltern haben am Nachmittag deshalb Drohungen ausgesprochen (wollten die Praxis auseinandernehmen).“ (FB 06)

Auch unerfüllte Rezeptwünsche führten zu Drohungen gegenüber dem Arzt:

„Patient hat gegenüber dem Behandler geäußert: ‚Pass in Zukunft gut auf dich auf‘. Drohungen, da Rezeptwünsche nicht erfüllt wurden.“ (FB 12)

Wie bereits erwähnt, wurde als aggressives Verhalten in 20 Fällen die Rufschädigung genannt. Dabei handelte es sich um Patienten, die bereits in der Praxis aggressiv wurden und mit einer negativen Portalbewertung vermutlich Rache ausüben wollten. Leichte körperliche Gewalt in Form von Schubsen durch einen dominanten Angehörigen eines Patienten wurde ebenfalls erlebt. In einem Fall erfolgte sogar Sachbeschädigung aufgrund von zu lang empfundener Wartezeit eines Patienten:

„Patient hat die Tür an die Wand geschlagen wegen zu langer Wartezeit = 10 Minuten.“ (FB 2)

Eine Ärztin berichtet über anzügliche Bemerkungen sowie unsittliches Berühren seitens eines Patienten. Ein Melder informierte über das Stalking-Verhalten eines Patienten, der in die Privatsphäre des Arztes eingriff, indem er mehrfach die private Toreinfahrt blockierte und die privaten Wohnungseingänge belagerte.

Ausgeprägte körperliche Gewalt wie Angriff mit erhobener Faust wurde von einem Arzt im Rahmen eines Notfalleinsatzes erlebt. In einigen Fällen wurde über rassistische sowie diskriminierende Äußerungen in der Praxis berichtet:

„Patient verließ sofort die Praxis wütend, weil er ein extra Wartezimmer für sich wollte. Außerdem teilte mir die Arzthelferin mit, er würde sich von keiner Frau untersuchen lassen. Das ist ein Fall für die Öffentlichkeit wegen Diskriminierung der Frau (…)!“ (FB 24)

Ein Arzt berichtet über einen Angriff eines Patienten mit einem Kugelschreiber, nachdem er dem Patienten mitgeteilt hatte, diesen aufgrund seines aggressiven Verhaltens nicht mehr in seiner Praxis behandeln zu wollen.

Eine schwere Form aggressiven Verhaltens wurde nach einer Untersuchung im Behandlungszimmer erlebt. Hier wurde die Ärztin vom Patienten unsittlich an ihren Genitalien berührt. Daraufhin wurden die Medizinischen Fachangestellten zur Hilfe geholt.

Ausblick: Umgang mit aggressiven Patienten

Generell werden in den Meldebögen vorwiegend verbale Formen von Gewalt bzw. Aggressionen wie Beschimpfungen, Rufschädigung und die Androhung von Rufschädigung beschrieben. Bei einem Notfalleinsatz soll es neben Beleidigungen und Drohungen auch zu Schlägen gegen den Rettungsdienst gekommen sein.

Auslöser für das aggressive Verhalten sind überwiegend Wartezeiten oder die Verweigerung von Medikamentenverschreibung. Teilweise unterstellen Angehörige einem behandelnden Arzt auch eine fehlerhafte Behandlung. Die Freitext-Angaben verdeutlichen, dass der überwiegende Teil der Betroffenen im niedergelassenen Bereich arbeitet und in der Mehrheit der Fälle Gewalt insbesondere gegenüber dem Praxisteam ausgeübt wurde. Ferner werden in einigen Fällen die Medizinischen Fachangestellten unterstützend herangezogen, wenn der Patient im Behandlungszimmer aggressiv gegenüber dem Arzt wird.

Insgesamt ist festzustellen, dass die Hemmschwelle gesellschaftlich immer weiter sinkt sowie der Respekt vor Autoritäten abnimmt [6]. Deshalb ist es wichtig, dass die Ärzteschaft gemeinsam mit ihren Mitarbeitern und Kollegen Konzepte entwickelt, wie mit aggressiven Patienten umgegangen werden kann, zum Beispiel durch die Verwendung eines Code-Wortes, mit dem unauffällig andere Teammitglieder um Unterstützung gebeten werden, wenn es zu einer brenzligen Situation kommt. Ferner könnten zum Beispiel die Praxisabläufe kontinuierlich verbessert werden, um durch kurze Wartezeiten die Frustration unter den Patienten niedrig zu halten.

Meldebogen auf der LÄKH-Website abrufbar

Es erscheint wichtig, auch bei Ärzten kontinuierlich ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Gewalt nicht hingenommen werden muss und sie die Möglichkeit haben, die Vorfälle jederzeit melden zu können. Nur so können wir auch in Zukunft dazu beitragen, Gewalt transparent zu machen, Handlungsstrategien zu entwickeln und der Gewalt entgegenzusteuern. Anhand des Meldebogens haben Ärztinnen und Ärzte weiterhin die Möglichkeit, Vorfälle der Landesärztekammer Hessen zu melden:

Im Internet: https://www.laekh.de/fuer-aerztinnen-und-aerzte/gewalt-gegen-aerzte/

Iris Natanzon, Nina Walter, Korrespondenzadresse: Dr. Dipl.-Soz. Iris Natanzon, Wissenschaftliche Referentin, Landesärztekammer Hessen, E-Mail: qs@laekh.de

Die Literaturhinweise finden Sie am Ende dieser Seite unter „Artikel herunterladen“ in der PDF-Version dieses Artikels.