Interview: Maike Kauffmann und Armin Steuernagel von der Purpose Stiftung zum Konzept des Verantwortungseigentums
Kommunale, kirchliche oder auch private – und damit oft gewinnorientierte – sind die dominierenden Eigentumsformen von Krankenhäusern in Deutschland. Nicht selten führen gerade ökonomische Ziele, die auch konträr zur Patientenorientierung stehen können, zu Konflikten zwischen medizinischem Personal und der Geschäftsführung. Ein Rezept gegen diese ökonomischen Zwänge soll das sogenannte Verantwortungseigentum sein. Was das ist, wie es umgesetzt werden kann und welche konkreten Vorteile es für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch Patienten in Krankenhäuser bieten kann, erläutern Maike Kauffmann und Armin Steuernagel von der Purpose Stiftung aus Hamburg.
Herr Steuernagel, Frau Kauffmann, Sie arbeiten mit Alternativen zu den klassischen Modellen von Staatseigentum oder Gewinnorientierung. Gerade Letzteres wird im Gesundheitssektor kritisiert, weil dort häufig Rendite vor Patientenorientierung stehe. Müssen denn Wirtschaftlichkeit und Versorgungsqualität grundsätzlich ein Widerspruch sein?
Kauffmann: Nein, ich denke nicht. Es wird allerdings ein Widerspruch, wenn Wirtschaftlichkeit vor Versorgungsqualität geht, der Gesundheitssektor also tatsächlich beginnt, Gewinne, Shareholder Value und Renditen vor eine qualitativ hochwertige Patientenversorgung zu stellen. Es kommt darauf an, was das eigentliche Ziel der Organisation ist: Gewinne erzielen durch Gesundheitsversorgung oder Gesundheitsversorgung, die durch Gewinnerzielung ermöglicht wird. Die Frage ist, was ist der eigentliche Zweck der Organisation, worauf basieren Entscheidungen?
Was sind aus Ihrer Sicht die Nachteile für Krankenhäuser, wenn Sie dem Renditestreben von Investoren ausgesetzt sind?
Steuernagel: Ich glaube kaum jemand Ihrer Leser:innen wird diese Frage nicht beantworten können. Wenn, wie oft berichtet, Chefärzt:innen bei Investor:innen-getriebenen Krankenhäusern in Einstellungsgesprächen gefragt werden, wofür das Krankenhaus da ist und die richtige Antwort nur ist, „um Gewinne für den Eigentümer zu erwirtschaften”, dann merkt man ja, dass irgendetwas nicht stimmt. Wenn dann die Krankenhausabteilungen gegenseitig bezüglich Profitabilität gerankt werden, um Ärzt:innen anzuhalten, mehr darauf zu schauen, wenn Alerts kommen, wenn das Fallpauschalenbudget verbraucht ist und wenn die Personaldecke so dünn ist, dass Patient:innen kaum noch die nötige Pflege bekommen – dann sind das Folgen. Häufig werden Entscheidungen über die Vorgänge im Krankenhaus nicht mehr von denjenigen Menschen getroffen, die wirklich vor Ort verstehen, was relevant ist, sondern auf Seiten der Eigentümer:innen, die vor allem die Zahlen im Kopf haben.
Herr Steuernagel, Sie berichten oft auch von den Erlebnissen Ihres Vaters, der ärztlicher Direktor einer Klinik war. Was hat er genau erlebt?
Steuernagel: Die Klinik, in der mein Vater gearbeitet hat, wurde, während er ärztlicher Direktor war, verkauft. Nicht nur einmal, sondern mehrfach. Das hieß für die anfangs sehr gut laufende Klinik sowohl hinsichtlich Wirtschaftlichkeit als auch für Patient:innen und Mitarbeiter:innen, dass jedes Mal mehr Druck entstand. Jeder Käufer hatte einen immer etwas höheren Kaufpreis gezahlt und wollte die Zitrone also mehr auspressen.
Anfangs wurde nur das Demeter-Essen gestrichen, beim zweiten Käufer kam schon die Vorgabe, nur 4 Euro pro Patient:in pro Tag auszugeben, der dritte ordnete schließlich an, das Essen tiefgefroren aus Tschechien einfahren zu lassen. Mein Vater musste die Hälfte der Ärzt:innen entlassen, obwohl er 9 % Umsatzrendite machte. Aber es könnte ja mehr drin sein. Das eigentliche Problem aber: Durch die Verkäufe wurden Entscheidungen weg von der Klinik hin zu Konzernzentralen verlagert. Nun treffen Konzernportfolio-Manager:innen die Entscheidung, ob der Hausmeister angestellt oder nur ein Subunternehmen sein darf, wie viele Minuten eine Ärztin für ein Erstgespräch mit den Patienten haben sollte, usw. Sie können sich vorstellen, dass das die Arbeitsatmosphäre vergiftet.
Warum werben Sie dann nicht dafür, dass die öffentliche Hand wieder mehr Macht über den Gesundheitssektor zurück- gewinnt?
Steuernagel: Nur weil Shareholder-Value getriebene Gesundheitssysteme nicht immer funktionieren, heißt es ja noch lange nicht, dass es Staatliche tun – das kann man beim NHS in Großbritannien ja besichtigen. Ich bin überzeugt von dezentralen Strukturen und Entscheidungen, von Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung. Die Menschen, die wirklich vor Ort sind, wissen meistens am besten, was für Entscheidungen benötigt werden und sind auch diejenigen, die die Entscheidungen dann ausführen. Sie sollten auch die formale Macht haben, nicht der Staat, ganz zentralisiert, genauso wenig zentralisierte Konzerne.
Denn auch im Staat würde es wieder zu Fremdbestimmung führen; zwar wäre vermutlich der Gewinnorientierung entgegengewirkt, aber von weit weg getroffene, vermutlich standardisierte Entscheidungen sind einfach nicht immer die besten für die dezentrale Organisation. Deswegen schlagen wir hier ja Verantwortungseigentum bzw. treuhändische Eigentümerstrukturen vor, wie sie von manchen Kliniken auch vorgelebt werden: Private Klinikträger, die nicht gewinnorientiert sind und die die Entscheidungsmacht zu den Ärzt:innen und Leistungsträger:innen vor Ort geben. Man könnte auch sagen – auch wenn es etwas altmodisch klingt – selbstverwaltete Krankenhäuser, die Purpose-, nicht profitorientiert sind.
In den vergangenen 20 Jahren hat sich der Anteil von Krankenhäusern in Privateigentum auf 38 % fast verdoppelt. Wird sich dieser Prozess Ihrer Einschätzung nach fortsetzen oder sehen Sie Anzeichen, dass das Wachstum endet?
Steuernagel: Wenn wir nichts machen, setzt er sich offensichtlich fort. Gleichzeitig wächst aber das Bewusstsein, hier muss sich was ändern. Kommunen denken über die Rekommunalisierung der Krankenhäuser nach. Aber dieses Pendeln: Investoren-Staat – Staat-Investoren sollten wir vielleicht durch eine weitere Alternative ergänzen: Verantwortungseigentum. Gerade auch für zum Beispiel Ärztehäuser, wo wir die gleiche Entwicklung sehen, könnte das eine interessante Option sein.
Zum Verantwortungseigentum: Erzählen Sie uns genauer, was sich hinter dem Begriff verbirgt?
Kauffmann: Verantwortungseigentum ist eine Form von Eigentum an Unternehmen und Organisationen, das eine Alternative zu klassischen Eigentumsmodellen bietet. In klassischen Eigentumsmodellen haben die Menschen oder Organisationen, die Anteile am Unternehmen halten, den vollen Zugriff auf das Vermögen des Unternehmens und die volle Entscheidungsmacht. In Verantwortungseigentum sind die Eigentümer:innen stattdessen Treuhänder:innen des Unternehmens – oder auch Krankenhauses –, die frei Entscheidungen für das Unternehmen treffen können, aber nicht persönlich auf die Gewinne oder den Wert zugreifen können.
Sie sind Eigentümer:innen der Verantwortung, nicht des Vermögens des Unternehmens. Macht, in Form von Kontrolle oder auch Stimmrechte über das Unternehmen, wird nicht mehr spekulativ an die Meistbietenden verkauft, sondern wird von Menschen gehalten, die sich mit dem Unternehmen im weitesten Sinne identifizieren.
Das führt dazu, dass Entscheidungen über die Zukunft des Unternehmens, die Gewinnverwendung und sogar den Verkauf oder die Schließung von Abteilungen nicht mehr auf Basis persönlicher finanzieller Interessen getroffen werden, sondern auf Basis davon, was die Entscheidungsträger:innen als das langfristig Richtige für den Sinn und Zweck des Unternehmens halten, also zum Beispiel für die qualitativ hochwertige Patientenversorgung und ein gutes Arbeitsklima an einem bestimmten Standort.
Es sollen nach Ihrem Verantwortungs- eigentumsmodell Menschen am Steuerrad eines Krankenhauses sein, die sich „damit identifizieren“. Manche Anteilseigner würden wahrscheinlich auch behaupten, dass sie sich mit einem Unternehmen identifizieren ...
Kauffmann: Glauben Sie wirklich? Ich denke, das ist nur in wenigen Beispielen der Fall und kann dann vielleicht auch mal stimmen. Aber in vielen Eigentumsstrukturen, die wir heute sehen, sind Anteilseigner:innen so weit weg vom Unternehmen, dass es für sie wirklich nur noch eine Vermögensanlage ist, und nicht etwas, für das sie Verantwortung übernehmen und tragen können, oder womit sie sich identifizieren. Gerade auch durch unsere immer komplexer werdenden Anlagestrukturen: dann ist zum Beispiel Investment-Fonds A Anteilseigner eines Krankenhauses, und an Investmentfonds sind wieder größere Fonds beteiligt, deren Eigentum dezentral am Markt liegt, oder bei Pensionskassen und Versicherungen, wo wir alle wiederum einzahlen. Wer fühlt sich denn dann noch wirklich verantwortlich für das Krankenhaus und für das, was am Ende dieser langen Kette liegt?
Wie würde das Verantwortungseigentum konkret aussehen und was könnte sich dadurch im Arbeitsalltag von Ärztinnen und Ärzten oder Pflegerinnen und Pflegern ändern oder sogar verbessern?
Kauffmann: Die Frage ist nicht allzu leicht zu beantworten, weil es heute nicht das rechtliche Modell für Verantwortungseigentum gibt und es heute auch nicht allzu leicht umzusetzen ist. Aber ich skizziere mal ein Beispiel: So könnten die Stimmrechte, die formelle Kontrolle und Macht über ein Krankenhauses in Verantwortungseigentum einem Kreis an Personen gehören, die auch im Krankenhaus arbeiten. Wenn jemand nicht mehr im Krankenhaus arbeitet, muss er oder sie die Stimmrechte abgeben. Dieser Kreis an Menschen, die mit dem Krankenhaus verbunden sind, trifft die Entscheidungen darüber, was im Krankenhaus passiert, wie gewirtschaftet wird und was mit Gewinnen, sofern vorhanden, passiert in einem bestimmten Rahmen.
Denn dieser Kreis an Menschen kann die Gewinne nicht an sich selbst oder andere Personen ausschütten, sie haben kein wirtschaftliches Recht am Krankenhaus. Sie können die Gewinne nur für den Sinn und Zweck des Krankenhauses nutzen, also zum Beispiel zurücklegen, in neue Gerätschaften oder Methoden investieren, in Mitarbeitende investieren oder spenden. Genauso wenig können sie das Krankenhaus weiterverkaufen und sich damit finanzielle Vorteile verschaffen, dazu haben sie nicht das Recht. Sie sind die Unternehmer:innen des Krankenhauses, verantwortlich für das langfristige Bestehen und das Wertschaffen, ohne sich Gewinne und Vermögen entnehmen zu können. Und das ist für die Zukunft sichergestellt.
... und speziell für medizinisches Personal?
Zum einen werden solche Entscheidungen weniger wahrscheinlich, die möglicherweise in einem klassischen Modell vor allem aufgrund von Gewinnmaximierung oder Shareholder Value-Maximierung getroffen würden, und die für diese Interessengruppen negative Auswirkungen hätten, wie Verkürzung der Versorgungszeiten etc.. Denn die finanzielle Motivation, um diese Entscheidungen zu treffen, fällt weg. Außerdem wissen Ärzt:innen und Pfleger:innen wieder wirklich, wofür sie arbeiten: nicht für die Profite der Shareholder, sondern für das Patientenwohl.
Gibt es denn schon reale Beispiele, dass sich das Modell auch in der Praxis bewähren kann? Und was hat sich dort verändert?
Kauffmann: Für Unternehmen gibt es sehr viele Beispiele von Verantwortungseigentum. Es ist ein Konzept, das es seit Jahrhunderten gibt und das wir auch heute immer wieder beobachten. Vorreiter sind Unternehmen wie Zeiss oder Bosch, aber auch Alnatura oder jüngst Patagonia, die langfristig erfolgreich wirtschaften, dabei aber ihren „Purpose“ und die Interessen von Mitarbeitenden und Kundinnen im Fokus halten. Es gibt auch ein paar Krankenhäuser, die beispielsweise von gemeinnützigen Trägern gehalten werden und so strukturiert sind, dass die Entscheidungsmacht bei den Menschen im Krankenhaus liegt.
Steuernagel: Das beliebteste Krankenhaus Berlins, das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, geht hier mit gutem Beispiel voran. Die Gesundheitswirtschaft kann sich hier aber auch von einem generellen Trend in der Wirtschaft inspirieren lassen.
Wie könnte ganz konkret ein Übergang von Gewinnorientierung zu Verantwortungseigentum aussehen? Investoren oder Konzerne werden ja nicht freiwillig ihre „Goldesel“ abdrücken?
Steuernagel: Am einfachsten wäre es, direkt im Aufbau des Krankenhauses für Strukturen zu sorgen, die die Patientenversorgung im Fokus erhalten, also bevor Investor:innen oder Konzerne einsteigen. Auf jeden Fall ist dieser Weg vor allem gangbar, wenn die Mehrheit der Anteile am Unternehmen noch von einer Person oder Organisation gehalten wird, die sich für Verantwortungseigentum entscheidet. Natürlich kann auch beispielsweise die Mitarbeiterschaft zusammenlegen, um ihr Krankenhaus oder Unternehmen aufzukaufen und dann in eine Verantwortungseigentumsstruktur stecken. Hier muss dann gut überlegt werden, wie sich das auf eine Art und Weise finanzieren lässt, dass es sowohl für Mitarbeiterschaft als auch für das Krankenhaus nicht langfristig problematisch wird. Wir haben mit Purpose Evergreen Capital eine mittelständische Beteiligungsgesellschaft gegründet, die genau hier helfen kann.
Die Macht des Kapitals ist groß. Denken Sie, dass diese Form nachhaltig Fuß fassen wird bei Krankenhäusern?
Steuernagel: Wir bekommen viele Anfragen von Arztpraxen und auch immer wieder von Krankenhäusern. Die Pandemie hat uns gezeigt, wie wichtig ein patient: innenorientiertes und gut funktionierendes Gesundheitssystem ist. Und immer mehr Menschen, die in der Gesundheitsversorgung arbeiten, suchen nach anderen Modellen. Verantwortungseigentum kann hier für viele eine interessante Möglichkeit sein. Im Koalitionsvertrag der Regierung steht außerdem eine neue Rechtsform für Unternehmen in Verantwortungseigentum. Wenn es diese gibt, kann sie auch für Krankenhäuser eine spannende Option darstellen.
Die Gesprächspartner und die Purpose Stiftung
Purpose will Unternehmen helfen durch Verantwortungseigentum dauerhaft unabhängig und sinnorientiert zu bleiben. Neben der direkten Unterstützung von Unternehmen durch Beratung und Investments, liegt der Schwerpunkt auf Forschung und Wissensvermittlung durch Open Source Materialien. Purpose ist auch in den USA und Lateinamerika aktiv. Purpose ist ein Netzwerk aus unterschiedlichen rechtlichen Entitäten: Purpose Stiftung, Purpose Ventures Genossenschaft, Purpose Stiftung gGmbH und Purpose Evergreen Capital GmbH & Co. KGaA. Alle Purpose Entitäten sind in Verantwortungseigentum durch die gemeinnützige Purpose Stiftung.
Maike Kauffmann startete ihre Arbeit bei Purpose und der Stiftung Verantwortungseigentum im Jahr 2019. Sie verantwortet bei der Stiftung den Forschungs- und Think-Tank-Bereich und unterstützt die Arbeit für eine neue Rechtsform für Unternehmen in Verantwortungseigentum. Kauffmann hat einen wirtschafts- und naturwissenschaftlichem Hintergrund (International Business Studies B.A./Ecological Economic M.Sc.)
Armin Steuernagel hat Philosophy, Politics and Economics an der Universität Witten/Herdecke und in Oxford studiert. Seinen Master machte er an der Columbia University. 2020 gehörte Steuernagel zu den „30 Under 30” des Forbes Magazins und den Top 40 under 40 des Capital Magazins. Er ist Gründer mehrer Unternehmen und begründete die Beteiligungsgesellschaft Purpose Evergreen Capital und setzt sich mit der Stiftung Verantwortungseigentum für bessere Rahmenbedingungen für Unternehmen in Verantwortungseigentum ein.
Interview: Lukas Reus