17. November 1772. Auf genau diesen Tag, der sich im vergangenen November 2022 zum 250. Mal gejährt hat, datiert die Gründung von Dr. Johann Christian Senckenbergs Theatrum anatomicum, das zur Keimzelle zahlreicher Institute wurde, die heute mit der Frankfurter Universitätsmedizin assoziiert sind. Mit einem Festakt am 17.11.2022 erinnerte der Fachbereich Medizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt an den Stifter und feierte die Dr. Senckenbergische Stiftung.
Kurz zuvor geht noch ein kräftiger Regenschutt nieder und der Himmel verdunkelt sich schneller, als der späte Novembertag in den ausgehenden Nachmittagsstunden vermuten lässt. Von der Landesärztekammer bis zum Audimax des Universitätsklinikums sind es Luftlinie nur wenige Kilometer immer am Main entlang, ein perfekter Radweg und zum Glück wieder im Trockenen.
Prof. Dr. med. Helmut Wicht empfängt stilvoll im Zylinder die ersten Gäste vor dem Audimax, seine Frau an seiner Seite. Seiner beschwingten und launigen Moderation ist es zu verdanken, dass dieser Abend wirklich ein Fest wird – ein kurzweiliger, dabei sehr informativer Ritt durch die Geschichte, 250 Jahre der Entwicklung der mit Senckenberg assoziierten Fachbereiche der Medizin.
Rechtsmedizin, Anatomie, Pathologie, Neurologie, Neuroonkologie und natürlich Geschichte & Ethik der Medizin. Jeder der sechs Referenten, darunter auch eine Referentin, hält sich an die enge Zeitvorgabe mittels klingender Eieruhr – deren Klingeln immer wieder goutiert vom Publikum mit Applaus. Wicht stellt sich augenzwinkernd mit Hinweis auf die Statue auf dem Dach der alten Dr. Senckenbergischen Anatomie als „Saturn“ vor, in der griechischen Mythologie der Hüter über die Zeit. Und wirklich niemand traut sich seinen dem Gott Chronos gleichen Vorgaben und seiner „gnadenlosen Eieruhr“ zu widersetzen – auch nicht die Honorationen, die mit Grußworten betraut sind und mit dem Abschied zum Schluss. Eine Liste von zehn Rednern und kein Moment der Langweile: Wicht sei Dank!
Dem Tag, an den mit diesem Festakt erinnert wurde, liegt eigentlich ein trauriger Anlass zu Grunde. Am 15. November 1772 stürzte Senckenberg durch einen Kaminschacht auf dem Dach des vom ihm gegründeten, im Rohbau befindlichen Bürgerhospitals in Frankfurt/Sachsenhausen durch die ganze Höhe des Baus in den Tod. Das Krankenhaus direkt am Main, bestimmt für das „einfache“ Volk, die fahrenden Händler und Marktbeschicker in der Stadt, für die Prostituierten und Bauersleute, die an verschiedenen Infektionskrankheiten litten, aber vor allem unter einer Geißel: der Syphilis.
Weil es gewaltsamer, ein Unfalltod war, wurde damals – wie heute – eine gerichtsmedizinische Obduktion des Leichnams angeordnet, wohl um Fremdeinwirkung auszuschließen. Diese Obduktion fand genau am 17. November vor 250 Jahren in seinem Theatrum anatomicum (östlich des Eschersheimer Tores) statt, das damit sozusagen eröffnet und seiner Bestimmung zugeführt wurde. „Wir feiern heute den Tag, an dem das institutionelle Nachleben Senckenbergs begann – in seiner Anatomie“, so Wicht.
Mortui vivos docent
Mit der Vorstellung des seinerzeitigen Sektionsprotokolls (übersetzt für die heutige Zeit, siehe Kasten) leitet Prof. Dr. med. Marcel Verhoff seinen Blick auf die Rechtsmedizin ein. In Abgrenzung zu einem Fremdverschulden belege die Obduktion klar: „Es ist kein Kriminalfall, sondern ein Unfall gewesen – und heute auch noch sehr gut rekonstruierbar“, so Verhoff. „Denn so fest, dass zehn Wirbelkörper getaucht werden, kann eigentlich keiner zuschlagen.“ Außerdem seien keine Abwehrverletzungen festgestellt worden. Das Protokoll ist von neun Ärzten unterzeichnet – heute seien es zwei oder maximal drei. „Aber das damals schon gültige Vieraugenprinzip ist in der Strafprozessordnung übernommen worden.“
Wie sieht es heute aus? Bei Obduktionen gebe es viele weitere Möglichkeiten: Mikroskopie, Toxikologie, postmortale Bildgebung (CT & MRT noch vor der Obduktion zur Planung dieser), forensische Datenanalyse, Entomologie (Hinweise durch Insekten auf die Leichenliegezeit und Todesumstände) und, im Hinblick auf künftige Weiterentwicklungen, die molekulare Autopsie.
In der Rechtsmedizin stehe die Prävention an vorderer Stelle, immer noch nach der althergebrachten Maxime: Was lernen wir durch die Obduktion von Toten für die Lebenden?
Verhoff nennt als Beispiel den plötzlichen Kindstod. Im Jahr 1991 waren es noch 1.285 Fälle in Deutschland, im Jahr 2020 nur noch 84 laut Statistik. Die exakte Genese selbst sei bis heute nicht bekannt, aber es sei „ein Verdienst der Rechtsmedizin“, dass die Zahlen so stark zurückgegangen seien, indem die Fälle systematisch ausgewertet wurden nach Risikofaktoren – die heute jeder werdenden Mutter bekannt seien.
Strategien gegen den plötzlichen Herztod führt Verhoff als weiteres Beispiel für die aktuelle Forschung auf molekularer Ebene an: Junge Menschen sterben plötzlich, ohne dass sie vorher krank waren. „In vielen Fällen finden wir dann bei der Obduktion schon etwas: makroskopische oder mikroskopische Auffälligkeiten, eine Myokarditis beispielsweise. Aber eben nicht in allen Fällen. Wenn alle Untersuchungen unauffällig sind, ist das die Indikation für eine molekulare Autopsie. Molekular nachzuschauen nach Risikogenen für einen rhythmogenen Herztod.“
Mit der Vorstellung der Ambulanz der Rechtsmedizin in Frankfurt am Main gegen den plötzlichen Herztod: die Forensische Molekularpathologie mit dem „Zentrum plötzlicher Herztod und familiäre Arrhythmiesyndrome“ schließt Verhoff seinen Impulsvortrag.
Die Eröffnung der Anatomie war also forensisch, aber die erste Anatomie zu Lehrzwecken ließ auf sich warten. Erst um die Jahreswende 1775/1776 war die Inneneinrichtung mit den Sitzreihen fertig. Friedrich Sigismund Müller veranstaltete die ersten Anatomien zu Ausbildungszwecken – nicht vor Studenten, denn es gab in Frankfurt noch keine Universität – sondern vor Chirurgen, die sich weiterbilden wollten.
„Auf den Schultern von Riesen“
Aus der heutigen Anatomie mit Bezug auf das Gestern, „auf den Schultern von Riesen“, berichtet Prof. Dr. med. Thomas Deller, Direktor der Dr. Senckenbergischen Anatomie: Auch er beruft sich zunächst auf den Stifter: Senckenberg spezifizierte selbst 1770 die „Zielgruppe“ seines Theatrums anatomicae: „Jeder Zugelassene, sei es ein Arzt, ein Wundarzt oder eine Hebamme, sei eingedenk des heilsamen Zweckes ... “– „Heilsamer Zweck und Forschung, zur „Verbesserung des Frankfurter Medicinalwesens“; das ist das, was Senckenberg für uns wollte“, so Deller.
Weiterbildung von fertigen Ärztinnen und Ärzten, ein Raum für den Hebammenstudiengang, Forschung und seit Gründung der Universität die akademische Lehre in Human- und Zahnmedizin – Aufgaben der Senckenbergischen Anatomie heute.
Vor 1945 sei die Anatomie ein „Präparierkurs an Sozialleichen und Hingerichteten“, gewesen, die Mikroskopie kam erst Anfang des 20. Jahrhunderts ungefähr mit Beginn der Universitätsgründung. Vor dem Jahr 2000 habe sich die Anatomieforschung eher durch „beschreibenden Charakter“, dargestellt, am fixierten Gewebe, stark durch Techniken definiert, durch Verfärbung, durch Mikroskopie.
Heute: Die Anatomie sei immer noch Strukturforschung, aber nun eine moderne Zellbiologie: Wie entsteht und wandelt sich Struktur im Verlauf des Lebens? Welche Strukturen sind Grundlage der Funktion und wie kann wiederum die Funktion die Struktur beeinflussen? Mittlerweile stehe die lebende Struktur, die lebende Zelle im Mittelpunkt. Dazu zwei Beispiele: ein Hirnschnitt, der in der Kultur am Leben gehalten werden kann über Tage und auch Wochen. Hier können lebende Nervenzellen untersucht werden und deren Veränderung sichtbar werden. Z. B. Liäsonen können dargestellt und damit Selbstheilungskräfte des Gehirns untersucht werden. Das LOEWE-geförderte Epilepsieprojekt mache die Aktivität von Nervenzellen direkt sichtbar durch Umwandlung in Lichtsignale, die sich wiederum mikroskopisch darstellen lassen.
Und noch mehr: Es gebe Vorlesungen mikroskopischer und makroskopischer Anatomie, „wir haben eine neue Situation der Körperspende, die Freiwilligenspende, wir haben eine Grabstelle und eine Gedächtnisveranstaltung und auch Gedenktafeln für die Opfer des NS-Regimes.“ Der Anatomieunterricht sei zwar weiterhin analog, aber auch digitalisiert seien Vorlesungen abrufbar. „Wir haben eine makroskopische Anatomie mit Röntgenanatomie kombiniert, Schnittbildanatomie zusammen mit den Radiologen, die mikroskopische Anatomie wird digitalisiert im Sinne einer virtuellen Mikroskopie unterrichtet und es gibt weitere Module.“
Zusammengefasst: „Wir haben heute immer noch die Anatomie des Leichnams. Aber wir haben heute zusätzlich auch die Anatomie der Lebenden, die wir unterrichten – analog wie digital.“ Dellers Vortrag endet mit dem Appell, die bauliche Situation des derzeitigen Anatomiegebäudes aus dem Jahre 1953 dringend mit einem Neubau zu verbessern – berstende Wasserrohre behindern zur Zeit Forschung und Lehre.
Im ganzen 19. Jahrhundert gab es in Frankfurt immer noch keine Universität, aber die Administratoren der Dr. Senckenbergischen Stiftung, die den Anatomiebetrieb finanzierten, befanden, dass es allerhöchste Zeit sei, auch im Hinblick auf die Patientenversorgung, auf den damals allerneuesten wissenschaftlichen Zug aufzuspringen, nämlich die pathologische, die mikroskopische Anatomie. Und man beschloss 1885 Karl Weigert zu berufen, einer der berühmtesten Pathologen seiner Zeit. Das anatomische Institut wird kurzerhand in ein pathologisch-anatomisches Institut umgewandelt, immer noch im alten Bau, aber mit ganz neuen Inhalten. Sehr viel Grundlagenforschung, sehr viel Gewebsdiagnosen. Hier liegt die Keimzelle des heutigen Dr. Senckenbergischen Instituts für Pathologie, dessen Direktor Prof. Dr. Peter Wild nun berichtet.
Pathologie – ein Querschnittsfach
In der „guten alten Zeit“ wäre er mit der Kutsche zur Arbeit gefahren, nach einem Kaffee im alten Botanischen Garten. Heute in den neu sanierten Laborräumen bestückt Laborleiterin Dr. rer. physiol. Melanie Demes einen Roboter für die molekulare Diagnostik. Die Pathologie sei heute ein Querschnittsfach, Kardiologie, Nephrologie und so weiter, ein „integraler Querschnittsbereich in der Medizin“. Das, was früher wichtig war, die Autopsie, mache heute nur noch etwa 5 % der Arbeit aus (hier vor allem Abklärung von Fehlgeburten). 95 % der Arbeitszeit der Pathologen sei die intravitale Diagnostik, für lebende Patienten.
Pathologie sei heutzutage auch eine Datenwissenschaft: „Wir bekommen mehrere hundert Gewebeproben pro Tag, die wir prozessieren, die Bilder werden digitalisiert, wir machen molekulare Analysen. Wir sammeln Metadaten wie Alter, Geschlecht, Begleiterkrankungen und so weiter.“ Und die Pathologie habe dann die Aufgabe, die einzelnen Datensätze auszuwerten und die Informationen in Berichten ergebnisorientiert zusammenzufassen. Zwei Experten konnten nach Frankfurt geholt werden: Es gibt jetzt eine Heisenberg-Professur für Translationale Pathologie mit Prof. Dr. med. Sylvia Hartmann und eine Molekularpathologie-Professur mit Prof. Dr. med. Henning Reis.
Dank geht auch an PD Dr. med. Jens Köllermann, der die ganzen Lehreinheiten in Zeiten von Corona digitalisiert hat. Damit könne jetzt in der Lehre auf Mikroskope verzichtet werden, Histopathologie lässt sich an digitalisierten Präparaten lernen.
Die Pathologie ist aber auch ein Teil der Forschungsinfrastruktur. In den vergangenen vier Jahren wurde eine Senckenberg-Biodatenbank (Senckenberg BioBank, SBB) aufgebaut, mit Gewebe und Daten von mehr als 20.000 Patientinnen und Patienten. Hier geht es meist um Krebsforschung – von bestimmten Tumorentitäten wie Harnblasen- oder Prostatakarzinom wurden bis zu 1.000 und mehr Proben zusammengestellt und teilweise auch schon genetisch charakterisiert. Ein guter Fundus für die Forschung.
Die Zukunft werde immer schneller, immer mehr digital und computerunterstützt. Wild ist stolz darauf, dass er zwei Mildred-Scheel-Nachwuchsforschungsgruppen in Frankfurt etablieren konnte, eine unter Leitung von Dr. rer. nat. Nadine Flinner (Hirninformatikerin, Computational Pathology) und eine von Konstantinos D. Kokkaliaris, PhD, der von Harvard an den Main kam, mit der AG Spatial Cancer Biology (3D-Bildgebung von Gewebepräparaten). Beide gesponsort durch die Dr. Senckenbergsche Stiftung. Online auf kann dazu viel nachlesen.
Mit Karl Weigert kam auch Ludwig Edinger (1855–1918) im Jahr 1883 nach Frankfurt, die beiden waren befreundet. Beide brachten die Hirnforschung in Frankfurt voran. Edinger wurde zu einem Wegbereiter der Gehirnanatomie und übernahm später die Leitung des Neurologischen Instituts, das aus dem Senckenbergischen Pathologisch-Anatomischen Institut hervorging. Als erster deutscher Forscher wurde Edinger vom König von Preußen zum Professor der Neurologie ernannt. 1912 gehörte Edinger zu den Stiftern der 1914 eröffneten Frankfurter Universität.
Um diesen Teil der Geschichte vorzustellen, ergreift Prof. Dr. Helmuth Steinmetz das Wort, heutiger Direktor der Klinik für Neurologie und Vorsitzender der Edinger-Stiftung – in Vertretung von Prof. Dr. Karlheinz Plate, Direktor des Neurologischen Instituts (Edinger Institut), das sich der Neuropathologie widmet.
Das Gehirn: Intravitale Forschung
Edinger hat sich mit Hirnforschung (englisch Neuroscience) beschäftigt, man könnte es auch Neuroanatomie nennen. Mit Krankheitsforschung im engeren Sinn hat er sich nicht beschäftigt, was den damals noch mangelnden Möglichkeiten geschuldet ist, Erkrankungen des Gehirns zu identifizieren. Seine 18 Vorlesungen hat er mit eigenen Zeichnungen in einem Buch zusammengefasst, fast alle Kapitel behandeln anatomische Fragen. Mit der Diagnose „Syphilis“ wird er in 80 % der Fälle richtig gelegen haben, weil dies damals „die“ Volkskrankheit war.
Heute passiert diese Forschung intravital (Kernspindiagnostik) durch die Neuroradiologen. Sie erklären die Ursachen der Syndrome, die man klinisch sehen, die man lokalisieren kann. Zum Beispiel Fasertrakte sichtbar machen oder einen epileptischen Anfall. Die Fächer Neurologie und Neuroradiologie sind heute zu einem „Organfach“ verschmolzen. Ganz Im Sinne Edingers ist aber heute noch Neurologie Rückschluss von klinischen Syndrom auf anatomische Läsionsorte. Die Ursachenerklärung übernimmt heute die intravitale Anatomie, sprich die Neuroradiologie.
1907 wird die alte Anatomie, die mittlerweile eine Pathologie geworden ist, abgerissen und die Dr. Senckenbergische Stiftung erreichtet einen Neubau des Pathologisch-Anatomischen Institutes, auf dem Gelände des Städtischen Krankenhauses, das später zur Uniklinik werden sollte. Ein Teil steht sogar heute noch. Als „Erbe“, so Wicht in seiner launigen Moderation, spricht der Ärztliche Direktor des Universitätsklinikums Frankfurt Prof. Dr. Jürgen Graf das erste Grußwort des Abends und begrüßt die „Honorationen, Magnifizenzen und Exzellenzen“.
Graf hebt vor allem die Stifter und Spender hervor, die seit 1907 begonnen haben, unter der Ägide von Bürgermeister Franz Adickes (1846–1915) ein Universitätsklinikum zu schaffen und dies bis heute unterstützen. Adickes hatte 1895 einen Antrag in den Stadtrat gebracht, dass er eine Handelshochschule und eine Medizinische Hochschule gründen wollte, weil das in Frankfurt doch fehle. Er wartete einige Zeit vergebens und begann dann, die häufig durch Stifter iniziierten Institute in Frankfurt anzusiedeln.
Zu den Wurzeln des Uniklinikums: Diese liegen im Krankenhaus Sachsenhausen. Ein städtisches Krankenhaus, 1884 gegründet als Klinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten – logisch und folgerichtig „für die einfachen Leute“, südlich des Mains, relativ fern vom Stadtzentrum, waren die Erscheinungen einer Handelsmetropole sehr präsent, es gab Prostitution und die damit einhergehenden Haut- und Geschlechtskrankheiten.
1886/87 kam eine Chirurgische Klinik hinzu – Ludwig Rehn (1849–1930) hat die erste Naht am Herzen vorgenommen, an einem 22-jährigen Gärtnergesellen, der – „die Zeiten haben sich nicht geändert“ – Opfer einer Messerstecherei in Frankfurt geworden war. „Das behandeln wir nach wie vor jeden Tag.“ Rehn war auch der erste Beriebsarzt. Er hat in Höchst die erste anerkannte Berufskrankheit entdeckt, den durch Anilin indizierten Blasenkrebs. „Die meisten Chirurgen wissen heute gar nicht, dass sie die Mitbegründer der modernen Arbeitsmedizin sind“, so Graf.
1890 kam durch Adickes Initiative das Königliche Institut für Experimentelle Medizin mit Paul Ehrlich (1854–1915) hinzu. Salvarsan – der Kampf gegen die Syphilis schien ab 1909 gewonnen, die Begründungsstunde der Chemotherapie und damit der modernen Medizin.
Die – abschlägige – Antwort auf Adickes Stadtratsantrag kam 1905, ungefähr zehn Jahre später: „Manches, ähnlich wie die Messerstechereien, ändert sich auch in 100 Jahren nicht wirklich“, so Grafs Schlusswort.
Die Gründung der Goethe-Universität brauchte dann noch ein paar Jahre – am 28. September 1912 das Gründungskapitel, Oktober 1914 die Inbetriebnahme der Universität und des Universitätsklinikums – seither eine „fruchtbare Zusammenarbeit, beispielgebend ...“ über Frankfurt hinaus, möchte man ergänzen.
259 Jahre „Goethe am Main“
Damit führt der Präsident der Goethe-Universität, Prof. Dr. Enrico Schleiff, der an diesem 17.11. zudem seinen Geburtstag feiert, die Zeitreise fort, indem er die frühe, aktuelle und zukünftige Zusammenarbeit der Dr. Senckenbergischen Stiftung mit der Goethe-Universität beschreib – „eine Erfolgsgeschichte“. Einige Institute und der Name der Universitätsbibliothek (offiziell: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main) zeugen noch mit ihrem Namen von dieser Gründungsgeschichte. Er plädiert für eine Neuberechnung des Alters der Goethe-Universität – analog den berühmten US-amerikanischen Universitäten Harvard oder Yale, die die Gründung des ersten Instituts ihrer Berechnungen zugrunde legen. Harvard beispielsweise gebe 1636 als Gründungsjahr an. In diesem Jahr errichten dort fromme Engländer eine Schule für Geistliche, aus der erst Ende des 19. Jahrhunderts wiederum eine Universität wurde.
„Legen wir also dieses amerikanische Berechnungsmodell zugrunde, wäre das korrekte Gründungsjahr der Goethe-Universität Senckenberg eigentlich 1763. Damals stiftete Senckenberg ,zur Hebung der Heilkunst‘ ein medizinisches Institut mit Bibliothek.“ Gerade die Transkription der Senckenberg-Tagebücher, gefördert durch die gleichnamige Stiftung und weiteren, brachte spannende Erkenntnisse, vor allem aber auch über das Stadtleben im 18. Jahrhundert an Tageslicht. Stipendien für Studierende durch die Senckenbergische Stiftung hebt Schleiff hervor.
Herausforderungen wie die Pandemie oder der Klimawandel bedürften interdisziplinärer Forschung. Universität und Uniklinikum: „Wir haben mit starken Partnern in Frankfurt das Potenzial, auf die Fragen antworten zu finden!“, so Schleiff: „Dank Senckenberg ist die Goethe-Universität 259 Jahre alt – eine wahre Erfolgsgeschichte!“
Einführung in die Trennungs- rechnung à la Senckenberg
Im Jahre 1914 wurde zur Eröffnung der Universität eine neue Dr. Senckenbergische Anatomie auf dem Campus gebaut, während das alte Gebäude seine dem Nutzungszweck angepasste Bezeichnung erhielt: Senckenbergisches Pathologisches Institut. Passend zur Zeitschiene der Universitätsgründung überrascht nun der Dekan des Fachbereichs Medizin Prof. Dr. Stefan Zeuzem das Publikum in seinem Grußwort mit „Trennungsrechnung“:
Seit dem 26. Juli 2000 regele das „Gesetz für die hessischen Universitätskliniken“ (UniKlinG) in §15 regelt die Zusammenarbeit zwischen Universitätsklinikum und Universität. Dieser „aus unserer Sicht Blödsinn“ beschreibe die politische Situation, dass die Universitätsmedizin heute aus zwei rechtlich eigenständigen Institutionen zusammengesetzt ist. Dem Klinikum als einer „Anstalt des Öffentlichen Rechtes“ und einer „Öffentlich rechtlichen Stiftung“. „Der einen stehe Herr Graf vor, der anderen der Dekan“, so Zeuzem.
Die Aufgaben, aber auch die Kosten der Universitätsmedizin seien aber „absolut“ nicht zu trennen. Das sei den Politikern damals auch klar gewesen, sollen doch die Einzelheiten in einem „Kooperationsvertrag“ [§15 (6) UniKlinG] geregelt werden. „Daraufhin haben sich die ,Kooperierenden‘ 20 Jahre ,wie die Kesselflicker‘ gestritten. Um große Summen, aber auch im Wesentlichen darum, wie viel Quadratmeter der Eingangshalle vom Klinikum zu putzen ist und wie viele Quadratmeter vom Fachbereich zu wischen ist!
Herrn Graf und mir ging dieser langjährige Streit ungeheuer auf die Nerven, wir waren fast vor der therapeutischen Betreuung unserer Neurologen und Psychiater!“ Daraufhin „haben wir mit viel Geduld über die ganze Zeitspanne seit 2000 bis 2020 mit juristischer Beratung eine Einigung geschaffen – 20 Jahre Streit, zwei Jahre Frieden!“
Was hat das klassische politische Problem des 20. Jahrhunderts mit Senckenberg zu tun? Im Stiftungsbrief von 1663, vor bereits 250 Jahren, sei die Trennungsrechnung ein großes Thema gewesen: Der sperrige Text stelle klar eine Trennung von Forschung und Lehre auf der einen Seite und Krankenversorgung auf der anderen Seite fest. Senckenberg stellte mit dem Erbe seiner zweiten Frau, einer reichen Juwelierstochter (auch diese Ehe blieb tragischer Weise – angesichts der eigenen Hilflosigkeit des Arztes vor der Tuberkulose – kinderlos) seiner Stiftung 95.000 Guldenbereit. Zwei Drittel des Stiftungsertrages sollten dem Studium Medicae, also Forschung und Lehre dienen. Das andere Drittel sollte an „arme Kranke“, also für die Krankenversorgung verwendet werden.
Später habe Senckenberg bestimmt, dass aus dem letzten Drittel auch das Bürgerhospital errichtet werden soll, indes waren die Mittel erschöpft. Das Hospital konnte nur fertiggestellt werden, weil das Kollegium Medicum über vier Jahre großzügig auf zwei Drittel der Zinseinnahmen des senckenbergischen Kapitals verzichtete – um so das Hospital für die Krankenversorgung zu bauen. Am 18. August 1907 fand die Eröffnungsfeier an der Stelle statt, wo es heute noch seinen Platz hat, an der Nibelungenallee.
„Aus Sicht der neuzeitlichen Trennungsrechnung fand 1772 & 1776 eine ,Quersubventionierung‘ der Krankenversorgung aus Mitteln von Forschung und Lehre statt – eine Situation, die heute eine Wissenschaftsministerin in den Herzinfarkt treiben würde!“
40 Jahre später sei diese Zusammenarbeit leider wieder komplett vergessen gewesen. 1812 wollten Professoren einer (kurzlebigen) medizinischen Fachhochschule unter dem Dach der Stiftung im Bürgerhospital praktische Lehre am Krankenbett praktizieren. Das wurde ihnen vom Vorstand des Hospitals verweigert – weil der Unterricht im Spitale die Ärzte zum Verbrauch teurer Arzneien verleiten könnte.
„Die anwesenden Aufsichtsratsmitglieder sind sich auch heute bewusst, dass universitäre Medizin nicht die gleichen Preise hat wie die kommunale Regelversorgung“, Zeuzem zog das logische Fazit: Auch heute könnte es in Streitfällen auf mehreren Ebenen haushaltstechnisch zielführend sein, sich auf die Senckenbergische Trennungsrechnung – zwei Drittel für die Universität, ein Drittel für die Krankenversorgung – zu besinnen!
Prof. Wicht springt nun in das Jahr 1938: In diesem Jahr kommt der damalige Vorsitzende der Senckenbergischen Administration, Dr. August De Bary, auf die Idee, der Universität Frankfurt ein Institut für Medizingeschichte einzurichten, indem er auch einen Gedanken des Stifters aufnahm. In stillem Gedenken und ohne Worte beamt Wicht, in Anspielung auf seine ehemalige Tätigkeit in dem Institut und seinem Hang zu Anekdoten, ein Zitat auf die Leinwand: „Geschichte, Herr Dr. Wicht, keine Geschichten!“ und erinnert damit an Prof. Dr. med. Dr. phil. Udo Benzenhöfer (1957–2021). Vita brevis – sein Forscherleben nahm ein allzu rasches Ende, wie Dr. Gisela Hack-Molitor seine Vita zusammengefasst hat, online auf der Website des Instituts [https://www.geschichte-medizin.uni-frankfurt.de/47769188/Prof__Dr__Dr__Udo_Benzenh%C3%B6ferLink] zu finden.
Prof. Dr. Michael Sachs, Komm. Leiter, stellt das Dr. Senckenbergische Institut für Geschichte und Ethik der Medizin vor – an der Schnittstelle zu anderen Geisteswissenschaften wie Philosophie und Theologie. Mit den katholischen Theologen sowie mit den Kunsthistorikern gebe es aktuell gemeinsame Lehrveranstaltungen.
Das besondere an dem Institut, das in der Nähe des alten Eingangs des Städtischen Krankenhauses an der Paul-Ehrlich-Straße untergebracht ist, sei, neben den Mitarbeitenden, die Bibliothek: Über 75.000 Bände Spezialwissen zu Medizingeschichte & Ethik, als „Präsenzbibliothek, die zu den Öffnungszeiten direkt eingesehen werden können.
Zur Geschichte: Von 1917–1935 gab es bereits einen Lehrauftrag für Geschichte der Medizin, den bis zu seiner Entlassung 1933 und folgender Emigrierung der Frankfurter Internist, Medizinhistoriker und Medizintheoretiker Richard Koch innehatte. Mit der Institutsgründung 1938 wurde als dessen erster Leiter aus Berlin – kein NSDAP-Mitglied, wie Sachs hervorhebt, Walter Artelt zunächst als Dozent berufen – keine Professur, sondern ein Lehrauftrag. Artelt leitete das Institut bis 1971, später als Direktor.
Und heute: „Durch systematische Reflexion der Vergangenheit wollen wir dazu beitragen, die Standpunkte der Gegenwart zu finden“, so Sachs. Sterbehilfe und assistierter Suizid seien derzeit wichtige Themen, aber auch Kursangebote zum wissenschaftlichen Arbeiten für Studierende. Im Februar 2023 wird in Zusammenarbeit mit dem Institut eine Dauerausstellung zur Geschichte der Universität eröffnet.
Die (bislang) jüngste Gründung war dann 2008 das Dr. Senckenbergische Institut für Neuroonkologie, durch die Anstrengungen von zwei Frankfurter Stiftungen, der Dr. Senckenbergischen Stiftung wiederum und der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung (deren Förderung lief 2014 aus). Leiter ist Prof. Dr. med. Joachim P. Steinbach, als dessen Vertreterin stellt Dr. med. Pia Zeiner das Institut vor.
Hirntumorforschung, so Zeiner, steckte zur Zeit Senckenbergs noch in den Kinderschuhen. Es fanden „abenteuerliche“ Eingriffe statt: ohne Betäubung, ohne Asepsis und in Anwesenheit eines Priesters für die letzte Ölung (Bild von Hieronymus Bosch „Entfernung des Wahnsinnssteins)“.
Heute führen Neurochirurgen in hoch spezialisierten OP-Sälen präzisionsneurochirurgische Eingriffe durch. Trotzdem habe der Geist Senckenbergs noch Bestand in der Hirntumorforschung: Damals seien es Maiglöckchen gewesen – Substanzen aus der Natur. Heute führt Zeiner das Beispiel Rapamycin an, das in einem Mikroorganismus auf der Osterinsel entdeckt wurde. Die Erforschung dieses Wirkstoffes habe zu der Entdeckung des wichtigen „mTOR“-Signalwegs geführt, den das Rapamycin hemmen kann. Diese ist eng verküpft mit Zellwachstum und Metabolismus – Parameter, die für Hirntumorforschung essenziell seien. Hirntumore, die eine genetisch bedingte Überaktivierung dieses Signalwegs haben, stellen durch Rapamycin ihr Wachstum ein – genauso wie Piccolofliegen dadurch schrumpfen.
Leider sprechen nicht alle Hirntumore so gut auf diese Substanzen an – ein Ziel der Forschung am Institut für Neuroonkologie sei, diese Substanzen besser nutzbar zu machen für die Therapie von Glioblastomen, die wesentlich häufiger sind.
Ein anderes Thema: Blut. Was damals der Aderlass war, sind heute sind Immuntherapien. Heute lassen sich aus dem Blut die natürlichen Killerzellen isolieren, die mit chimären Antigenrezeptoren (CAR) „scharf“ gemacht werden, um Tumorzellen attackieren zu können. Hergestellt z. B. im hauseigenen Blutspendedienst, werden sie injiziert in ein kleines Reservoir in die Resektionshöhle eines Tumorpatienten, um dann dort die Hirntumorzellen abzutöten. Die CAR-NK-Zelltherapie habe in der CAR2BRAIN“-Studie schon erste positive Signale gezeigt. Daran werde stetig weitergearbeitet, um solche Therapien noch besser, optimierter und individueller zu gestalten. Versorgung von Hirntumorpatienten sei nicht zuletzt „Teamwork“, was hier am Standort exzellent funktioniere – zu den tumorspezifischen Therapien kommen sozialmedizinische und palliative Aspekte, ganzheitliche Therapien, die wiederum auf den humanistischen Ansatz von Senckenberg verweisen.
Im Schlusswort freute sich der Vorsitzende der Administration Dr. Senckenbergische Stiftung, Dr. Kosta Schopow, über die rund 200 Gäste im Audimax. Er betonte, dass gegenwärtige und zukünftige Ziel der Stiftung sei, Forschungsprojekte zu finanzieren, die zu den Instituten gehören.
Das allerletzte Wort gibt Wicht unserem Herrn Dr. Senckenberg selbst – in seinen Tagebüchern hat er eine „To-do-Liste“ über seinen Tod hinaus geführt – Einträge, die bis zum 25. November 1772 reichen. Sein Programm an seinem Todestag hatte er wie folgt festgelegt: Er wollte 40 Kreuzer in die Armenkasse werfen, einen Kollegen besuchen und danach noch Patienten zu Hause aufsuchen. Irgendetwas (unleserlich) wollte er ins Katharinenstift zurückbringen, er wollte seinem Bruder und seinem Neffen einen Brief schreiben und es ging um das Problem eines schief geschienten Beines eines Patienten. „Ach, hätte er sich doch an sein Programm gehalten“, damit schließt Prof. Dr. med. Helmut Wicht den Festakt.
Biss der Nosferatu-Spinne
In der nachfolgenden Schlange zum Buffet wird noch eine Geschichte aus dem Bereich der eingewanderten Tierarten (Neozoen) aufgeschnappt: Prof. Dr. med. David Groneberg erzählt mit drastischen Worten über die selbst erlittenen üblen Folgen eines Bisses einer vermutlich aus Holland im Reisegepäck eingeschleppten Nosferatu-Spinne. Wer das Tier nun googelt, darf sich passend zu den trüben November-Tagen durchaus ein bisschen gruseln.
Isolde Asbeck
Buchtipp:
Helmut Wicht (Hrg.): Zur Geschichte und Vorgeschichte der Dr. Senckenbergischen Anatomie in Frankfurt am Main – angelegentlich des 250sten Jahrestages ihrer Eröffnung. ISBN: 9783963200595, Henrich-Editionen 2022, 30 €
Trennungsrechnung à la Senckenberg
Passend zur Zeitschiene der Gründung der Goethe-Universität überrascht der Dekan des Fachbereichs Medizin Prof. Dr. Stefan Zeuzem das Publikum mit Trennungsrechnung à la Senckenberg.
Die Universitätsmedizin bestehe heute aus zwei rechtlich eigenständigen Institutionen: Dem Klinikum als einer „Anstalt des Öffentlichen Rechtes“ und dem Fachbereich Medizin als Teil der Universität, einer „Öffentlich-rechtlichen Stiftung“. Dem Klinikum stehe Prof. Dr. Jürgen Graf vor, dem Fachbereich Medizin der Dekan in seiner Person, so Zeuzem.
Seit dem 26. Juli 2000 regele das „Gesetz für die hessischen Universitätskliniken“ (UniKlinG) in § 15 die Zusammenarbeit zwischen Universitätsklinikum und Universität. Das Problem:
Die Aufgaben, aber auch die Kosten der Universitätsmedizin seien „absolut“ nicht zu trennen. Politisch gewollt, sollten Einzelheiten in einem „Kooperationsvertrag“ [§15 (6) UniKlinG] geregelt werden. Zeuzem: „Daraufhin haben sich die ‚Kooperierenden’ 20 Jahre ‚wie die Kesselflicker’ gestritten – um große Summen, aber auch im Wesentlichen darum, wie viel Quadratmeter der Eingangshalle vom Klinikum zu putzen und wie viele Quadratmeter vom Fachbereich zu wischen sind! Herrn Graf und mir ging dieser langjährige Streit ungeheuer auf die Nerven.“ Daraufhin „haben wir mit viel Geduld im Jahr 2020 mit juristischer Beratung eine Einigung geschaffen – 20 Jahre Streit, zwei Jahre Frieden!“
Was aber habe das klassische politische Problem des 20. Jahrhunderts mit Senckenberg zu tun?
Im Stiftungsbrief von 1763 sei die Trennungsrechnung ein großes Thema gewesen: Der sperrige Text stelle klar eine Trennung von Forschung und Lehre auf der einen Seite sowie Krankenversorgung auf der anderen Seite fest.
Wohl auch u. a. mit dem Erbe seiner ersten Frau, einer reichen Juwelierstochter, alle seine drei Ehen blieben tragischerweise angesichts der eigenen Hilflosigkeit des Arztes vor der Tuberkulose kinderlos, stellte Senckenberg seiner Stiftung 95.000 Gulden bereit – nahezu sein gesamtes Vermögen. Zwei Drittel des Stiftungsertrages sollten dem Studium medicinae, also Forschung und Lehre dienen. Das andere Drittel sollte an „arme Kranke“, also für die Krankenversorgung verwendet werden. Später habe Senckenberg bestimmt, dass aus dem letzten Drittel auch das Bürgerhospital errichtet werden soll, indes waren die Mittel erschöpft. Dieses konnte nur fertiggestellt werden, weil das Collegium medicum über vier Jahre großzügig auf zwei Drittel der Zinseinnahmen des senckenbergischen Kapitals verzichtete – um so das Hospital für die Krankenversorgung zu bauen.
„Aus Sicht der neuzeitlichen Trennungsrechnung fand 1772 & 1776 eine ‚Quersubventionierung’ der Krankenversorgung aus Mitteln von Forschung und Lehre statt – eine Situation, die heute eine Wissenschaftsministerin in den Herzinfarkt treiben würde!“
40 Jahre später sei diese Zusammenarbeit leider wieder komplett vergessen gewesen. 1812 wollten Professoren einer (kurzlebigen) medizinischen Fachhochschule unter dem Dach der Stiftung im Bürgerhospital praktische Lehre am Krankenbett praktizieren. Das wurde ihnen vom Vorstand des Hospitals verweigert – weil der Unterricht im Spitale die Ärzte zum Verbrauch teurer Arzneien hätte verleiten können.
„Die anwesenden Aufsichtsratsmitglieder sind sich auch heute bewusst, dass universitäre Medizin nicht die gleichen Preise hat wie die kommunale Regelversorgung“, Zeuzem zog das logische Fazit: Auch heute könnte es in Streitfällen auf mehreren Ebenen haushaltstechnisch zielführend sein, sich auf die Senckenbergische Trennungsrechnung – zwei Drittel für die Universität, ein Drittel für die Krankenversorgung – zu besinnen! (asb)
17.11.1772: Sektionsprotokoll J. C. Senckenbergs
Äußere Besichtigung
- Flache Kontusionen auf der Nase und linken Seite des Stirnbeins.
- 4 Zoll lange und 2 Zoll tiefe Wunde am Hinterhaupt rechts, gleich über dem Nacken, bis auf das Schädelperiost, oben bis an die Lambdanaht reichend, darin erhebliche Blutkoagel.
- Kleine Kontusion in der linken Iliakalregion.
Innere Besichtigung I – Kopfhöhle
- Massive Einblutung in die Kopfschwarte in der gesamten Scheitelregion.
- Kontusion im Bereich des linken Musculus temporalis.
- Schädel und Dura mater unverletzt.
- Blutleere Sinus.
- Subarachnoidalblutung rechts occipital.
- Umblutung der Medulla oblongata.
- Das Gehirn frei von Blutungen.
Innere Besichtigung II – Brust und Bauchhöhle
- Leistenhernie beidseitig (Vorbefund).
- Bauchorgane unverletzt, ohne krankhafte Befunde.
- Links Verwachsungen Pleura visceralis mit parietalis.
- Geringer Hämatothorax rechts.
- Herzhöhlen sowie Gefäße von Thorax und Abdomen blutarm.
- Stauchung und Umblutung BWK 1–5.
- Trümmerfrakturen und Luxationen HWK 3–7.
Vorläufiges Gutachten zur Todesursache
Kombination aus Verbluten und der Kompression von Medulla oblongata und Halsmark.
Übersetzung in heutigen Sprachgebrauch: Prof. Dr. Marcel A. Verhoff