Mal ehrlich, wer wünscht sich nicht die Normalität aus der Zeit vor der aktuellen, durch das SARS Coronavirus Typ 2 (SARS-CoV-2) ausgelösten Pandemie zurück? Wieder „normal“ zu leben? Das ist menschlich nachvollziehbar – nach vielen Monaten der Einschränkungen. Aber es ist auch durchaus wissenschaftlich begründbar. Zahlreiche Infektionswellen mit unterschiedlichen Virusvarianten haben in der Bevölkerung ein hohes Maß an Immunität generiert, nicht primär durch die Bildung von Antikörpern, sondern vor allem durch die Ausbildung der zellulären Immunität, das heißt die Erkennung und Vernichtung virusinfizierter Zellen. Dazu gelang es sehr schnell, funktionierende Impfstoffe zu entwickeln und zuzulassen, die primär die Wahrscheinlichkeit für schwere Krankheitsverläufe (Krankenhausaufenthalt, Intensiv-Station, Tod) und anfangs sogar auch für die Übertragung deutlich reduziert haben.
Konsequentes Monitoring zeitigt Erfolge, auch in der Therapie
Ein konsequentes weltweites Monitoring der Virusevolution hat es ermöglicht, die Varianten zu identifizieren, die die bisherige Immunität umgehen konnten und somit zu neuen Ausbruchswellen geführt haben. Als Konsequenz auf diese Variantenselektion gibt es inzwischen angepasste Impfstoffe, die wieder ein größeres Potenzial aufweisen, die Wahrscheinlichkeit für Infektionen zu reduzieren.
Auch auf der Therapieseite sind Erfolge zu vermelden. Zwar sind die zurzeit zugelassenen monoklonalen Antikörper bei den aktuell zirkulierenden Virusvarianten unwirksam, aber die antiviralen Medikamente sind – unabhängig von den Virusvarianten – voll wirksam und somit ein weiteres wichtiges Instrument, um schwere Krankheitsverläufe signifikant zu reduzieren.
Und das Virus?
Wie schon angedeutet, haben wir in den knapp drei Jahren nach der Entdeckung von SARS-CoV-2 die immer wieder beeindruckende Fähigkeit der Viren zur Anpassung an den aktuellen Wirt durch Mutation und Selektion begleiten können. B.1.1.7, B.1.617.2 oder B.1.1.529, vielleicht besser bekannt als Alpha, Delta oder Omikron charakterisieren die Anpassung von SARS-CoV-2 an uns Menschen mit von Variante zu Variante effizienterer Übertragung und/oder Unterlaufen der bisherigen Immunität. Auch scheint das Virus dem evolutionären Trend zu folgen, dass jede nachfolgende Variante nicht klinisch auffälliger ist als die vorherige.
Der Name „Cerberus“ oder auch „Höllenhund“ für die aktuell wahrscheinlich interessanteste und möglicherweise in der nächsten Welle dominante Variante BQ.1 (inklusive ihrer Subvarianten) mag hier den einen oder anderen diesbezüglich in die Irre geführt haben; jedoch besticht die aus der Omikron-Linie BA.5 abstammende BQ.1 weniger durch gehäufte schwere klinische Verläufe, sondern primär durch ein noch mal gesteigertes Potenzial für das Unterlaufen der Antikörperimmunität.
Einschränkend muss man festhalten, dass auch Omikron-Varianten das Potenzial haben, bei bis dato weder geimpften noch infizierten Personen zu schweren Verläufen zu führen. Apropos Evolution: Nach nur knapp drei Jahren scheint das Virus das Potenzial zu massiven Veränderungen eingebüßt zu haben, wie Prof. Dr. Christian Drosten jüngst in der Zeit berichtete (https://www.zeit.de/2022/48/ christian-drosten-corona-pandemie- endemie-charite).
Alles spricht für Normalität, oder?
Das oben Genannte spricht auf den ersten Blick dafür, dass SARS-CoV-2 in die Reihe der bekannten viralen respiratorischen Erreger einsortiert werden kann und nicht mehr gesondert durch staatliche Maßnahmen kontrolliert werden muss. Gesetzlicher Verzicht unter anderem auf Lockdowns und Schulschließungen, teilweise Verzicht auf die Isolationspflicht in einzelnen Bundesländern sowie die aktuelle Diskussion um den Verzicht der Maskenpflicht im öffentlichen Personen-Nahverkehr sind die politischen Reaktionen auf die wissenschaftlichen Fakten.
Aber meiner Meinung nach ist das Bild von SARS-CoV-2, wie es sich derzeit in der Gesellschaft darstellt, (noch) nicht vollständig. Meine Argumente, warum wir zum jetzigen Zeitpunkt das Infektionsgeschehen noch kontrollieren sollten:
Auch wenn in der aktuellen Situation (Anfang Dezember) weder Krankenhäuser noch Intensivstationen aufgrund von SARS-CoV-2 Infektionen überlastet sind, hat die „klassische“ Erkältungssaison nach zwei Jahren Abstinenz früher begonnen als gewohnt. Influenza und RSV (Respiratorische Synzytial-Virus-Infektionen) bestimmen das aktuelle Infektionsgeschehen (siehe Arbeitsgemeinschaft Influenza, influenza.rki.de/Default.aspx).
Dazu kommt, dass die Corona-Fallzahlen auf einen möglichen Wiederanstieg hinweisen, auch wenn die offiziell genannten Zahlen deutlich zu niedrig sein dürften. PCR-Tests werden deutlich seltener angefordert, und nur diese gehen in die Statistik ein. Aber auch Antigen-Tests, die nach einem positiven Ergebnis weiterhin für den Patienten kostenlos mittels PCR bestätigt werden können, sind nur noch sehr eingeschränkt kostenlos verfügbar und für die Teilnahme am alltäglichen Leben keine Voraussetzung mehr. Parallele Wellen von verschiedenen Erregern führen zu vermehrten krankheitsbedingen Ausfällen unter anderem in der kritischen Infrastruktur. Außerdem wird sich die Situation in den Krankenhäusern bei deutlich steigenden Infektionszahlen erfahrungsgemäß wieder verschlechtern.
Daher wäre es zum jetzigen Zeitpunkt eine gute Strategie, die SARS-CoV-2-Welle sowohl durch eine breit angelegte Impfkampagne als auch durch konsequentes Maskentragen im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes abzuflachen. Die angepassten SARS-CoV-2-Impfstoffe haben durchaus das Potenzial für ein Abflachen der Infektionswelle, und das Tragen der Maske reduziert auch die Wahrscheinlichkeit für Infektionen mit anderen respiratorischen Erregern.
Dabei geht es nicht darum, wie in den Jahren zuvor, die Infektionswellen nahezu komplett zu verhindern, sondern die Kurven abzuflachen, um die Belastung durch infektionsbedingte Ausfälle besser zu verteilen. „Flatten the curve“ ist seit den Anfängen der Pandemie eine geläufige Strategie und stellt ein probates Mittel dar, um nach zwei Jahren nahezu ohne Erkältungen nicht alles in einem zu engen Zeitfenster nachzuholen.
SARS-CoV-2 im Todesfall – eher Zufallsbefund oder ursächlich?
Aktuell weisen die offiziellen Statistiken um die 1.000 Todesfälle/Woche in Zusammenhang mit SARS-CoV-2 aus. Die Diskussion um die Ursächlichkeit ist nicht neu, wird aber gerade im Kontext der auf den ersten Blick klinisch eher harmlosen Omikron-Varianten wieder sehr intensiv geführt. Eine Auswertung des deutschlandweiten Obduktionsregisters DeRegCOVID [1] und die Erfahrung der Frankfurter Rechtsmedizin [2] liefern hier doch ein sehr eindeutiges Bild: Die große Mehrheit ist an und nicht mit SARS-CoV-2 verstorben.
Auch wenn gerne argumentiert wird, dass SARS-CoV-2 inzwischen wie die bisher bekannten respiratorischen Erreger einzustufen ist, stimmt dass so zum jetzigen Zeitpunkt nicht. SARS-CoV-2 tritt nicht so saisonal auf, wie z. B. die Influenza, das heißt, wir müssen den Schutz für die vulnerablen Gruppen das ganze Jahr über aufrechterhalten. Wir wissen noch nicht, wie ein optimales Impfschema aussieht und wie lange ein effektiver Schutz vor schweren Verläufen wirklich anhält. Diesen Herbst/Winter arbeiten wir zum ersten Mal mit angepassten Impfstoffen, auch hier fehlt uns einfach die Erfahrung, die wir mit der Influenza haben. Ein weltweites Monitoring der zirkulierenden Varianten ist aktuell vorhanden und muss beibehalten werden, um ggf. Anpassungen der Impfstoffe rechtzeitig vornehmen zu können.
Long-Covid, oft unterschätzt
Ein weiteres noch nicht abschließend geklärtes Problem nach einer SARS-CoV-2 Infektion ist Long-Covid. Wer bekommt es, was ist die Ursache, kann ich es behandeln und wie kann ich das Risiko, Long-Covid zu bekommen, signifikant reduzieren? Offene Fragen, auf die es noch keine endgültigen Antworten gibt. Die Wahrscheinlichkeit, an Long-Covid zu erkranken, liegt deutlich höher als das, was man unter alltäglichem Restrisiko versteht. Daher ist es meiner Einschätzung nach unbedingt notwendig, so viele Infektionen wie möglich zu vermeiden.
Ausblick
Einigkeit besteht sicher darin, dass SARS-CoV-2 zu unserem Alltag gehören wird und wir dieses Virus nicht mehr loswerden. Eine Rückkehr zur Normalität, das heißt SARS-CoV-2 wie andere respiratorische Erreger zu behandeln, steht außer Frage. Für mich ist dieser Herbst/Winter allerdings aus oben genannten Gründen nicht der optimale Zeitpunkt. Aber ist es dafür notwendig, dass der Staat hier Regeln aufstellen muss, oder kann das nicht im Rahmen der Eigenverantwortung an uns alle abgegeben werden?
Grundsätzlich bin ich ein Befürworter von Eigenverantwortung, aber nach fast drei Jahren Pandemie sehe ich zum jetzigen Zeitpunkt einen zu schnellen individuellen Trend zur Normalität, so dass ich zumindest in den nächsten Monaten gesetzliche Regelungen für sinnvoller erachte. Mindestens genauso wichtig ist es jetzt aber auch, aus dieser Pandemie zu lernen, da wir davon ausgehen müssen, dass es nicht die letzte Pandemie gewesen ist. Sich im Nachhinein hinzustellen und bestimmte Maßnahmen als überflüssig zu brandmarken, ist nicht zielführend. Hinterher sind wir alle klüger.
In der damaligen Situation Anfang 2020 war es wichtig und richtig, so viele Infektionen wie nur möglich zu vermeiden, um mehr über das Virus zu erfahren. Sicherlich war nicht alles perfekt, was damals beschlossen wurde. Um so wichtiger ist es jetzt, die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Ich möchte hier nur ein paar Punkte auflisten.
Zum einen ist Föderalismus, so sehr ich diesen schätze, im Rahmen der Pandemie eher hinderlich. Der berühmte „Flickenteppich“ ist immer wieder genannt worden und hat zu Unsicherheit und reduzierter Akzeptanz für die verordneten Maßnahmen in der Bevölkerung beigetragen. Auch ein bundesweit einheitliches Regelwerk für die Aktivierung oder Rückführung von Maßnahmen bildet regionale Unterschiede ab, und niemand muss bei einer Reise durch die Republik wechselnde Maßnahmenkataloge umsetzen.
Zum anderen müssen wir unsere Kommunikation mit der Bevölkerung verbessern. Muss jede Virusvariante, jede noch nicht abschließend publizierte Studie oder sonstige Inhalte sofort über soziale Medien verbreitet werden, um dann kurze Zeit später klarstellen zu müssen, dass es doch nicht so relevant oder richtig ist wie zuvor kommuniziert?
Natürlich funktioniert Wissenschaft über die Diskussion, die auch durchaus kontrovers sein kann – aber sind soziale Medien dafür das optimale Medium? Meiner Meinung nach und aufgrund der jüngeren Erfahrungen eher nicht.
Fazit
Letztendlich müssen wir akzeptieren, dass jede neue Pandemie etwas anders sein wird als die vorherigen. Wir werden auch zukünftig wieder vor der Situation stehen, nicht genau zu wissen, ob bestimmte Maßnahmen funktionieren oder ob doch zu viel Schäden angerichtet werden, die den Nutzen überwiegen. Aber wir können und müssen aus dieser Pandemie lernen, um uns so gut wie möglich auf die nächste Pandemie vorzubereiten, denn diese wird sicher kommen. Es liegt an uns, was wir daraus machen.
PD Dr. phil. nat. Dr. med. habil. Martin Stürmer, IMD Labor Frankfurt, E-Mail: mstuermer@labffm.de
Die Beiträge in der Rubrik „Ansichten & Einsichten“ geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.