Prof. Dr. med. Elke Jäger: 30 Jahre Kampf gegen den Krebs
Sie gilt als eine Pionierin ihres Fachs. Seit dreißig Jahren ist Prof. Dr. med. Elke Jäger in der Klinik für Onkologie und Hämatologie am Krankenhaus Nordwest in Frankfurt tätig, zunächst als Oberärztin, seit 2003 als Chefärztin. Für ihren jahrzehntelangen Einsatz sowohl im Bereich der Krebstherapie und -forschung als auch für eine umfassende Krebspatientenversorgung wurde sie kürzlich mit dem Erika-Pitzer-Preis der Willy Robert Pitzer Stiftung in Frankfurt am Main ausgezeichnet.
Im Gespräch mit dem Hessischen Ärzteblatt sprüht Jäger vor Energie, erzählt von den Anfängen ihrer Karriere, spricht leidenschaftlich über ihr Fach und ihr Engagement für die Patienten. Rückblickend erzählt die 61-Jährige davon, wie steinig ihr beruflicher Weg anfangs gewesen sei und dass sie als Frau etliche Hürden habe überwinden müssen, um Karriere machen zu können. Anders als heute waren Arztstellen in den achtziger Jahren dünn gesät. Nachdem Jäger 1985 ihr Medizinexamen abgelegt hatte, schrieb sie 35 Bewerbungen, bis sich eine Chance auf Anstellung am Institut für Pathologie der Universitätsklinik Mainz bot. „Es war eine zunächst auf ein Jahr befristete 50 %-Stelle, die andere halbe Stelle erhielt ein Mitbewerber“, erinnert sich die Ärztin.
„Am Ende nehmen wir den Besseren“, hieß es bei der Einstellung. Dass sie bleiben konnte, erwies sich als Glücksfall: „Es war für mich das Sprungbrett in die Innere Medizin.“ In der Probezeit sei dann allerdings „der Super-GAU“ eingetreten: Die junge Frau wurde schwanger. „Mädchen, siehst Du hier eine einzige andere Mutter in meinem Team?“, habe ihr damaliger Chef gefragt. Doch Jäger ließ sich nicht entmutigen und arbeitete „bis in den Kreißsaal hinein“. Nach acht Wochen Mutterschutz kehrte sie an ihren Arbeitsplatz zurück. „Ich habe geschafft wie eine Wilde, weil ich diesen Beruf unbedingt erlernen und ausüben wollte.“ Etwas, dass ihr dank familiärer Unterstützung gelang. Jäger erhielt Zweijahresverträge, bis sie die Facharztweiterbildung absolviert hatte. „Ich musste in der Klinik so tun, so zu arbeiten, als hätte ich kein Kind. In dieser Beziehung hat sich inzwischen für junge Mütter im Arztberuf glücklicherweise viel geändert.“
Über die Pathologie zur Onkologie
Die Pathologie habe sie zur Onkologie gebracht, berichtet Jäger, die bei der Obduktion der Leichen viele unerkannte Krebserkrankungen entdeckte. „Die bildgebende Diagnostik in der Klinik war zu jener Zeit noch auf einem völlig anderen Stand, so dass mancher Krankheitsbefund erst nach dem Tod festgestellt werden konnte.“ Anschließend arbeitete die angehende Internistin in der Klinik für Gastroenterologie und begegnete dort schwerkranken onkologischen Patienten. Bestürzt registrierte sie, dass die Visite einfach an den Zimmern dieser Patienten vorbeiging. „Das war Ausdruck der damaligen therapeutischen Hilflosigkeit bei Krebserkrankungen. Es gab nur ein einziges Medikament für onkologische Patienten in der Gastroenterologie, sonst konnte man nichts mehr für die Kranken tun.“
Im zweiten Weiterbildungsjahr reifte Jägers Entschluss, sich künftig in der Onkologie zu engagieren. Das Leid der Patienten ging ihr nahe: „Um diese Menschen musste sich doch jemand kümmern. Zu jener Zeit war eine Krebserkrankung nicht nur ein Riesentabu. Es war ein Todesurteil.“ Aber es bahnten sich Fortschritte an: So hatte ihr damaliger Oberarzt, Prof. Dr. med. Alexander Knuth, in Mainz eine kleine onkologische Ambulanz eingerichtet, in der eine Patientin mit einem fortgeschrittenen Melanom behandelt wurde. „Im Labor gelang es, aus den Operationspräparaten Tumorzelllinien anzuzüchten und Expositionsversuche mit autologen Lymphozyten durchzuführen – die Beobachtungen im Labor führten zur experimentellen Anwendung einer Impfung“, erzählt Jäger. Die Patientin wurde mehrfach mit ihren eigenen Tumorzellen geimpft und es kam zu einer vollständigen und bis heute anhaltenden Remission. „Das war Ende der 1980er-Jahre. Die Patientin wurde bis in die 1990er-Jahre hinein behandelt und lebt noch heute.“
Erste hessische Palliativstation
1992 beendete Jäger ihre Facharztweiterbildung und folgte Knuth, inzwischen Chefarzt, als Oberärztin an das Krankenhaus Nordwest. „Für mich als Mutter bis dahin zweier Kinder war dies ein riesen Karriereschritt“, kommentiert Jäger. In Frankfurt setzte sie sich leidenschaftlich für die Einrichtung einer onkologischen Ambulanz und einer Palliativstation ein, die 1996 als erste hessische Palliativstation mit zehn Betten gegründet wurde. „Seitdem behandeln wir dort Patienten, die nur noch eine kurze Überlebensperspektive und hochsymptomatische Krankheitsbilder haben. Sterben ist ein wichtiger Teil des Lebens, der gestaltet und begleitet werden muss.“
In den Folgejahren begannen sich die Möglichkeiten der Krebstherapie zu verbessern, auch dank des klinisch-immunologischen Forschungslabors im Krankenhaus Nordwest. Ein Fachgebiet, in dem sich Jäger 1997 habilitierte. „In unserem Labor werden unter anderem Immunreaktionen untersucht, die einzelne Krebspatienten gegen ihre Tumore entwickeln, und daraus antigenspezifische Immuntherapien konstruiert. Ende der 1990er-Jahre wurden zudem eine Vielzahl chemotherapeutischer Medikamente entwickelt, die dazu beitrugen, die Behandlungsergebnisse onkologischer Erkrankungen zu verbessern.
Die Erweiterung der Behandlungsmöglichkeiten blieb wegen der oftmals nur marginalen Verbesserung zunächst ohne große Resonanz: „Die Patienten wollten die Chemotherapie bekommen, aber Hoffnung und Mut über die neuen medizinischen Möglichkeiten ist selten entstanden. Sie saßen zu Hause und waren oft depressiv“, erinnert sich Jäger. „Ich dachte damals, ich mache etwas falsch, wenn ich trotzdem die ja meist nebenwirkungsreichen Behandlungen durchführe.“ Als begeisterte Sportlerin kam ihr in den Sinn, dass körperliche Bewegung und Sport die Stimmungslage und die Motivation für den Kampf gegen die Erkrankung verbessern könnte.
Lebensmut durch Sport
Trotz der anfänglichen Skepsis, die ihr entgegenschlug, startete sie eine Kooperation mit dem Institut für Sportmedizin in Frankfurt: Prof. Dr. med. Winfried Banzer führte eine kleine Pilotstudie mit 20 Patienten durch, die unter Anleitung und engmaschiger Begleitung ein niederschwelliges Trainingsprogramm absolvierten. Schon nach drei Wochen sei ein enormer Konditionszuwachs zu beobachten gewesen. Und das Wichtigste: Die Teilnehmer zeigten wieder Lebensmut. Durch eigene Leistung hatte sich ihre Körperkraft regeneriert. Das mache einen großen Unterschied zu der medizinischen Behandlung, bei der ein Patient alles bekomme und nicht selbst aktiv werde, so Jäger. Zugleich sei die Therapie wesentlich besser vertragen worden und das sehr häufig beklagte Fatigue-Syndrom viel seltener aufgetreten.
„Aber es war notwendig, die Menschen an die Hand zu nehmen und zu den Aktivitäten zu motivieren, denn 65 % von ihnen hatten vorher gar keinen Sport betrieben.“ Daher gründete Jäger die Stiftung „Leben mit Krebs“, deren Ziel es ist, Krebspatienten dazu zu motivieren, sich zu bewegen. Im Rahmen von „Rudern gegen Krebs“ fand 2005 die erste Ruderregatta statt. „Inzwischen gibt es das in ganz Deutschland“, erzählt Jäger. Lokal erzielte Gelder flössen in das medizinische Sportprogramm und in Geräte ein.
Mittlerweile habe sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Bewegung in der Krebstherapie wichtig sei. Neben dem körperlichen werde ein enormer psychologischer Effekt beim Kampf gegen den Krebs erzielt, erklärt Jäger. Auch der Kontext von Leidensgenossen trage zu dem Erfolg bei. Während es sonst bei Sportlern darum gehe, Bestleistungen zu erbringen, seien sich onkologische Patienten ihrer Endlichkeit bewusst und wollten beim Sport alle mitnehmen – auch die Schwächsten. „Ein interessanter Mechanismus“, urteilt Jäger. „Es sind diese Dinge, die eine Therapie erfolgreich machen, nicht nur die Medikamente.“
Nicht nur der Computer entscheidet
Die in den vergangenen zehn Jahren, dem Zeitalter der Gen-Therapie, entwickelten, individualisierten Behandlungsansätze seien „natürlich toll“, so Jäger. Doch kaum mehr Patienten in fortgeschrittenen Krankheitsstadien werden durch diese neuen Medikamente geheilt, stellt die Onkologin fest. Allerdings lassen sich auch in fortgeschrittenen Krankheitsstadien vielfach chronische Krankheitsverläufe herstellen, die jedoch einer dauerhaften Therapie und einer ständigen Beobachtung bedürfen: „Eine unglaubliche Lebensveränderung. Die Betroffenen haben zwar nicht mehr das baldige Sterben vor Augen, aber sie müssen ein Leben mit der Krankheit und unter Therapie und Beobachtung erlernen.“
Der Begriff der personalisierten Therapie provoziert bei vielen Patienten die Erwartung einer unbedingten Wirksamkeit. Jäger nennt ein Beispiel: 2017 sei ein Patient mit Pankreaskarzinom zu ihr in die Sprechstunde gekommen: „Ein erfolgreicher Anwalt, der bestens informiert war und genau wusste, wie die Behandlung nach genetischer Tumoranalyse und Computer-gestützter Therapieempfehlung laufen sollte.“ Doch der erste Eindruck täuschte. „Bei seinem nächsten Termin in der Onkologie beschrieb der Patient eine große Hoffnungslosigkeit und bat darum, ihm Mut zu machen. Die nochmalige Erörterung zeigte, dass die moderne Technik und die Computeralgorithmen keine Hoffnungsgeber sind. Das informierende und gewichtende Arzt-Patienten-Gespräch bleibt auch in Zeiten der hochtechnisierten Medizin das zentrale Element um existenzielle Fragen zu besprechen, jeden Patienten über seine Krankheitssituation zu unterrichten und ihm die Kompetenz zu geben, eine Therapieentscheidung für sich zu treffen. Heutzutage ist es fast ein schlechtes Omen den unbedingten Therapieerfolg anzuzweifeln. Die Frage `was machen wir eigentlich wenn die Behandlung nicht hilft?´ wird kaum noch gestellt. Dabei schaffen Gespräche über gerade solche Fragen Verlässlichkeit und Vertrauen im Arzt-Patienten-Verhältnis und stärken das Zutrauen des Patienten über seine bedrohende Krankheitssituation in Offenheit zu sprechen.“
Zur Förderung des Gedankenaustauschs und der Gesprächsbereitschaft auf allen Seiten initiierte die Onkologin gemeinsam mit Prof. Dr. Kurt Schmidt vom Zentrum der Ethik in der Medizin am Markus-Krankenhaus in Frankfurt eine Vortragsreihe über das Leben mit Krebs. Bei dem Vortrag „So stirbst Du“ mit objektiven Informationen über das Sterben habe auch eine ihrer Patientinnen im Publikum gesessen. „Ich hatte kein so gutes Gefühl, da auch harte Fakten mitgeteilt wurden“, erzählt Jäger. Doch die Patientin sei anschließend auf sie zugekommen und habe sich bedankt. Bisher hatte sie es nicht gewagt, ihrem 14-jährigen Sohn zu sagen, dass sie bald sterben werde. Nun fühlte sie sich in der Lage dazu; der Vortrag hatte gewissermaßen als Vehikel gedient, um diese wichtige Tür zu öffnen.
„Das größte Problem für die Patienten ist der Umgang mit der Ungewissheit. Daher ist es so wichtig für uns Ärztinnen und Ärzte, ehrlich und offen gerade auch mit diesem Problem umzugehen. Auf diese Weise merken die Patienten, dass sie nicht alleine sind“, erläutert Jäger. „Als Ärztin bin ich am Behandlungserfolg interessiert und engagiere mich dafür. Aber auch ich weiß nicht, wie der individuelle Krankheitsverlauf eines Patienten sein wird. Meine ärztliche Zuwendung in allen Situationen gibt den Patienten Kraft und zeigt, dass sie nie allein sind.“
Geändertes Format des Lebens
Im Gespräch bleiben – das ist für Jäger das A und O in der onkologischen Therapie. Selbstverständlich sei da die Unsicherheit, wie sich die Krankheit entwickelt. „Deshalb ist es extrem wichtig, entlang des Krankheitsverlaufs die Ziele immer wieder neu anzupassen und zu justieren.“ Auf die sportliche Betätigung bezogen, heiße das etwa, dass ein Patient mit fortgeschrittener Krebserkrankung zwar nicht mehr mit dem Mountainbike auf den Feldberg fahren könne. „Aber es gibt ein breites Spektrum von Möglichkeiten, das Leben dennoch lebenswert zu gestalten“, betont Jäger. Statt sportliche Höchstleistungen zu suchen, könne das beispielsweise heißen, am Main spazieren zu gehen oder mit dem Rollstuhl zu fahren. „Es geht darum, neue Ziele zu finden, um nicht die Hoffnung zu verlieren. Die Kunst ist, das geänderte Format des Lebens zu akzeptieren und aus der Reduktion etwas Gutes zu machen.“
Katja Möhrle