Laut Prof. Dr. med. Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen (ZusE) am Universitätsklinikum Gießen-Marburg Standort Marburg, sind seltene Erkrankungen gar nicht so selten. Definitionsgemäß gilt eine Erkrankung nur dann als „selten“ wenn sie nicht häufiger als 1 pro 2.000 Personen auftritt. Allerdings gibt es etwa 6.000 bis 8.000 unterschiedliche „seltene Erkrankungen“, wodurch die Gesamtzahl der an einer seltenen Erkrankung Leidenden alleine in Deutschland mit gut vier Millionen Betroffenen sehr hoch ist. Schäfer weist darauf hin, dass dies knapp 5 % unserer Bevölkerung darstellt, – und da seien die Familienangehörigen und Freunde, die ebenfalls unter der schwierigen Situation leiden, gar nicht mit erfasst. Insofern kommt Schäfer zu dem Schluss, dass Seltene doch nicht so selten sind.

Die Diagnostik bei den Seltenen ist oftmals extrem aufwendig sowie zeitintensiv und die Behandlung ist oft teuer. Wesentlich für die Arbeit des ZusE ist die Möglichkeit, dass komplexe und unklare Fälle in regelmäßigen Teamsitzungen gemeinsam bearbeitet und Lösungsansätze von unterschiedlichen Blickwinkeln aus diskutiert werden. Dabei finden die Sitzungen wöchentlich statt. Dabei sieht Schäfer die Stärke des Teams in der Vielschichtigkeit der unterschiedlichen Expertinnen und Experten: Nahezu alle Schwerpunkte der Medizin sind vertreten – von der Allgemeinmedizin bis hin zur Psychosomatik, von der Labormedizin bis hin zur Neurologie. Darüber hinaus ist modernste IT-Unterstützung mit Diagnosefindungsprogrammen sowie ein High-Tech-Labor mit Expertise in der Gendiagnostik für die Lösung scheinbar unlösbarer Fälle hilfreich. Letztendlich alles Möglichkeiten, die sich in einer Universitätsklinik wie Marburg wiederfinden.

Seit 2013 besteht diese Einrichtung am Uniklinikum Marburg. Seit der Gründung haben sich mehr als 9.500 Hilfesuchende an das ZusE gewandt – eine Aufgabe für das kleine Zentrum, das bislang vom Klinikum querfinanziert wird, die kaum zu schaffen ist. Zumal die Bearbeitung einzelner Patienten oftmals mehrere Tage beansprucht. Dennoch konnten die Experten des ZusE mehr als 3.000 Patientinnen und Patienten weiterhelfen und oftmals einer Therapie zuführen, die jahrelanges Leiden zumindest lindern konnte. Kopfzerbrechen macht dem ZusE Team jedoch die lange Wartezeit, weswegen intensiv mit allen Möglichkeiten der modernen Universitätsmedizin an Verbesserungen gearbeitet wird.

Unterstützung erhofft sich Schäfer durch den neugegründeten „Förderverein für unerkannte und seltene Erkrankungen“ (FusE), dessen Gründung ebenso wie das zehnjährige Bestehen des ZusE Mitte September am Uniklinikum in Marburg gefeiert wurde. Die Veranstaltung fand mit zahlreichen Ehrengästen statt, darunter auch der hessische Ministerpräsident Boris Rhein und dessen Gattin Tanja Raab-Rhein, die auch Schirmherrin des FusE ist. Als Festredner hielt Prof. Dr. med. Eckart von Hirschhausen einen Vortrag über „Seltene Erkrankungen und Klimawandel“.

Wie alles begann

Die Gründungsgeschichte des ZusE dürfte weltweit einmalig sein. Angefangen hatte das Ganze mit einer Vorlesungsreihe von Prof. Schäfer mit dem Titel „Dr. House revisited – oder: Hätten wir den Patienten in Marburg auch geheilt?“ Schäfer wollte mit diesem Lehrformat bei den Studierenden das Interesse für seltene und komplexe Erkrankungen wecken. Von dieser etwas ungewöhnlichen Lehrveranstaltung, für die Schäfer mit dem renommierten Bundeslehrpreis „Ars Legendi“ ausgezeichnet worden ist, waren die Medizinstudierenden voll begeistert. Aber auch die Presse und in der Folge zahlreiche verzweifelte Patientinnen und Patienten wurden schnell auf den etwas ungewöhnlichen Professor in Marburg aufmerksam. Mit einer Reihe erfolgreicher Diagnosen bei überaus komplexen und scheinbar unlösbaren Fällen wurde er in den Medien schnell zum „deutschen Dr. House“.

Ein besonders spektakulärer Fall war ein 55-jähriger Patient mit einer schweren Kobaltvergiftung, den Schäfer und sein Team lösen konnte, da er sich an eine Episode von Dr. House erinnerte, die er kurz zuvor in seinem Seminar besprochen hatte. So konnte die Ursache der Herzinsuffizienz als Kobaltvergiftung nach Hüft-TEP identifiziert und erfolgreich therapiert werden. Der Fall fand durch die Veröffentlichung unter dem Titel „Cobalt intoxication diagnosed with the help of Dr House“ in der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ weltweite Aufmerksamkeit. Schäfer geht davon aus, dass dieser Bericht weltweit dutzenden von Menschen das Leben gerettet hat. Alleine in Marburg wurden mehrere Patienten in der Folge wegen einer Metallose nach Hüft-TEP behandelt.

Nach wie vor rufen jedes Jahr tausende Hilfesuchende beim ZusE in Marburg an und etwa 800 bis 1.000 Anfragen werden mit teils mehreren dicken Aktenordnern voller Befunde postalisch zugeschickt. Nach Möglichkeit wird an die heimatnahen Zentren verwiesen, da mittlerweile jedes Uniklinikum solch ein Zentrum wie das ZusE vorhält. Für die Arbeit des ZusE-Teams ist dabei der in Frankfurt am Uniklinikum beheimatete „SE-Atlas“ (im Internet https://www.se-atlas.de) besonders hilfreich. Dort werden alle bundesdeutschen Zentren für seltene Erkrankungen mit deren Kontaktdaten benannt. Eine weitere überaus hilfreiche Einrichtung für Menschen mit seltenen Erkrankungen ist die Patientenselbsthilfe ACHSE e. V. (https://www.achse-online.de/de).

Gründung des Fördervereins FusE

Eine bessere Unterstützung für die hessischen Zentren für seltene Erkrankungen erhoffen sich die eng zusammenarbeitenden Ärztinnen und Ärzte aus Frankfurt und Marburg durch den neu gegründeten Förderverein für unerkannte und seltene Erkrankungen (FusE – Hessen e. V.), dessen Schirmherrin Tanja Raab-Rhein ist. Dieser Förderverein ist bundesweit der erste, der standortübergreifend sich für die Verbesserung der Versorgung von Menschen mit seltenen und/oder unerkannten Erkrankungen in Hessen einsetzt. Die Frankfurter und Marburger Ärztinnen und Ärzte sehen hier in naher Zukunft eine bessere Vernetzung und eine bessere Patientenversorgung für die vielen Menschen mit seltenen Erkrankungen in Hessen (https://fuse-hessen.de/).

Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen

Das Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen (ZusE) der Uniklinik Marburg dient ebenso wie das FRZSE der Uniklinik Frankfurt als Anlaufstelle für hessische Ärztinnen und Ärzte, die Patienten mit komplexen und/oder seltenen Erkrankungen betreuen und Unterstützung bei der Diagnosefindung benötigen. Dabei sichtet das ZusE zunächst im Sinne eines Zweitmeinungsverfahrens sämtliche bislang erfolgten Untersuchungen inkl. der Krankenhaus-Entlassungsbriefe, fachärztlichen Stellungnahmen und Laborbefunde. Sollten diagnostische Lücken bestehen, werden konkrete Empfehlungen zu Komplettierung der Diagnostik erarbeitet. Siehe Internet:

www.ukgm.de/ugm_2/deu/umr_zuk/27241.html. Derzeit erfolgt keine Finanzierung dieses Zentrums durch die Kostenträger. Aufgrund der Vielzahl von Anfragen muss mit längeren Wartezeiten gerechnet werden.

Kontaktdaten: E-Mail: zuk@uk-gm.de, Fon: 06421 586-4357.

Weitere Zentren für unerkannte Erkrankungen können unter: https://www.se-atlas.de gefunden werden.

Um die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen zu verbessern, wurde der gemeinnützige Förderverein für unerkannte und seltene Erkrankungen (FusE) in Hessen gegründet (https://fuse-hessen.de) unter Schirmherrschaft von Tanja Raab-Rhein. Spendenkonto: Universitätsklinikum Frankfurt am Main, IBAN: DE 59 5005 0201 0200 7983 91

Dr. med. Dipl.-Chem. Paul Otto Nowak, Vorsitzender der Bezirksärztekammer Marburg